Das Gespräch über Hebräer 4,15: „Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem in gleicher Weise wie wir versucht worden ist, doch ohne Sünde“ warf bei uns die Frage auf, ob Jesus überhaupt hätte sündigen können. Es wäre ja beides möglich: entweder es war ihm vom sündlosen Wesen her unmöglich oder er ließ mit seinem Willen keine Sünde zu. Bei uns bestehen die unterschiedlichen Auffassungen weiterhin. Kann man entscheiden, welche richtig ist?
Antwort:
Sowohl Heb 4,15 als auch die Versuchungsgeschichte (Mt 4,1-11 parr) zeigen, dass Jesus zur Sünde versucht wurde. Wie ich Versuchung verstehe, ist nur dann überhaupt eine Versuchung vorhanden, wenn man auch sündigen könnte. Wäre es Jesus von seinem Wesen her gar nicht möglich gewesen, gegen Gott zu handeln, weil er so mit Gott eins war, dann wäre es für ihn keine Versuchung gewesen – jedenfalls nach allem wie man von der Bibel her das Wort „Versuchung“ versteht. Was ist dann aber mit der Aussage „Gott kann nicht versucht werden vom Bösen“ (Jak 1,13)? Jesus war doch genauso 100 % Gott wie er 100% Mensch war. Jesus durchschaute doch zu jeder Zeit die Versuchung und wusste, dass er mit der Herrschaft über alle Weltreiche, die ihm der Teufel anbot, viel weniger hatte als mit der Thronbesteigung zur Rechten Gottes, der ihm alles zu seinen Füßen legte (Heb 2,8; Eph 1,11; 1Kor 15,27). Da aber Jesus an seiner Gottheit nicht festhielt (Phil 2,6+7), sondern obwohl er Gott war, seine Gottheit während seines Erdenlebens doch nicht lebte, so wäre er gemäß seiner Menschheit versuchlich gewesen. Das genau will der Teufel ja auch herausfordern, dass Jesus sich seiner göttlichen Hoheit bedient und sowohl Steine zu Brot macht, als auch sich von den Engel tragen lässt. Damit hätte er nicht demütig auf das Handeln seines Vaters gewartet, sondern sich genommen, was ihm gemäß seiner Gottheit rechtmäßig zustand.
Jesus musste auch auf diese Göttlichkeit verzichten, um überhaupt sterben zu können. Gott kann doch nicht sterben und Jesus hatte das Leben in sich und sagt (Joh 10,17-18):
„Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, daß ich’s wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wiederzunehmen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.“
Danach müsste man sagen, dass Jesus so wirklich zur Sünde versucht wurde, dass er hätte sündigen können, aber es eben nicht getan hat. Das lag daran, dass er seine Göttlichkeit so weit zurückstellte, dass er sie hätte ganz verlieren können. So ernst nimmt die Bibel die Geschichtlichkeit der Errettung, dass diese Möglichkeit vorhanden ist, obwohl Jesus von Ewigkeit her zu unserer Erlösung Mensch werden und als der Sündlose für uns sterben sollte.
Bleibt noch die Frage, ob nicht die Fähigkeit zum Sündigen schon das Sündigsein einschließt. Das erscheint mir aber kein biblischer Gedanke zu sein. Adam und Eva waren sündlos und doch fähig zu sündigen. Ihre Versuchlichkeit war noch keine Sünde, sondern erst die Übertretung des Gebotes Gottes. Dabei könnten wir noch fragen, ob die Sünde erst Sünde war, als sie aßen oder schon als sie den inneren Beschluss gefasst hatten. Man muss wohl sagen, sie sündigten schon mit der inneren Entscheidung. Aber sie waren noch nicht sündig mit der Möglichkeit, eine solche Entscheidung zu treffen. Gemäß seinem Menschsein hätte dann Jesus die gleiche Möglichkeit.
Wie ist es aber mit Aussagen, in denen Jesus seine Gottgleichheit und Wesenseinheit mit dem Vater betont? Da klingt es, als habe Jesus die Möglichkeit zum Sündigen nicht gehabt:
„Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn“ (Joh 5,19)
und:
„Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke“ (Joh 14,10b).
Wir kommen also durchaus an Grenzen unserer Logik, wenn wir über das Wesen von Jesus nachdenken.
Wenn Jesus wirklich wie wir versucht wurde, dann kann er nicht in einer Wesensverfassung gewesen sein, in der er gar nicht sündigen konnte.
Die Frage nach dem Sündenkönnen von Jesus mag auf den ersten Blick spekulativ wirken, aber wenn Jesus wirklich wie wir versucht wurde, dann kann er nicht in einer Wesensverfassung gewesen sein, in der er gar nicht sündigen konnte. Er war der zweite Adam (1Kor 15,54), der als Mensch in der Lage war, zu sündigen, aber er blieb treu und sündigte nicht und brachte uns so den Geist, der lebendig macht. Dabei vergessen wir nicht, dass er zugleich Gott war und Gott nicht sündigen kann.