1. Die römisch-katholische Kirche
Der Katechismus der katholischen Kirche sagt:
Die inspirierten Bücher lehren die Wahrheit. „Da also all das, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muss, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte.“1
Dieses Katechismus-Zitat stammt aus der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ und wurde am 18. November 1965 auf dem II. Vatikanischen Konzil verabschiedet. Unter den inspirierten Büchern versteht die katholische Kirche allerdings nicht exakt das Gleiche wie die evangelischen Kirchen. Während die protestantischen Kirchen 39 alttestamentliche und 27 neutestamentliche Bücher zum Kanon zählen – die 39 alttestamentlichen Bücher entsprechen genau dem Kanon der hebräischen Bibel – umfasst der Kanon der katholischen Kirche zusätzlich zu den 39 Büchern der Protestanten folgende weitere Schriften: Tobias, Judit, die zwei Bücher der Makkabäer, die Weisheit, Jesus Sirach und Baruch. Somit bekennt die katholische Kirche, dass insgesamt 46 alttestamentliche und 27 neutestamentliche Bücher inspiriert sind.2
Unter Inspiration versteht die römisch-katholische Kirche folgendes:
Gott ist der Urheber [Autor] der Heiligen Schrift. „Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift schriftlich enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden.“3
Jene Menschen, die biblische Texte niedergeschrieben haben, taten dies also unter der Anleitung des Heiligen Geistes (2 Tim 3,16; 2 Petr 1,21). Die menschlichen Verfasser waren jedoch keine willenlosen Roboter. Vielmehr benutzte der Heilige Geist die Fähigkeiten und auch Eigenarten der menschlichen Autoren und leitete sie, genau das zu schreiben, was er geschrieben haben wollte.4
Jeder Katholik ist verpflichtet, die 73 kanonischen Bücher als inspiriert anzuerkennen. Wer ihre Inspiration in Frage stellt, dem wird der Ausschluss aus der Kirche angedroht.5
Interessant ist die Katechismus-Aussage, dass die Heiligen Schriften ohne Irrtum die Wahrheit lehren.6 Während Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als die katholische Kirche von den Ergebnissen der historisch-kritischen Bibelforschung erschüttert wurde, päpstliche Rundschreiben sich ausdrücklich dazu bekannten, dass die Bibel nicht nur in ihren soteriologischen und ethischen Aussagen, sondern in allen ihren Aussagen irrtumslos sei7 und daher alle in der Bibel geschilderten Wunder und auch die von der Naturwissenschaft angegriffenen Kapitel 1-11 der Genesis als historische Tatsachen zu verstehen seien8, hat sich seit dem II. Vatikanischen Konzil mehr und mehr eine soteriologische Engführung im Verständnis der Irrtumslosigkeit durchgesetzt. Die Katechismus-Aussage, dass die Bibel die Wahrheit ohne Irrtum lehrt, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte, wird von vielen Interpreten so verstanden, dass Gott all das irrtumslos in der Bibel hat aufzeichnen lassen, was für unser Heil zu wissen nötig ist. Doch auf rein profanem Gebiet 9 wird eine Irrtumsmöglichkeit nicht mehr ausgeschlossen. Dies bedeutet im Klartext, dass auch in der katholischen Theologie Irrtümer der Bibel auf historischem oder naturwissenschaftlichem Gebiet für möglich gehalten werden.
Mit dieser Interpretation widerspricht die katholische Kirche sich selbst.
Doch mit dieser Interpretation widerspricht die katholische Kirche sich selbst. Denn ihre anfangs des 20. Jahrhunderts niedergelegten und im Jahre 1950 im päpstlichen Rundschreiben „Humani Generis“10 bestätigten Lehrentscheidungen sprechen sich unzweifelhaft für eine absolute Irrtumslosigkeit der Bibel in allen ihren Aussagen aus. So verurteilte Papst Pius X. im Jahre 1907 folgende modernistische Behauptungen als häretisch und nicht mit dem katholischen Glauben vereinbar:
Wer glaubt, Gott sei wirklich der Urheber der Heiligen Schrift, der zeigt große Einfalt oder Unwissenheit. Die göttliche Eingebung erstreckt sich nicht in der Weise auf die ganze Heilige Schrift, dass sie alle ihre einzelnen Abschnitte von jedem Irrtum frei hielte.11
Papst Leo XIII. hatte einige Jahre zuvor in seinem Rundschreiben „Providentissimus Deus“ noch eindeutiger erklärt:
Vielmehr sind alle Bücher, die die Kirche als heilig und kanonisch anerkennt, vollständig mit allen ihren Teilen unter Eingebung des Heiligen Geistes verfasst. Der göttlichen Eingebung jedoch kann kein Irrtum unterlaufen. Sie schließt ihrem Wesen nach jeden Irrtum aus. Mit derselben Notwendigkeit schließt sie ihn vollkommen aus, mit der Gott, die höchste Wahrheit, nicht Urheber eines Irrtums sein kann.12
Der kritische Leser wird diesen Zusatz so verstehen wollen, dass nur soteriologische Aussagen der Schrift irrtumslos sind.
Es darf nun nicht vergessen werden, dass die zur Diskussion stehende Katechismus-Aussage ein Zitat aus „Dei Verbum“ ist. Konzilsverlautbarungen aber sind oft Kompromisspapiere. Die Formulierung …von den Büchern der Schrift ist zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte, ist nicht völlig eindeutig und lässt Interpretationsspielraum, der von den Verfassern gewollt wurde. Denn während ein Teil der Konzilsväter der Irrtumslosigkeit in allen biblischen Aussagen zuneigte, sprach sich ein anderer Teil für die Irrtumsmöglichkeit in profanen Bereichen aus. Das Ergebnis war eine Formulierung, die beiden Gruppen gerecht wurde. Der unbefangene Leser jener Formulierung wird die Wahrheit gewiss auf die ganze Heilige Schrift beziehen und bekennen, dass alle Aussagen der Bibel – auch die historischen und naturwissenschaftlichen – ohne Fehler sind. Der kritische Leser hingegen wird in dem Zusatz … die Gott um unseres Heiles willen … eine Einschränkung erkennen mögen. Er wird diesen Zusatz so verstehen wollen, dass nur soteriologische Aussagen der Schrift irrtumslos sind. Mit dieser also nicht völlig eindeutigen Aussage haben die Konzilsväter der katholischen Theologie auf jeden Fall die Möglichkeit eröffnet, ihre Stimme im Chor der historisch-kritischen Bibelausleger zu Gehör zu bringen, wovon die Exegeten seit über 40 Jahren auch rege Gebrauch gemacht haben.
Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass die katholische Kirche zwar an der göttlichen Inspiration der Bibel eindeutig festhält und auch die das Heil betreffenden Aussagen der Schrift als irrtumslos bezeichnet, jedoch seit dem II. Vaticanum sich nicht mehr mit unzweideutiger Klarheit zur Irrtumslosigkeit der Bibel in allen ihren Aussagen bekennt.
2. Die orthodoxen Kirchen
In den orthodoxen Kirchen stand die Frage der Irrtumslosigkeit nie zur Diskussion.
In den orthodoxen Kirchen hat es – im Gegensatz zu den westlichen Kirchen – keinen Streit über die Inspiration oder gar Irrtumslosigkeit der Bibel gegeben. Die Frage der Irrtumslosigkeit stand nie zur Diskussion. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass die orthodoxen Kirchen einen anderen Ansatz der Bibelauslegung haben als die westlichen Kirchen. Während die abendländische Exegese durch Augustinus geprägt wurde, folgte der Osten der alexandrinischen Katechetenschule des 3. Jahrhunderts. Im Unterschied zur abendländischen Auslegungstradition, die durch sorgfältige philologisch-historische Arbeit die Bibel zu verstehen sucht, fühlte sich die alexandrinische Exegese der Allegorie verpflichtet, die sie von der Homer-Auslegung übernommen hatte.13 So wird in orthodoxer Theologie das Verhältnis des AT zum NT als ein Verhältnis des alttestamentlichen Typos zur entsprechenden neutestamentlichen Erfüllung 14 gesehen. Christus ist der neue Adam, Maria gilt als neue Eva, die eherne Schlange ist Typos des Kreuzes Christi. Fragen der Historizität von Adam und Eva, vom Durchzug durch das Rote Meer und von den Wundern während der Wüstenwanderung, wie sie in der westlichen Theologie seit Jahrhunderten leidenschaftlich diskutiert werden, spielen in der orthodoxen Theologie kaum eine Rolle. Ihr geht es vielmehr darum, die Bibel im Kontext von Liturgie und Sakramenten auf den Gläubigen wirken zu lassen. Ja, der orthodoxe Theologe kann so weit gehen zu sagen, dass nicht die Philologen die Heilige Schrift interpretieren, sondern die liturgischen und sakramentalen Handlungen der Kirche und das in ihnen grundgelegte geistliche Leben der Umkehr. 15 Deshalb kann die orthodoxe Kirche mit dem protestantischen sola scriptura nicht viel anfangen:
Wenn wir die Bibel von der Kirche, von den Sakramenten, von der Liturgie trennen, wenn wir sagen „sola scriptura“, „die Schrift allein“, oder wenn wir sie als eine Offenbarungsquelle sui generis der Tradition gegenüberstellen, dann ist sie, so erhaben sie auch sein mag, ein Buch – und nur das. Wir laufen dann Gefahr, das Wort Gottes, den Logos, mit dem geschriebenen Wort, ja mit dem Buchstaben zu verwechseln.16
Eine Verbalinspiration oder gar Irrtumslosigkeit des biblischen Textes ist für den orthodoxen Theologen irrelevant. Er macht sich gar nicht die Mühe, darüber nachzudenken. Denn: Das Wort wohnt nicht im Buch und nicht in der Schrift. Es wohnt in der Jungfrau. Es wohnt in der Kirche. 17 Orthodoxe Theologie spricht sich nicht gegen die Inspiration aus; sie glaubt, dass Bibel, Tradition und Kirche inspiriert sind18 und fordert Geistliche und Laien zum Studium der Heiligen Schrift auf:
Ohne die Kenntnis der Heiligen Schrift gilt der Priester ganz und gar nichts. Du kannst die Wissenschaft der ganzen Welt haben, aber wenn du die Heilige Schrift nicht kennst, vermagst du kein guter Priester zu sein. Die Heilige Schrift muss immer vor deinen Augen sein. 19
Doch wichtiger als Inspiration und Irrtumslosigkeit von Buchstaben und Wörtern ist für sie, dass die Bibel in der Liturgie des Gottesdienstes gelesen und dort von den Gläubigen empfangen wird.
3. Die lutherischen und reformierten Kirchen
Dass die Bibel das vom Heiligen Geist inspirierte Wort Gottes ist, galt den Reformatoren und ihrer Zeit als so selbstverständlich, dass es in den Bekenntnisschriften keiner ausdrücklichen Erwähnung bedurfte. Der ständige Gebrauch der Heiligen Schrift etwa in der Confessio Augustana beweist, dass das Schriftprinzip vom ersten bis letzten Artikel implizit vorhanden ist.20 Deshalb ist E. Schlink zuzustimmen, wenn er feststellt:
Stärker als grundsätzliche Erklärungen über die Schrift, erweist der faktische Gebrauch der heiligen Schrift, dass sie von der Augsburgischen Konfession als alleinige Norm anerkannt ist. 21
Natürlich finden sich in den maßgeblichen Bekenntnisschriften der Reformationszeit auch keine Aussagen, die die Inspiration und Irrtumslosigkeit der Bibel verteidigen. Die Infragestellung derselben setzte erst 100 Jahre später mit der Aufklärung ein.
Gleichwohl enthalten die Bekenntnisschriften Aussagen zur Bibel, aus denen sich Rückschlüsse auf Inspiration und Irrtumslosigkeit ziehen lassen. In der Epitome der Formula Concordiae heißt es gleich am Anfang:
Wir glauben, lehren und bekennen, daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testaments… Andere Schriften aber der alten oder neuen Lehrer, wie sie Namen haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, sondern alle zumal miteinander derselben unterworfen und anders oder weiter nicht angenommen werden, dann als Zeugen…22
Allein die Heilige Schrif tist nach lutherischer Überzeugung Richter, Regel und Richtschnur.
Allein die Heilige Schrift ist nach lutherischer Überzeugung Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden… 23 Glaubensbekenntnisse oder andere theologische Schriften stehen der Heiligen Schrift nicht gleich, sondern gelten nur als Zeugnis und Erklärung des Glaubens. 24 Mit diesen Formulierungen bekennen sich die lutherischen Bekenntnisschriften implizit zur Inspiration der Heiligen Schrift, auch wenn der Terminus nicht erscheint. Ob sie auch die Irrtumslosigkeit der Bibel behaupten würden, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen.
Im Unterschied zu den lutherischen Landeskirchen bekennen sich die lutherischen Freikirchen ausdrücklich zum unfehlbaren Wort Gottes.
Im Unterschied zu den lutherischen Landeskirchen bekennen sich die lutherischen Freikirchen ausdrücklich zum unfehlbaren Wort Gottes.25 Lutherische Freikirchen entstanden im 19. Jahrhundert als Antwort auf staatlich verordnete Unionen mit reformierten Kirchen. Vor allem das unterschiedliche Abendmahlsverständnis verbot überzeugten Lutheranern, eine Union mit Reformierten einzugehen. Als zweiter Grund für die Entstehung lutherischer Freikirchen wird die Bibelkritik genannt, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in protestantischen Kirchen ausbreitete. Im Jahre 1972 schlossen sich mehrere lutherische Freikirchen zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) zusammen, der sich 1991 auch die Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche der ehemaligen DDR anschloss. Die SELK hat heute etwa 35.000 Mitglieder und ist eine der letzten bewusst konfessionellen Kirchen. Sie hat die gleiche Bekenntnisgrundlage wie die lutherischen Landeskirchen, kann aber an der Erkenntnis nicht vorbei, dass die Landeskirchen weitgehend nicht nach dieser Grundlage handeln: entgegen ihrem Bekenntnis üben sie Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit den reformierten und unierten Kirchen; sie gehören dem Ökumenischen Rat der Kirchen an; sie dulden in ihrer Mitte weithin eine moderne Theologie, die der Bibel und dem Bekenntnis widerspricht. 26
Auch in den reformierten Bekenntnissen findet man nur selten ausdrückliche Aussagen zu Inspiration und Irrtumslosigkeit. Nur implizit kann zumindest auf die Inspiration zurück geschlossen werden. So sagt die Confessio Gallicana von 1559:
Wir glauben, dass das in diesen Büchern enthaltene Wort von Gott ausgegangen ist, von dem allein es seine Autorität empfängt, und nicht von Menschen. Und weil es die Richtschnur der gesamten Wahrheit ist und alles enthält, was zum Dienste Gottes und unserem Heil notwendig ist, ist es Menschen nicht erlaubt, ja nicht einmal den Engeln, etwas hinzuzufügen, abzutrennen oder zu verändern.27
Die Formulierung … und alles enthält, was zum Dienste Gottes und unserem Heil notwendig ist…, könnte zu der Annahme verleiten, dass hier bereits eine in der Neuzeit vorgenommene Unterscheidung zwischen irrtumslosen soteriologischen und (möglicherweise) fehlerhaften naturkundlichen Aussagen vorliege. Doch mit Sicherheit haben die Verfasser dies nicht im Blick gehabt. Im 16. Jahrhundert galt die Bibel in all ihren Teilen und Aussagen als zuverlässig.
Im Zweiten Helvetischen Bekenntnis von 1566 wird die Heilige Schrift als das wahre Wort Gottes 28 bezeichnet, aus dem die christliche Gemeinde die wahre Weisheit und Frömmigkeit, die Verbesserung und Leitung der Kirchen, die Unterweisung in allen Pflichten der Frömmigkeit und endlich den Beweis der Lehren und den Gegenbeweis oder die Widerlegung aller Irrtümer, aber auch alle Ermahnungen gewinnen müsse… 29
Das Westminster Bekenntnis von 1647 formuliert ausdrücklich, dass die biblischen Bücher durch Eingebung Gottes geschrieben wurden und somit Gott ihr Autor sei. Die Identität von Bibel und Gottes Wort wird behauptet. Interessant ist, dass in diesem Bekenntnis erstmals von der unfehlbaren Wahrheit der Bibel gesprochen wird.30 Das Westminster Bekenntnis grenzt sich mit dieser Formulierung gegen aufkommende bibelkritische Positionen ab, wie sie etwa bei Hugo Grotius (1583-1645) in seinen „Annotationes“ zu finden sind.
4. Die anglikanische Kirche
Absage an katholische Dogmen, die zusätzlich zur Heiligen Schrift den Gläubigen zur Annahme auferlegt sind
Im maßgeblichen Bekenntnis der anglikanischen Kirche, den 39 Artikeln von 1571, kommen die Begriffe Wahrheit, Unfehlbarkeit, Inspiration und Irrtumslosigkeit der Bibel nicht vor. In Artikel 6 grenzt sich das Bekenntnis gegen den um die Apokryphen erweiterten alttestamentlichen Kanon der katholischen Kirche ab, bekennt sich also zu den 66 Büchern, die von den protestantischen Kirchen anerkannt sind. Die Formulierung: Die Heilige Schrift enthält alles, was zum Heil notwendig ist, so dass, was darin nicht zu lesen steht und daraus nicht bewiesen werden kann, niemandem als Glaubensartikel oder als etwas Heilsnotwendiges auferlegt werden darf 31 könnte so verstanden werden, dass nur die soteriologischen Aussagen der Bibel unfehlbar sind. Doch tatsächlich ist dieser Satz als Absage an katholische Dogmen zu verstehen, die zusätzlich zur Heiligen Schrift den Gläubigen zur Annahme auferlegt sind.
5. Die mennonitischen Kirchen
Als dritter Flügel der Reformation entstanden die Täufergemeinden, die heute weitgehend unter dem Namen „mennonitische Kirchen“ bekannt sind, ab 1525 in Zürich und breiteten sich von dort zunächst vor allem in der Schweiz und in Süddeutschland aus. Nachdem der ehemalige katholische Priester Menno Simons (1496-1561) zu den Täufern übergetreten war und durch eifrige Reisetätigkeit die neue Bewegung bekannt machte, schlossen sich ihr immer mehr Menschen an, die die Glaubenstaufe annahmen und sich zum Pazifismus bekannten.
Die Täuferbewegung ist eine Bibelbewegung.
Die Täuferbewegung ist eine Bibelbewegung. Daher findet man schon früh in der Geschichte der Täufer Bekenntnisse, die zur Inspiration Stellung nehmen. So heißt es in einem Bekenntnis aus dem 16. Jahrhundert:
Wir glauben, erkennen und bekennen, das [sic!] die heilige Schrift, beider, des Alten und Neuen Testaments, von Gott zu schreiben befohlen (worden) ist, und das [sic!] sie durch heilige Menschen, die der Geist Gottes dazu getrieben hat, geschrieben ist worden.32
Das Bekenntnis des Verbandes der Mennoniten-Brüdergemeinden aus dem Jahre 2007 geht noch einen Schritt weiter und bekennt die Unfehlbarkeit der Bibel. Wörtlich heißt es:
Wir glauben, dass die ganze Bibel von Gott inspiriert wurde, indem ihre Autoren vom Heiligen Geist geleitet wurden… Wir erkennen die Bibel als das unfehlbare Wort Gottes und die verbindliche Autorität für alle Glaubens- und Lebensfragen an.33
Doch keineswegs alle mennonitischen Kirchen bekennen sich zur Unfehlbarkeit der Bibel. Die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland etwa formuliert in ihrem Bekenntnis:
Als Gemeinschaft der Gläubigen erkennen wir die Bibel als Autorität für unseren Glauben und unser Leben an. Wir legen sie gemeinsam unter der Leitung des Heiligen Geistes und im Licht Jesu Christi aus, um Gottes Willen für ein gehorsames Leben zu erkennen.34
An dieser Stelle soll auf einen Unterschied in der Bekenntnisbildung zwischen Volkskirchen und Freikirchen – um letztere wird es auf den folgenden Seiten gehen – hingewiesen werden: Im Unterschied zu den bisher behandelten Volkskirchen, deren teilweise 500 Jahre alte Bekenntnisse bis heute nicht verändert wurden und offiziell gelten, haben die Freikirchen häufig ihre Bekenntnisse den veränderten Herausforderungen der jeweiligen Epoche angepasst. Auch sind die verschiedenen Freikirchen keine homogenen Gruppen. Während weltweit z.B. die lutherischen Kirchen, obwohl sie eine ganz unterschiedliche Geschichte in den jeweiligen Ländern haben, an den grundlegenden Bekenntnissen des Luthertums, etwa der Confessio Augustana, festhalten, haben die Freikirchen in den verschiedenen Erdteilen unterschiedliche Bekenntnisse angenommen, je nachdem, ob sie eher konservativ oder liberal geprägt sind. Zu unterscheiden sind auf jeden Fall konservative, moderate und liberale Freikirchenverbände. Während sich die Konservativen zur Irrtumslosigkeit der Bibel (im Urtext) in allen ihren Aussagen bekennen und dies auch in ihren Bekenntnissen zum Ausdruck bringen, bekennen sich Moderate nur zur Irrtumslosigkeit soteriologischer Aussagen und halten Fehler in historischen und naturwissenschaftlichen Aussagen für möglich; Liberale gehen davon aus, dass die Bibel auch in soteriologischen Aussagen irren kann und somit der menschliche Verstand zu entscheiden hat, was man von der Bibel heute akzeptiert und was nicht.
6. Die baptistischen Kirchen
Die baptistischen Kirchen haben im Laufe ihrer über 400-jährigen Geschichte eine Reihe von Bekenntnissen formuliert, von denen hier vier Erwähnung finden sollen. Im Unterschied zu den lutherischen oder reformierten Kirchen, die an ihren in der Reformationszeit formulierten Bekenntnissen bis heute festhalten und keine Veränderungen daran vornehmen, ist es – wie oben erwähnt – für Baptisten kein Problem, ihre Bekenntnisse zu überarbeiten und neue Artikel aufzunehmen, wenn dies als notwendig erkannt wird. Baptisten billigen Bekenntnissen keinen normativen Rang zu; der einzelne Christ ist nach baptistischer Überzeugung in seinem Gewissen nicht durch ein Bekenntnis, sondern allein durch die Heilige Schrift gebunden. Folgerichtig werden in baptistischen Kirchen Lehrfragen nicht mit dem Hinweis auf ein Bekenntnis entschieden, sondern immer durch die Bibel selbst.
Amerikanische Baptisten des 19. Jahrhunderts hielten die Bibel für irrtumslos.
Das Bekenntnis von New-Hampshire aus dem Jahr 1833, das im 19. Jahrhundert unter den Baptisten der USA große Anerkennung genoss, geht gleich im ersten Artikel auf die Bibel ein und unterstreicht damit die Bedeutung der Bibelfrage für baptistische Gläubige. Die Verfasser bekennen sich zur Inspiration der Heiligen Schrift und betonen, dass die Bibel Gott als ihren Urheber hat, Rettung als ihr Ziel, und Wahrheit, ohne jede Beimischung von Irrtum, als ihren Gegenstand. 35 Die Formulierung ohne jede Beimischung von Irrtum ist ein deutlicher Hinweis dafür, dass amerikanische Baptisten des 19. Jahrhunderts die Bibel für irrtumslos hielten, eine Überzeugung, die heute keineswegs mehr die Zustimmung aller Baptisten findet.
Das Glaubensbekenntnis der deutschen Baptisten aus dem Jahr 1847, das ein ganzes Jahrhundert lang als angemessener Ausdruck des Glaubens deutscher Baptisten galt, bekennt sich in seinem ersten Artikel zu den 66 Büchern der heiligen Schrift als wahrhaftig vom Heiligen Geist eingegeben. 36 Es bezeichnet die Bibel als die allein wahre göttliche Offenbarung an das Menschengeschlecht … und die alleinige Regel und Richtschnur des Glaubens und Lebenswandels. 37 An was die Verfasser dachten, wenn sie von der allein wahre(n) göttliche(n) Offenbarung sprachen, lässt sich nach über 160 Jahren schwer feststellen.Es könnte sich – was aber eher unwahrscheinlich ist – um eine Abgrenzung zu anderen „heiligen“ Büchern (etwa dem Koran) handeln; es könnte aber auch ein Hinweis auf die Überzeugung der Verfasser sein, dass die Bibel das irrtumslose Wort Gottes ist. Vielleicht wollten die Verfasser sogar beide Aspekte in dieser Formulierung anklingen lassen.
1977 wurde für den deutschsprachigen Baptismus ein neues Glaubensbekenntnis veröffentlicht, das den Titel „Rechenschaft vom Glauben“ trägt. Es bekennt sich in Punkt sechs dazu, dass die Verfasser des Neuen Testaments … unter der Leitung des Heiligen Geistes Zeugnis abgelegt (haben) von dem in Christus erschienenen Heil Gottes. 38 Es fällt auf, dass von den Verfassern des Alten Testamentes nicht behauptet wird, dass sie unter der Leitung des Heiligen Geistes geschrieben haben. Ob damit eine geringere Bedeutung des Alten Testamentes angedeutet werden soll oder ob man schlicht übersehen hat, die gleiche Formulierung auch auf die Autoren alttestamentlicher Bücher anzuwenden, bleibt unklar.
Klare Aussagen zur Inspiration und Irrtumslosigkeit sucht man in der„Rechenschaft vom Glauben“vergeblich.
Weiter fällt auf, dass die Begriffe „Inspiration“ und „Irrtumslosigkeit“ fehlen. Dafür betont die „Rechenschaft vom Glauben“, dass die Bibel das Wort Gottes in Menschenmund ist. Daher seien auch die biblischen Bücher in ihren Sprachen, Denkweisen und literarischen Formen den Orten und Zeiten verhaftet 39, aus denen sie stammen. Die Formulierungen in „Rechenschaft vom Glauben“ sind so gefasst, dass sowohl Baptisten, die an der Fehlerlosigkeit der Bibel festhalten (Konservative), wie auch solche, die die Bibel für fehlerhaft halten (Moderate und Liberale), mit diesem Bekenntnis leben können. Klare Aussagen zur Inspiration und Irrtumslosigkeit, wie sie in früheren baptistischen Bekenntnissen zu finden sind, sucht man hier vergeblich.
Das Bekenntnis des weltweit größten baptistischen Kirchenverbandes, der Southern Baptist Convention, die etwa 16 Millionen Mitglieder hat, ist „Baptist Faith and Message“ aus dem Jahre 2000. Das Bekenntnis wurde erstmals 1925 verfasst und lehnte sich an das New-Hampshire-Bekenntnis von 1833 an. 1963 erfolgte eine erste Revision, 2000 eine zweite. Alle drei Fassungen bekennen sich zur Inspiration der Bibel und betonen, dass die Bibel wahr ist without any mixture of error40. Das Bekenntnis von 2000 fügt zusätzlich an: Therefore, all Scripture is totally true and trustworthy 41. Dieser Zusatz ist die Folge einer konservativen Wende, die die Convention in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts genommen hat. Freilich muss der Zusatz nicht im Sinne der Irrtumslosigkeit interpretiert werden, zumal die Begriffe „inerrant“ und „infallible“ fehlen. Diesem Tatbestand trägt auch die Realität Rechnung; denn nicht alle Gläubigen der Convention bekennen sich zur inerrancy und infallibility der Bibel. Gleichwohl muss es als erstaunlich gelten, dass eine große und traditionsreiche Kirche den seit Jahrzehnten eingeschlagenen Weg in die theologische Liberalität stoppt und zu konservativeren Positionen zurückkehrt.
7. Die methodistischen Kirchen
Als Glaubensgrundlage übernahmen die Methodisten die 39 Artikel der anglikanischen Kirche in verkürzter Form.
John und Charles Wesley wurden gegen ihren Willen zu Gründern der methodistischen Kirche. Eigentlich wollten sie nur die anglikanische Kirche, in der sie als Geistliche dienten, erneuern, konnten sich aber mit ihren Vorstellungen von lebendigem Christsein nicht durchsetzen und bereiteten damit die Entstehung einer neuen Denomination vor. Dabei ist der Methodismus keine klassische Konfession, die wie etwa die lutherische Kirche auf unverrückbaren Bekenntnissen steht. Vielmehr gleichen die Methodisten den Baptisten, insofern für sie die Heilige Schrift die einzige wirklich zentrale Glaubensgrundlage ist, nach der jeder Gläubige sich richten soll. Als Glaubensgrundlage übernahmen die Methodisten die 39 Artikel der anglikanischen Kirche, allerdings in der verkürzten Form der 25 Artikel aus dem Jahr 1784. Außerdem billigen sie einigen frühen Predigten John Wesleys einen bekenntnisähnlichen Charakter zu. In einer solchen nimmt Wesley auch zur Bibel Stellung und sagt:
Wir glauben zwar, dass alle Schrift von Gott eingegeben ist (2 Tim 3,16), und darin unterscheiden wir uns von Juden, Türken und Ungläubigen. Wir glauben auch, dass das geschriebene Gotteswort die einzige und hinreichende Richtschnur für den christlichen Glauben und das christliche Leben darstellt, und hierin unterscheiden wir uns grundsätzlich von den Gliedern der römischen Kirche.42
Ein ebenso klares Bekenntnis zur Inspiration der Bibel findet sich im Deutsch-Englischen Katechismus von 1903, wo es unter den Fragen 3 und 4 heißt: Was ist die Bibel? Die Bibel ist nicht Menschenwort, sondern Gottes heiliges, geoffenbartes Wort. Wer lehrt uns die Bibel recht verstehen? Der Heilige Geist, der sie eingegeben hat.43
Während die Väter des Methodismus ein klares Bekenntnis zur Inspiration abgeben, lesen wir nichts zur Frage der Irrtumslosigkeit der Bibel. Dies könnte damit zusammenhängen, dass zur Zeit Wesleys – er lebte von 1703-1791 – kritische Anfragen an die Bibel noch die Ausnahme waren und sich Wesley deshalb nicht gefordert sah, dazu Stellung zu nehmen.
Im heutigen Methodismus lassen sich, wie in vielen anderen Konfessionen auch, die drei Flügel „konservativ, moderat und liberal“ erkennen. Während es nur noch wenige konservative Methodisten gibt, die an der Irrtumslosigkeit der Bibel festhalten, ist die Zahl der moderaten und liberalen Methodisten klar in der Mehrheit.
8. Die Brüdergemeinden
Eine Glaubensgemeinschaft, die ganz ohne Bekenntnisse auskommt, sich aber dennoch zu den in diesem Artikel behandelten Themen äußert, ist die auf John Nelson Darby (1800-1882) zurückgehende Brüderbewegung. Aufgrund von Spaltungen unterscheidet man die „Offenen Brüder“ von den „Geschlossenen (oder: Exklusiven) Brüdern“. Beide Richtungen sind weltweit anzutreffen. Während die „Geschlossenen“ sehr stark die auf Darby zurückgehende Lehre der Absonderung betonen und kaum Kontakte zu Christen anderer Kirchen pflegen, arbeiten die „Offenen“ mit Christen anderer Bekenntnisse – vor allem im Rahmen der Evangelischen Allianz – zusammen. Die Brüdergemeinden sind gekennzeichnet durch eine starke Betonung der Unabhängigkeit der Ortgemeinde, des allgemeinen Priestertums der Gläubigen (verbunden mit einer unterschwelligen Ablehnung von ordinierten Pastoren) und der Irrtumslosigkeit der Bibel. Bekannt geworden sind die Brüdergemeinden vor allem durch ihre „Elberfelder Bibelübersetzung“, die sich durch eine sehr genaue Wiedergabe des hebräischen und griechischen Grundtextes auszeichnet und auch unter Christen anderer Konfessionen verbreitet ist.
Die Brüdergemeinden bekennen völlige Zuverlässigkeit und einzige Autorität der Heiligen Schrift in allen ihren Aussagen.
Die Brüdergemeinden bekennen die göttliche Eingebung der ganzen Heiligen Schrift, ihre völlige Zuverlässigkeit und einzige Autorität in allen ihren Aussagen“. 44 Damit gehört die Brüderbewegung zu den konservativen Kirchen, die sich nicht nur für die Inspiration, sondern auch für die Irrtumslosigkeit der Bibel ausspricht.
9. Die Freien evangelischen Gemeinden
In Deutschland entsteht die erste Freie ev. Gemeinde (FeG) durch Hermann Heinrich Grafe in Wuppertal-Elberfeld im Jahre 1854.45 Seit dieser Zeit ist der Bund FeG kontinuierlich gewachsen und hat in Deutschland etwa 40.000 Mitglieder; weltweit rechnen sich knapp 1 Million Gläubige zu Freien ev. Gemeinden. Die FeG betont das allgemeine Priestertum aller Gläubigen und lehrt und praktiziert die Glaubenstaufe. Im Unterschied zu Baptistengemeinden muss ein Mitglied einer FeG aber nicht unbedingt die Glaubenstaufe empfangen haben. Wer als Säugling in einer evangelischen Landeskirche getauft wurde und diese Taufe als für sich gültig bezeichnet, der kann ohne eine erneute Glaubenstaufe Mitglied einer FeG werden, sofern er bekennt, durch Bekehrung und Glaube an Jesus Christus die Erneuerung seines Lebens erfahren zu haben.46
FeG-Theologen: Begriffe wie„Irrtumslosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ wären der Bibel wesensfremd.
Der Bund FeG hat außer dem Apostolikum kein Bekenntnis. Da das Apostolikum nichts zur Schriftlehre sagt, findet man auch keine für alle FeG-Gläubigen gültigen Aussagen zur Heiligen Schrift. Maßgebliche Theologen des Bundes FeG haben sich jedoch immer zur Inspiration der Bibel bekannt. Der frühere Rektor des Theologischen Seminars der Freien ev. Gemeinden, Jakob Millard, fasste zusammen, was bis heute Konsens in den Gemeinden ist: Wir glauben an die Inspiration der ganzen Heiligen Schrift, aber wir glauben nicht an ein bestimmtes Inspirationsdogma. 47 Begriffe wie Verbal-, Personal- oder Realinspiration greifen nach Meinung von Theologen der FeG zu kurz, um das biblische Inspirationsverständnis angemessen zum Ausdruck zu bringen. Auch „Irrtumslosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ seien Begriffe, die der Bibel wesensfremd seien und deshalb auch nicht benutzt werden sollten.48 Insofern sind Freie ev. Gemeinden zu den moderaten Freikirchen zu zählen, die sich mit der Lausanner Verpflichtung dazu bekennen, dass die Bibel ohne Irrtum ist in allem, was sie verkündigt.49 Darunter werden nach gängiger Interpretation vor allem die soteriologischen Aussagen der Bibel verstanden. Biblische Aussagen zu naturwissenschaftlichen oder historischen Themen müssen nach diesem Verständnis nicht in jedem Fall wahr sein. Allerdings gibt es im Bund FeG nicht wenige Theologen und auch viele Laien, die an der Irrtumslosigkeit der Bibel (im Urtext) in allen ihren Aussagen festhalten und somit zum konservativen Flügel der Freikirchen zu rechnen sind.
10. Die charismatischen Gemeinden
Unter charismatischen Gemeinden werden hier sowohl die Gemeinden verstanden, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Pfingstbewegung entstanden sind, als auch jene, die ab 1960 im Zuge der charismatischen Erneuerungsbewegung ins Dasein traten. Beide Strömungen weisen ein fast identisches Frömmigkeitsprofil auf und sind auch in ihren Lehrüberzeugungen sehr ähnlich. Die pfingstlich-charismatische Bewegung ist der am schnellsten wachsende Teil der Christenheit. Die größten Wachstumsraten trifft man heute in Südamerika und Afrika, wo ein Jahreswachstum von über 5 Prozent normal ist.50 Die Zahl der Anhänger wurde bereits im Jahr 2000 auf weltweit 350 Millionen geschätzt51; heute geht man von über 500 Millionen aus.52
Die pfingstlich-charismatischen Gemeinden lehren in der Regel sowohl die Inspiration wie auch die Irrtumslosigkeit der Bibel53, gehören also zu den konservativen Freikirchen. Die im deutschen „Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR“ (BFP) zusammengeschlossenen 600 Gemeinden formulieren in ihrem Glaubensbekenntnis:
Wir glauben an Jesus Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, gezeugt vom Heiligen Geist und geboren von der Jungfrau Maria. In ihm hat Gott sich uns Menschen endgültig zum Heil geoffenbart. Davon gibt die Bibel, die von Gottes Geist inspirierte Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes, als unfehlbare Richtschnur unseres Lebens, Denkens und Handelns Zeugnis.54
In den Glaubensgrundlagen verschiedener charismatischer Zentren fehlen die Begriffe „unfehlbar“ und „irrtumslos“.
In den Glaubensgrundlagen von verschiedenen neucharismatischen Gemeinden wie Christliches Zentrum Frankfurt oder Christliches Zentrum Düsseldorf fehlen die Begriffe „unfehlbar“ und „irrtumslos“.55 Dies mag ein Hinweis dafür sein, dass sich Teile der charismatischen Bewegung vom konservativen zum moderaten Typus bewegen, wobei allerdings die Inspiration selbst nicht zur Disposition steht.
Fazit
In ihren grundlegenden Glaubensdokumenten bekennen sich die christlichen Kirchen nahezu ausnahmslos zur göttlichen Inspiration der heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments. Darüber hinaus bekennen sich einige konservative Kirchen zur Irrtumslosigkeit der Bibel in allen ihren Aussagen. Doch welche Rolle spielt heute das Bekenntnis zur Inspiration in Theologie und Gemeinde? Die einschlägigen Publikationen von Theologen sowohl der katholischen Kirche wie der protestantischen Kirchen zeigen, dass zwar noch formal von Inspiration gesprochen wird, doch inhaltlich ist längst die Ablösung von einer Verbalinspiration im Sinne einer objektiven Vorversicherung bibl. Worte und daraus abgeleiteter theol. Aussagen vollzogen 56 worden, wie sie von den Verfassern der Bekenntnisschriften intendiert war. Der heutige Protestantismus glaubt, dass alle Versuche gescheitert sind, den christlichen Glauben durch ein ‚außerhalb seiner selbst’ zu sichern bzw. zu begründen.57 Im bewussten Gegensatz zum bzw. in Weiterführung vom Inspirationsverständnis der Bekenntnisschriften wird deshalb vor allem im Protestantismus ein Verständnis vertreten, das Inspiration als Akt der Geistmitteilung durch Gottesoffenbarung definiert, der überall stattfindet, wo Glaubensgewissheit entsteht.58 Folglich wird Inspiration nicht auf die Autoren der biblischen Bücher begrenzt, sondern auf alle Gläubigen ausgedehnt, wobei gleichzeitig die Irrtumsfähigkeit der Inspirierten ausdrücklich postuliert wird.59
Es gilt also festzuhalten, dass das traditionelle Inspirationsverständnis der Bekenntnisschriften nur in konservativen evangelikalen Kirchen, in bewusst konfessionellen Kirchen wie der SELK sowie – zumindest offiziell – in der katholischen Kirche in Geltung ist. So wie die protestantische Theologie seit der Zeit der Aufklärung auch andere Bekenntnisaussagen uminterpretiert hat – aus der leiblichen Auferstehung Christi etwa ist die Auferstehung ins Kerygma geworden – so ist auch das Inspirationsverständnis einer Neuinterpretation unterzogen worden. Diese Neuinterpretation mag zwar noch den Terminus „Inspiration“ benutzen, versteht darunter aber nicht mehr, was die Christenheit darunter jahrhundertelang verstanden hat: dass nämlich die Bibel das zuverlässige und unfehlbare Wort Gottes ist, dem der Gläubige im Leben und im Tod vertrauen kann.
Viele protestantische Kirchen und Freikirchen haben den Glauben an die Zuverlässigkeit der Bibel verloren und damit auch ihre eigene Glaubwürdigkeit.
Im Zuge der Neuinterpretation des Begriffs „Inspiration“ haben viele protestantische Kirchen – Landes- und Freikirchen – aber nicht nur den Glauben an die Zuverlässigkeit der Bibel verloren. Als Folge ist es auch zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit der Kirchen selbst gekommen. Gottesdienstbesucher haben bemerkt, dass manche kirchlichen Funktionsträger selbst nicht mehr an die Zuverlässigkeit der Bibel glauben, dass sie die klaren biblischen Aussagen uminterpretieren und manches dabei eliminieren. Dabei ist zahlreichen Gemeindegliedern durchaus nicht bewusst, dass Aufklärung und Rationalismus mit ihrer Überzeugung, dass Gott nicht ins Diesseits eingreife und es folglich auch keine Inspiration durch Gottes Geist geben könne, die Grundlagen heutiger Theologie darstellen, somit also letztlich atheistische Voraussetzungen die gegenwärtige Universitätstheologie bestimmen. Doch viele regelmäßigen Besucher der Gottesdienste „fühlen“ den Glaubensverlust der Kirchen und haben „mit den Füßen“ abgestimmt und sich nach anderen Kirchen umgeschaut, in denen sie eine bibeltreuere Verkündigung wahrzunehmen glauben. Inzwischen hat sich die Lage – natürlich auch mit verursacht durch den dramatischen demographischen Wandel – so weit verschärft, dass immer häufiger Kirchen geschlossen werden müssen. Ob es hier noch einmal zu einer Trendwende kommen wird, ist schwer abzusehen. Doch eines scheint sicher: Sollte der Protestantismus nicht zu einem Inspirationsverständnis zurückfinden, wie es in den Kirchen über mehr als 1500 Jahre selbstverständlich war, ist kaum damit zu rechnen, dass die evangelischen Kirchen von einer geistlichen Neubelebung erfasst werden. Alle Aufbrüche der Vergangenheit, die die Kirchen wieder füllten und gesellschaftsrelevant machten – ob im englischen Methodismus eines John Wesley, im amerikanischen „Great Awakening“ von Jonathan Edwards oder im deutschen Pietismus eines Spener und Zinzendorf – waren bibelzentriert und von der festen Überzeugung getragen, dass alle Schrift von Gott eingegeben ist. 60 Dabei muss immer wieder betont werden, dass es gar keine zwingenden Gründe gibt, Wissenschaft unter der Prämisse „etsi Deus non daretur“ zu treiben. Dieser von der säkularen Wissenschaft postulierte Grundsatz jeder Forschung ist willkürlich gesetzt und mag für Atheisten alternativlos erscheinen. (Sie berauben sich dadurch allerdings freiwillig wichtiger Erkenntnisse; denn ohne Gott diese Welt erklären zu wollen, verbaut den Blick auf zentrale Wahrheiten.) Doch warum sollte ein Theologe, der sich per definitionem zum Glauben an Gott bekennt, davon ausgehen, dass Gott kein Handelnder und Redender ist? Ein solcher Theologe verdient nicht den Namen „Theologe“; er ist bestenfalls ein Religionswissenschaftler. In Kirche und theologischer Ausbildung muss also wieder neu anerkannt werden, was die Bibel von Gott bezeugt und was die millionenfache Erfahrung von Menschen aller Zeiten gewesen ist: Gott redet und handelt. Es muss neu Ernst gemacht werden mit der Einsicht Zinzendorfs:
Herr, dein Wort, die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir;
denn ich zieh es aller Habe und dem größten Reichtum für.
Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn?
Mir ist’s nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun.
(Evangelisches Gesangbuch, Nr. 198)
Katechismus der katholischen Kirche (München: Oldenbourg, 1993), S. 65 (Nr. 107). ↩
Ebd., S. 67f. (Nr. 120). ↩
Ebd., S. 64 (Nr. 105). ↩
Karl Rahner; Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium (Freiburg: Herder, 201987), S. 373. ↩
DS 3029. ↩
Katechismus der katholischen Kirche, S. 65 (Nr. 107). ↩
DS 3291-3292. ↩
DS 3401-3424. ↩
Josef Neuner; Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung (Regensburg: Friedrich Pustet, 121986), S. 105. ↩
DS 3887 und 3898; hier wird die Irrtumslosigkeit der Bibel unmissverständlich auch auf historische und geographische Aussagen bezogen. ↩
Josef Neuner; Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, S. 88. ↩
Ebd., S. 85f. ↩
Friedrich Heyer, Konfessionskunde (Berlin/New York: de Gruyter, 1977), S. 133. ↩
Ebd. ↩
www.kokid.de (12.09.2007); aus einer Predigt des Metropoliten Augoustinos von Deutschland aus Anlass des Jahres der Bibel 2003 am 25. März im Altenberger Dom zum Thema Die Bedeutung der Heiligen Schrift in der Orthodoxen Kirche. ↩
Ebd. ↩
Ebd. ↩
Jürgen Tibusek, Ein Glaube, viele Kirchen (Gießen: Brunnen Verlag, 21996), S. 69. ↩
Friedrich Heiler, Die Ostkirchen (München/Basel: Ernst Reinhardt, 1971), S. 95. ↩
Inge Lonning, „Die Heilige Schrift“. In: Vilmos Vajta (Hg.), Die Evangelisch-Lutherische Kirche. Vergangenheit und Gegenwart , Band XV der Reihe „Die Kirchen der Welt“ (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1977), S. 104. ↩
Edmund Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften (München: Chr. Kaiser Verlag, 21946), S. 27. ↩
Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 71976), S. 767f. ↩
Ebd., S. 769. ↩
Ebd. ↩
Jürgen Tibusek, Ein Glaube, viele Kirchen (Gießen: Brunnen Verlag, 21996), S. 199. ↩
Ebd. ↩
Hans Steubing (Hg.), Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten (Wuppertal: R. Brockhaus, 21997), S. 125. ↩
Ebd., S. 155. ↩
Ebd., S. 155f. ↩
Ebd., S. 209. ↩
Ebd., S. 240. ↩
J. C. Wenger, Die Täuferbewegung. Eine kurze Einführung in ihre Geschichte und Lehre (Wuppertal und Kassel: Oncken Verlag, 31995), S. 62. ↩
Gemeinsam unterwegs. Glaubensbekenntnis mennonitischer Brüdergemeinden, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der Mennoniten Brüdergemeinden in Deutschland (Lage: MB-Medien, 2007), S. 8. ↩
www.mennoniten.de/theologie (03.06.2008) ↩
Hans Steubing (Hg.), Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten (Wuppertal: R. Brockhaus, 21997), S. 268. ↩
Ebd., S. 273. ↩
Ebd. ↩
www.baptisten.org ↩
Ebd. ↩
H. Leon McBeth, A Sourcebook For Baptist Heritage (Nashville: Broadman Press, 1990), S. 505 und www.sbc.net. ↩
www.sbc.net. ↩
Hans Steubing (Hg.), Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten (Wuppertal: R. Brockhaus, 21997), S. 284. ↩
Ebd., S. 290f. ↩
Jürgen Tibusek, Ein Glaube, viele Kirchen (Gießen: Brunnen Verlag, 21996), S. 331. ↩
Arndt Schnepper/Peter Strauch, Das FeG-Buch. Wege und Visionen der Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland (Witten: Bundes-Verlag, 2004), S. 25. ↩
Ebd., S. 17. ↩
Wilfrid Haubeck/Gerhard Hörster (Hg.), Berufen zum Diener des Wortes Gottes (Witten: Bundes-Verlag, 1987), S. 36. ↩
Ebd., S. 35f. ↩
Jürgen Tibusek, Ein Glaube, viele Kirchen (Gießen: Brunnen Verlag, 21996), S. 343. ↩
Patrick Johnstone/Jason Mandryk, Operation World (Waynesboro: Paternoster, 2001), S. 120. ↩
Ebd., S. 3. ↩
www.bfp.de (25.06.2008) ↩
Walter J. Hollenweger, Enthusiastisches Christentum. Die Pfingstbewegung in Geschichte und Gegenwart (Wuppertal: Brockhaus Verlag, 1969), S. 323ff. ↩
www.bfp.de (25.06.2008) ↩
www.czf.de und www.czd.de (25.06.2008) ↩
Werner Brändle, „Inspiration/Theopneustie“, in: RGG4, Bd. 4 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), Sp.170. ↩
Ebd., Sp. 173. ↩
Wilfried Härle, Dogmatik (Berlin/New York: de Gruyter, 1995), S. 122. ↩
Ebd., S. 123. ↩
Philipp Jacob Spener, Umkehr in die Zukunft. Reformprogramm des Pietismus – Pia desideria (Gießen: Brunnen, 1975), S. 55. ↩