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Die jüdische Mischna

Das Wort „Mischna“ kommt her von der hebräischen Wurzel „schanah“. Diese bedeutet: wiederholen, zum zweiten Mal tun. Davon abgeleitet ist „Mischna“ = Wiederholung (des Gesetzes), Verdoppelung, das Zweite (Gesetz). Als theologischer Fachausdruck ist das hebräische Wort „Mischna“ in die deutsche Sprache übernommen worden.

  1. Die Entstehung1

Die Mischna2 ist die erste maßgebende Gesetzessammlung des nachbiblischen Judentums (1./2. Jh. n.Chr.). Sie bildet eine Zusammenfassung des aus der „Schrift“ des Alten Testaments abgeleiteten (vorwiegend) gesetzlichen Traditionsstoffes. Dieser Stoff wurde zunächst mündlich überliefert und weitergegeben und erst später (ab dem 2. Jh. n.Chr.) schriftlich fixiert und festgehalten.

Träger der aus dem schriftlichen alttestamentlichen Gesetz (5 Bücher Mose) hergeleiteten mündlichen Überlieferung war zu dieser Zeit vor allem die Gruppe oder religiöse Partei der „Pharisäer“3. Die Pharisäer hatten in den nichtpriesterlichen Schriftgelehrten, die das Gesetz interpretierten und damit die Lehre der Gemeinschaft bestimmten, ihre theologische Führungsgruppe. Die Schriftgelehrten fungierten dabei als „Theologen“, die die Schrift auslegten, und als „Juristen“, die das ausgelegte Gesetz auf das tägliche Leben anwendeten.

Als Urtyp der Schriftgelehrsamkeit gilt Esra, der „Schreiber“ (vgl. Esra 7,6+10). Als sich ein Teil der Schriftgelehrten mit dem pharisäischen Lebensideal der Gesetzestreue im Alltag verband, konzentrierte sich ihre Arbeit auf die Praktizierung des Gesetzes mit Hilfe der „mündlichen Tradition“. Diese Tradition – die „Satzungen der Ältesten“4, wie man sie auch nannte – wurde auf Mose selbst zurückgeführt. Dieser habe sie als Auslegung des Gesetzes neben dem geschriebenen Gesetz von Gott selbst auf dem Sinai empfangen. Das sicherte auch der „mündlichen Tradition“ ihren göttlichen Ursprung und gottgegebenen Charakter zu. Die Mischna redet von der „Traditionskette der Lehrer“5: „Mose empfing die Tora vom Sinai und überlieferte sie Josua. Josua den Ältesten [Jos 24,31] und die Ältesten den Propheten [Jer 7,25]. Und die Propheten überlieferten sie den Männern der großen Versammlung unter Esra [Neh 8-10]…“

Zur Zeit von Jesus stritten die beiden berühmten Gesetzeslehrer Hillel und Schammai bzw. ihre jeweiligen „Schulen“ um die rechte Auslegung des Gesetzes, und das durchaus kontrovers6: z.B. „ob man das Abendgebet stehend (Hillel) oder im Bett liegend sprechen müsse“ (Schammai)…7; „ob man das zum Handabtrocknen benutzte Handtuch auf den Tisch (Schammai) oder auf das Sitzpolster legen müsse“ (Hillel)…8; „darf man ein Ei essen, das von einer gesetzesunkundigen Henne am Sabbattage gelegt ist? Schammai erlaubt es, Hillel nicht“9

Bekannt ist auch Rabban [Rabbi] Gamliel (oder Gamaliel; vgl. Apg 5,34ff). Nach Apg 22,3 war Gamaliel ein Enkel Hillels und der Lehrer des Saulus von Tarsus.

 

Die pharisäisch-schriftgelehrte Theologie ruhte auf zwei Säulen:

  1. auf dem geschriebenen Gesetz, der schriftlichen Tora und mit ihm gleich verbindlich auf das Engste zusammengehörig
  2. auf der „mündlichen Tradition“, den „Satzungen der Ältesten“, der „mündlichen“ Tora. Diese wird auch die sogenannte „Halacha“ genannt.10

Die Halacha regelt das Leben des Juden in allen Bereichen und Einzelheiten.

Die „Halacha“ ist somit die Weisung und Anleitung, wie der fromme Jude gemäß der Gesetzesauslegung verbindlich und damit gottgefällig durch das Leben gehen soll! Sie regelt das Leben des Juden in allen Bereichen und Einzelheiten. Sie ist auch wesentlicher Inhalt und Bestandteil der „Mischna“. Diese stellt (wie schon erwähnt) das schriftliche Endprodukt eines längeren mündlichen Überlieferungsprozesses dar.

Das religiöse Zentrum des Judentums war anfangs der Tempel in Jerusalem. Nach dessen Zerstörung im Jahre 70 n.Chr. und dem damit verbundenen Aufhören des Opferdienstes wurde das System der Synagogen11 für die Neugestaltung und Erhaltung des jüdischen Glaubens und religiösen Lebens entscheidend. Das war ein Verdienst des Gesetzeslehrers Johanan ben Zakkai.12 Dieser errichtete in dem Ort Jabne (griech. Jamnia), westlich von Jerusalem gelegen, ein neues religiöses Zentrum. Hier begann die Sichtung des umfangreichen mündlichen Traditionsstoffes und seine Verarbeitung zu verbindlichen schriftlichen Formen und Formulierungen.

Einen weiteren Einschnitt in der jüdischen Geschichte bedeutete der verloren gegangene Bar-Kochba-Aufstand (132-135 n.Chr.). Die Folgen waren für die Bewohner der Süd- bzw. Stammprovinz Juda besonders gravierend, weil diese Provinz das Hauptaufstandsgebiet war.13 So war man gezwungen, das Zentrum der rabbinischen Lehrtätigkeit endgültig von Judäa nach Galiläa zu verlegen.

Der [Hohe] „Rat“ unter Rabbi Jehuda, dem „Fürsten“14, zog zunächst nach Uscha in Untergaliläa um. Die sog. „Periode von Uscha“ (ca. 140-200 n.Chr.) wurde nun zum wichtigsten Abschnitt der Kodifizierung (= Gesetzessammlung) hin zur „Mischna“. Als (End-)Redaktor (d.h. Zusammensteller des Überlieferungsstoffes) gilt nach jüdischer Tradition der oben genannte Rabbi Jehuda, der „Fürst“. Er war um 200 n.Chr. der „Rabbi“ schlechthin, die maßgebende Autorität seiner Zeit.

Die Zusammenstellung und schriftliche Fixierung des Überlieferungsstoffs führte zur Mischna.

Nach ihrer schriftlichen Fixierung wurde die Mischna der allgemein anerkannte jüdische Kodex (= Gesetzessammlung) religions- und zivilrechtlicher Überlieferungen und Bestimmungen. Auf ihr basieren und gründen sich alle späteren Entscheidungen. Zusammen mit der „Gemara“ (= Vollendung) ergibt die Mischna den „Talmud“ (= die Lehre, d.h. die abschließende jüdische Gesetzessammlung).

 

  1. Aufbau und Inhalt der Mischna

Der Stoff der Mischna ist vorwiegend thematisch geordnet: Zunächst in sechs sogenannten „Ordnungen“ (hebr. Sedarim). Diese umfassen insgesamt 63 Traktate, die jeweils ein bestimmtes Thema behandeln. Die Sachgruppen der sechs Sedarim sind folgende:

  1. Saaten (11 Traktate);
  2. Feste (12 Traktate: u.a. „Sabbat“; „Vermischungen“);
  3. Frauen (7 Traktate: u.a. „Gelübde“);
  4. Beschädigungen (das Zivilrecht betreffend; 10 Traktate);
  5. Heiliges (= Opfer; 11 Traktate);
  6. Reinheiten (= Reinheitsvorschiften; 12 Traktate: u.a. „Hände“).

Aus dem thematischen Zusammenhang der 1. Ordnung („Saaten“) fällt der erste Traktat heraus. Dieser behandelt Anweisungen über Gebete, Lobpreisungen für Gott und besonders über das sogenannte „Sch’ma Israel“ (= „Höre Israel“).15

Der 1. Traktat heißt hebr. „Berakot“ (= Segen, Segenssprüche). Er gilt als Einleitung in die gesamte Mischna und bildet den rechten Auftakt für ihr Verständnis: Die „Mischna“ ist Glaubens- und Lebensbekenntnis zu dem „einen Gott“, dem einzig wahren, wie er sich in der Geschichte Israels geoffenbart hat. Sie ist Lobpreis und Anbetung zu ihm, denn sie ist ja sein Gesetz.

 

 

  1. Jesus und die „Satzungen der Ältesten“

 

3.1. Matthäus 15,1-9

Wir wollen von Jesus Verhältnis zu den Ältestensatzungen an zwei Beispielen demonstrieren. Wir beginnen mit dem Abschnitt Mt 15,1-9. Dieser stellt eine gute Hintergrundschilderung zu unserem Thema dar. Nicht nur, dass der Begriff „Satzungen der Ältesten“ (mit entsprechenden Beispielen wie „Händewaschen vor dem Essen“ oder „Korban-Gelübde“) im Text vorkommt, sondern auch, dass Jesus grundsätzlich Stellung bezieht zum Verhältnis von „Gebot Gottes“ und den „Satzungen der Ältesten“. Dabei wird deutlich:

Jesus zieht einen klaren Trennungsstrich zwischen beiden Größen. Für ihn sind die „Satzungen der Ältesten“ Menschengebote (V. 6+9), weil Gott sie in seinem Gesetz nicht geboten hat. Deshalb ist für Jesus die „mündliche Tora“ nicht bindend, und ebenso nicht für seine Jünger. Der gegen sie erhobene Vorwurf (in V. 2) ist also gegenstandslos. Wer etwas zum Gesetz hinzufügt, was Gott nicht geboten hat, greift in Gottes Hoheitsrechte ein. Durch solche „Menschensatzungen“ wird der Gehorsam gegen Gottes Gebote gelockert und aufgehoben. Sie verdrängen schließlich Gottes Gebote aus dem Gewissen. Durch seine entgegengesetzte Wertung der „Satzungen der Ältesten“ geriet Jesus immer wieder in Konflikt mit den Pharisäern.

 

Beispiel 1: Händewaschen vor dem Essen

Nach 2Mose 30,18-21 war es nur den Priestern geboten, vor ihrem Dienst am Heiligtum ihre Hände (und Füße!) zu waschen. Dieses Gebot wurde mit der Zeit durch die Pharisäer für alle vor jeder Mahlzeit vorgeschrieben.16 Wie die Händewaschung zu geschehen habe, darüber bestanden bis ins Kleinste gehende, peinlich-genaue Vorschriften.17 Im Einzelnen werden unterschieden:

  1. Die Prozedur insgesamt (Mischna II,1ff): Das Waschen/Abspülen der Hände erfolgte durch ein zweimaliges Begießen bis zum Handgelenk, „das erste und zweite Wasser“ genannt. Dabei reinigte nur das „erste Wasser“ die Hände selbst, während das „zweite Wasser“ lediglich das Wasser, welches durch die erste Abspülung nun selbst unrein geworden war, entfernen sollte!
  2. Die Wassermenge (Mischna I,1): „Ein viertel Log Wasser [etwa 1/10 l] nimmt man zum Handguss für einen oder zwei Güsse… Man darf zum zweiten Wasser hinzufügen, aber nicht zum ersten…“
  3. Das Gefäß (Mischna I,2): „Aus allen Gefäßen nimmt man Wasser zum Handguss… Und man nimmt nicht für einen anderen die hohlen Hände, weil man weder… noch einen Handguss anders vollzieht als nur aus einem Gefäß…“
  4. Das Begießen selbst oder durch andere (Mischna I,5): „Jeder ist tauglich, Wasser über die Hände zu gießen, selbst ein Taubstummer, ein Geisteskranker oder Minderjähriger. Man darf einen Krug zwischen die Knie nehmen und gießen. Man darf den Krug auf die Seite neigen und gießen. Sogar ein Affe kann Wasser über die Hände gießen…“

Das Händeabspülen wurde später zunehmend zu einem verdienstlichen Werk.

Davon, wie das „Händeabspülen“ zunehmend zu einem verdienstlichen Werk wurde, zeugen spätere Aussagen (die freilich nicht in der „Mischna“, sondern erst im „Talmud“ stehen), wie z.B.: „Wer das Abspülen der Hände geringschätzt, wird aus der Welt gerissen“ oder: „Wer Brot ohne Händeabspülung isst, der ist ein Sünder.“18

 

Beispiel 2: Korban-Gelübde

Der „schützende Zaun“ konnte das Gebot so überwuchern, dass Gottes Gebot ins Gegenteil verkehrt wurde.

Das an dieser Stelle genannte zweite Beispiel ist eine Kombination aus einem eigentlichen Gebot Gottes (vgl. 4. Gebot) und einem aus diesem Gebot abgeleiteten Lebensgrundsatz der mündlichen Tradition. Die verschiedenen Ge- und Verbote der mündlichen Tradition bildeten den sogenannten „Zaun um das Gesetz“ (Zaun um die Tora).19 Dieser „Zaun“ sollte das eigentliche Gebot Gottes vor beabsichtigter oder unbeabsichtigter Übertretung schützen. Nun konnte es aber geschehen, dass der „schützende Zaun“ das besondere Gebot Gottes so verdeckte oder überwucherte, dass es nicht mehr zu sehen war oder gar ins Gegenteil verkehrt wurde. So, als hätte das im obigen Textabschnitt erwähnte 4. Gebot, ursprünglich gelautet: „Du sollst Vater und Mutter nicht ehren.“ Das folgende Zitat kann das illustrieren: „Das ganze religiöse Leben der Juden war eben umsponnen mit einem lästigen Gewebe peinlichster, die Freiheit auf Schritt und Tritt hemmender Religiosität und wahre Sittlichkeit erstickender Satzungen.“20

Hebräisch „korban“ (vgl. auch Mk 7,11) bedeutet: Opfer, Opfergabe. „Korban“ war zur Zeit von Jesus eine geläufige Gelöbnisformel. Man verwendete sie, wenn jemand gelobte, etwas für einen heiligen, gottesdienstlichen Zweck (für Gott oder den Tempel) zu weihen. Worüber das Wort „Korban“ (oder eine andere gängige Formel – vgl. Mt 15,5) gesprochen wurde, das war dem normalen oder ursprünglichen Verwendungszweck entzogen. Der Ausdruck „Korban“ machte das Gelübde gültig und bindend. In der Mischna heißt es: „Jede Umschreibung der Worte für ein Gelübde ist wie das Gelübde selbst… Wer zu einem anderen sagt: ‚Korban’, d.h. sei das mir von dir durch ein Gelübde verboten, dem ist es verboten“21

In unserem Textbeispiel (Mt 15,5f): Sobald das Wort „Korban“ ausgesprochen ist, ist das, was der Sohn so nennt (nämlich das finanzielle Polster für die Altersversorgung), für die Eltern nicht mehr vorhanden. Ein Kind, das seine alten Eltern unterstützten sollte, kann sich aus dieser Verpflichtung lösen, wenn es Gott ein Geldopfer gelobt, das dem Tempel gegeben wird. Auf diese Weise wird die „Satzung der Ältesten“ über „Gottes Gebot“ gestellt. Und das im Gewand besonderer Frömmigkeit! Die Auflösung des Eltern-Gebotes wird als hervorgehobenes religiöses Plus bezeichnet, weil ja das Tempelopfer (= Gabe für Gott) an die Stelle der Eltern-Unterstützung (= Gabe für Menschen) getreten ist. Gott ist schließlich mehr als Menschen!

Jesus nennt solches Verhalten „Heuchelei“. Er brandmarkt es mit den Worten des Propheten Jesaja (29,13): „Dies Volk ehrt mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir…“ Menschengebote werden hochgehalten und Gottes Gebote preisgegeben. Auch sonst hat Jesus den Grundsatz, dass fromme Handlungen den pflichtmäßigen Werken der Liebe vorangehen, als pharisäisch und gesetzlich bekämpft (vgl. z.B. Mt 23,23-26).

 

3.2. Matthäus 12,1-14

Der Sabbat war, schon vom Alten Testament her, der wichtigste Feiertag für die jüdische Familie. Er wurde jede Woche begangen. Als Begründung diente die Schöpfungsordnung. Nach 1Mose 2,2f erschuf Gott die Welt in sechs Tagen und ruhte am siebenten Tag. Dementsprechend sollte auch für den frommen Juden auf die sechstägige Arbeitswoche der Abschluss und geistliche Höhepunkt im Sabbat folgen (vgl. 2Mose 20,10f). Auf die Entheiligung des Sabbats stand die Todesstrafe durch Steinigung (vgl. 2Mose 31,15).22

Mit „Erub“ wurden Methoden bezeichnet, die es erlaubten, am Sabbat verbotene Dinge trotzdem zu tun.

Entsprechend dieser großen Bedeutung des Sabbats umgaben ihn die jüdischen Gesetzeslehrer mit besonders zahlreichen Ver- und Geboten sowie Ausführungsbestimmungen, um eine Verletzung und Übertretung des Feiertages zu vermeiden. Zwei umfangreiche Mischna-Traktate geben davon Zeugnis: „Sabbat“ und „Erubin“ (= Vermischungen).23 Der zweite Traktat „Erubin“ zeigt das Bemühen, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit am Sabbat zu lockern. Vorgeschrieben und erlaubt zu gehen war der sogenannte „Sabbatweg“ (vgl. Apg 1,12). „Erub“ ist ein „Terminus zur Bezeichnung verschiedener Methoden, am Sabbat… verbotene Dinge dennoch zu ermöglichen; z.B. die ideelle Verbindung zweier Gebiete, um am Sabbat weiter als die sonst nur erlaubten 2000 Ellen [= knapp 1 km] gehen zu dürfen: Man legt innerhalb der 2000 Ellen Essen für zwei Mahlzeiten nieder und schafft sich damit eine zweite ‚Wohnung’ als Ausgangspunkt für weitere 2000 Ellen in jede Richtung.“24

Nach dem Mischna-Traktat „Sabbat“ gab es 39 Hauptarbeiten, die am Sabbat verboten waren. Angeblich waren das diejenigen Arbeiten, die zur Herstellung der Stiftshütte nötig gewesen waren: „…Wer sät, pflügt, erntet oder Garben bindet, wer drischt oder worfelt, wer ausliest, wer mahlt, siebt, knetet oder backt, wer Wolle schert, sie bleicht, sie hechelt oder sie färbt, wer spinnt, wer webt, oder wer zwei Fäden schlingt, zwei Fäden webt oder zwei Fäden trennt, wer einen Knoten knüpft oder löst, wer zwei Stiche näht oder aufreißt in der Absicht, zwei Stiche zu nähen; wer eine Gazelle jagt, sie schlachtet, ihr Fell abzieht, es einsalzt, es gerbt, abschabt oder es zerschneidet; wer zwei Buchstaben schreibt oder auswischt in der Absicht, zwei andere Buchstaben zu schreiben; wer baut oder niederreißt, wer löscht oder anzündet, wer mit dem Hammer schlägt oder wer etwas aus einem Gebiet in ein anderes trägt. Siehe, das sind die Hauptarbeiten, vierzig weniger eine.“25

Später (auf dem Weg hin zum Talmud) wurde jeder der 39 Hauptarbeiten eine Reihe von Unter- bzw. Nebenarbeiten zugeordnet. So sah man z.B. das nach 5Mose 24,26 erlaubte Ausraufen von Ähren als eine Unterarbeit des Erntens an, die am Sabbat verboten war. In Mt 12,1f wird berichtet, wie die Jünger von Jesus gegen diese Satzung verstießen und deshalb belangt werden sollten.

Zu diesen Haupt- und Nebenarbeiten kam dann aber noch eine größere Anzahl anderweitiger Tätigkeiten, die aus Gründen der Sabbatheiligung – besonders der Sabbatruhe – von den Gesetzeslehrern – verboten wurden. Im Traktat „Besa“ (= Ei) lesen wir: „…Und diese Taten gehören zu den Verfehlungen wegen des Ruhegebots: Man darf auf keinen Baum steigen, auf keinem Tier reiten, nicht im Wasser schwimmen, nicht in die Hände klatschen… und nicht tanzen…“26

Durch diese umfangreiche Reglementierung wurde der Sabbat zu einer schweren Last und zum hartem Joch.

Durch diese umfangreiche Reglementierung wurde der Sabbat, der recht verstanden „zur Wonne und nicht zum Schmerz“ gegeben ist, zu einer schweren Last und zum hartem Joch! Der Mensch ist so nach pharisäisch-gesetzlicher Ansicht „um des Sabbats willen“ gemacht worden. Jesus sieht es genau anders herum: „Der Sabbat ist um des Menschen willen“ gemacht worden (Mk 2,27). Das heißt: Erst der Mensch, dann der Sabbat, dem Menschen zur Hilfe, dass er Gott nicht vergisst, und zur Wohltat, dass er nicht in seinem irdischen Werk versinkt!

 

Das zuletzt Gesagte leitet über zu einer weiteren Frage in unserem Zusammenhang: Darf am Sabbat geheilt werden? (vgl. Mt 12,10ff). Generell war „heilen“ eine Arbeitsleistung wie „backen“, „zimmern“ usw. und somit am Sabbat verboten. Am Sabbat durfte nur dann geheilt und geholfen werden, wenn Lebensgefahr bestand. Im Mischna-Traktat „Joma“ (= Versöhnungstag) heißt es dazu: „Wer Halsschmerzen hat, dem darf man auch am Sabbat Medizin geben, weil er möglicherweise in Lebensgefahr ist, und jede Lebensgefahr bricht [= verdrängt] den Sabbat“).27 Weitere Beispiele für diesen Sachverhalt finden wir u.a. im eben angeführten Traktat „Joma“: „Stürzt ein Bauwerk auf einen Menschen, und es gibt Zweifel, ob er darunter liegt oder nicht, Zweifel, ob er lebt oder tot ist…, hat man über ihm den Steinhaufen aufzugraben. Findet man ihn lebend, gräbt man weiter, aber wenn er tot ist, lässt man ihn ruhen.“28 Und im Traktat „Sabbat“ ist verfügt: „Man darf einer Frau am Sabbat entbinden helfen und für sie eine Hebamme von einem Ort zum anderen Ort holen, und man darf ihretwegen den Sabbat entweihen und die Nabelschnur abbinden…“29

In dem Mt 12,10ff vorliegenden Fall würden die Pharisäer folgendermaßen entschieden haben: Da die verkrüppelte Hand keine unmittelbare Lebensgefahr für den Leidenden darstellte, ist die Heilung am Sabbat nicht gestattet! Jesus sieht auch hier keine Beschränkung. Er, der Herr über den Sabbat und Vollender des alten Bundes, weiß sich zu aller Zeit zum Gutes-tun gerufen: Gerufen durch sein befreiendes Evangelium und durch seine helfende Heilandstat: uneingeschränkt, zu jeder Zeit und an jedermann!

 

Abschließend wollen wir uns in der Nachfolge von Jesus die Frage stellen: Wie stehen wir zur jüdischen Gesetzlichkeit? Die Antwort darauf soll uns die Heilige Schrift geben: Der Apostel Paulus, der wie kein Zweiter in den „Satzungen der Ältesten“ erzogen und groß geworden ist (Gal 1,14), hat später nach seiner Bekehrung zum Christusjünger öffentlich bekannt: „Jesus Christus ist des Gesetzes Ende, wer an den glaubt, der ist gerecht!“ (Röm 10,4). Das möge auch unser Bekenntnis sein und bleiben!

(Vortrag, gehalten zum Seminartag am Lutherischen Theologischen Seminar in Leipzig am 25. September 2010. Der Verfasser war 1974 -2009 Pastor der Ev.-Luth. Freikirche in Crimmitschau und bis 2010 Dozent für Neues Testament am Seminar. Anschrift: Glauchauer Landstr. 24, 08451 Crimmitschau/Sachsen).


  1. Vgl. vor allem: Johann Maier/Peter Schäfer, Kleines Lexikon des Judentums, Stuttgart/Konstanz 1981, unter den Schlagworten „Mischna“, „Pharisäer“, „Tora“ usw. 

  2. Diesem Vortrag zugrunde liegt folgende Ausgabe: Die Mischna, ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Dietrich Correns, Wiesbaden 2005. Alle folgenden Stellenangaben aus der Mischna beziehen sich auf diese Ausgabe. 

  3. Pharisäer = Abgesonderte, d.h. von den übrigen Juden, wegen ihrer genauen Gesetzesbeobachtung und strengen Gesetzesauslegung; eine Laienbewegung aus dem besitzenden jüdischen Kleinbürgertum; im NT werden sie häufig als Gegner Jesu geschildert. 

  4. Oder die „Überlieferung der Väter“, vgl. Mt 15,2; Mk 7,3. 

  5. Mischna, S. 584ff (= I,1; I,12; I,16). 

  6. Zitiert nach Hans Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, Bd. 1, Berlin 1961, S. 18. 

  7. Mischna, S. 4 (= I,3). 

  8. Mischna, S. 12 (= VIII,3). 

  9. Mischna, S. 246 (= I,1). 

  10. Halacha ist abgeleitet von der hebräischen Wurzel „halach“ und heißt auf Deutsch: gehen, wandeln. 

  11. Synagoge = das jüdische Gemeindezentrum, auch „Schule“ genannt. Dort fand ein reiner Wortgottesdienst statt, der um die Verlesung des Gesetzes gruppiert war. 

  12. Mischna, S. 587 (= II,8+9). 

  13. Gefangen genommene Gesetzeslehrer wurden wegen ihrer Teilnahme am Aufstand hingerichtet. Die Beschneidung, das jüdische Bundeszeichen, wurde zumindest vorübergehend verboten. Juden wurde das Betreten Jerusalems bei Todesstrafe untersagt. Die Stadt selbst wurde als römische Militärkolonie wieder aufgebaut und in „Aelia Capitolina“ (zu Ehren des römischen Kaisers Aelius Hadrianus und des römischen Gottes Jupiter Capitolinus) umbenannt. Eine Jupiterstatue wurde auf dem Tempelberg errichtet. 

  14. Mischna, S. 586 (= II,1 u.ö.). 

  15. Dieses Sch’ma Israel ist (bis heute) das jüdische Glaubensbekenntnis aus 5Mose 6,4ff: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr.“ 

  16. Die Mahlzeit wurde als „heiliger Dienst“ angesehen. 

  17. Vgl. den Traktat „Hände“ (Mischna, S. 970f). 

  18. Zitiert nach: Hermann Strack/Paul Billerbeck, Kommentar zum NT aus Talmud und Midrasch, München 91986, Band I, S. 703 

  19. Zu diesem Ausdruck vgl. Mischna, S. 584 (= I,1) und S. 590 (= III,13) im Traktat „Väter“. 

  20. Gustav Wohlenberg, Das Evangelium des Markus, Leipzig 31930, S. 206. 

  21. Vgl. Mischna, S. 351 (= I,1 a+b); u.a. bei I,2 werden „Korban“ und entsprechende Umschreibungen wie „Konam, Konah, Konas“ genannt. 

  22. Übernommen in den Traktat „Sanhedrin = Gerichtshof“ VII,4a; Mischna, S. 517. 

  23. Vgl. Mischna, S. 141-168 und S. 169-187. 

  24. Aus Maier/Schäfer, Kleines Lexikon des Judentums, S. 93. 

  25. Mischna, S. 149 (= VII,2). 

  26. Mischna, S. 252 (= V,2). 

  27. Mischna, S. 232 (= VIII,6). 

  28. Mischna, S. 232 (= VIII,7). 

  29. Mischna, S. 162 (= XVIII,3b).