Wie soll man den Plural in der Wendung „Tage des Menschensohns“ in den Versen 22 und 26 im Abschnitt Lukas 17,22-37 verstehen? Die NEÜ übersetzt Vers 26 auslegend: „Und wenn der Menschensohn kommt, wird es wie in Noahs Zeit sein.“ Das entspricht dem Sinn von Matthäus 24,37, wo es heißt: „Aber wie die Tage Noahs waren, so wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein“ (ELB). Aber meint Lukas genau das oder sind nicht vom Wortlaut her andere Deutungen wahrscheinlicher?
Die Bedeutung des Plurals ist tatsächlich zum Anlass geworden, nicht einfach den „Tag des Menschensohns“ als Tag des zweiten Kommens von Jesus Christus am Ende der Zeiten zu deuten, sondern Überlegungen anzustellen, welche weiteren Tage Jesus hier angesprochen haben könnte. Dabei sind zahlreiche Möglichkeiten ernsthaft bedacht worden, die ich einmal aufzähle, um das Problem zu verdeutlichen.
A. Die Tage des Menschensohns sind eine parallele Formulierung zu den Tagen des Messias, wie sie in der Umwelt zur Zeit von Jesus vorkamen. Das würde bedeuten, dass der Tag der Wiederkunft (wie in Mt 24,37 parousia) und die folgende Zeit der Herrschaft des wiedergekommenen Herrn gemeint sind.
B. Es sind die Tage gemeint, die der Wiederkunft unmittelbar vorausgehen und ihren Abschluss und Höhepunkt in der Wiederkunft des Herrn finden. Der eine besondere Tag, den die Jünger sich herbeiwünschen, wäre dann die Wiederkunft.
C. Die Tage des Menschensohns umfassen die ganze Zeit zwischen Ostern und der Wiederkunft, also die Tage der Erhöhung des Menschensohns im Himmel, die geglaubt, aber jetzt nicht gesehen werden kann. Wir leben dann jetzt auch in diesen Tagen.
D. Die Tage des Menschensohns sind die Tage seines Lebens auf der Erde, wo der Gottessohn als Mensch auf der Erde sichtbar war, aber seine Herrlichkeit weitgehend verborgen blieb.
E. Eine andere Sicht deutet die Tage als diejenigen, an denen die Herrlichkeit des Menschensohns schon vor seiner Wiederkunft für einige sichtbar wurde. Hier wäre an seine Verklärung, seine Auferstehung und Himmelfahrt zu denken. Aber man könnte auch die Visionen dazuzählen, in denen der verherrlichte Jesus Paulus und Johannes, aber auch Stephanus kurz vor seinem Tod, erschien. Weitere Tage könnten dazukommen.
F. Lukas meint mit der Formulierung im Plural in den Versen 22 und 26 das Gleiche wie in den Versen 24 und 30 mit dem Singular. Er redet im ganzen Abschnitt von der Wiederkunft. Aber er will mit der wechselnden Formulierung unterstreichen, dass diese Wiederkunft nicht nur als ein einzelner Tag zu denken ist, sondern als eine kürzere oder längere Zeitperiode.
Wie geht man damit um, wenn eine Formulierung so viel Raum lässt für verschiedene Deutungen? Kann man dann gar nicht wissen, was gemeint ist?
1. Zuerst einmal kann man beruhigt sein, dass trotz einer gewissen Bandbreite an Deutungen diese gar nicht so weit auseinander liegen, wie es auf den ersten Blick scheint. Es geht vielmehr darum, was man auf der Grundlage der Deutungen an weiteren Schlüssen zieht.
Nehmen wir die letzte Auslegung (F.): Ob es sich bei der Wiederkunft nun um einen Tag oder dann insgesamt doch um einen längeren Zeitraum handelt, ist eine Betrachtungsweise. Einerseits ist die Wiederkunft wie ein Blitz (Mt 24,27; Lk 17,24?), bei dem mit einem Mal auf der ganzen Welt zu sehen sein wird, wer der Herr und Richter ist. Andererseits macht die Endzeitrede in Matthäus deutlich, dass dem auch Tage mit deutlichen Zeichen vorangehen und Tage des Gerichtes folgen. Erst wenn man mit der Deutung von dem längeren Zeitraum das Kommen von Jesus zu einem evolutionären Prozess der Weltverbesserung macht, dann hätte man die eindeutige Botschaft über das zweite Kommen verdreht.
Andererseits erscheint es recht unwahrscheinlich, dass der wechselnde Plural und Singular eine Botschaft vermitteln soll, die nicht auch sonst klar ausgesagt ist. Man könnte höchstens sagen, dass auch hier bei Lukas die beiden Aspekte der Wiederkunft vorkommen: Der eine Zeitpunkt, an dem die Parousie sich vollzieht und die Zeit (direkt) davor. Die konsequente Verwendung einer Futurform macht jedenfalls klar, dass es um die Zukunft geht und nicht die Tage angesprochen sind, während Jesus auf der Erde lebt (D.). Jesus hätte auch sagen können, dass es aktuell so zugeht wie in den Tagen Noahs oder Lots, aber darum geht es ihm offenbar nicht. Aber er könnte natürlich die ganze Zeitspanne meinen, die noch bis zu seiner Wiederkunft vergehen wird (C.). Der Blick scheint offenbar auch auf dieser Zwischenzeit zu liegen, jedoch immer von der Wiederkunft her, die diese Tage überhaupt erst zu einer Zwischenzeit macht. Das unterstreicht dann auch der Zusammenhang.
Der Mensch muss bereits in diesem Leben die richtigen Vorbereitungen treffen, wenn er in Ewigkeit am Reich Gottes teilhaben will.
2. Der Zusammenhang, der hier offenbar vorhanden ist, weil es sich nicht um ein Einzelwort von Jesus handelt, muss die Auslegung in aller Regel regieren. Ausnahmen müssen besonders begründet werden. Wovon die Deutung der Tage als Erscheinungen der Herrlichkeit (E.) spricht, ist dem NT wohl nicht fremd. Mt 16,28 scheint mir am sinnvollsten in der in Kapitel 17 erzählten Verklärung erfüllt. Drei Jünger sind nicht gestorben, bevor sie Jesus verherrlicht mit Mose und Elia gesehen haben. Sie haben gewissermaßen das Reich von Jesus sehen dürfen, noch bevor es für alle angebrochen ist.
Allerdings passt die Auslegung der Tage des Menschensohns als Tage des Aufleuchtens seiner Herrlichkeit kaum in den Zusammenhang. Das ist nämlich offenbar nicht das Thema, das über mehrere Kapitel bei Lukas entfaltet wird. Bereits ab Kapitel 12 wird die Aufmerksamkeit immer wieder darauf gelenkt, dass der Mensch in diesem Leben die richtigen Vorbereitungen treffen muss, um in der Ewigkeit am Reich Gottes teilzuhaben.
Die Habsucht hat in der Geschichte vom reichen Kornbauern (12,13-21) diesen dazu verführt, zwar über die Sicherung der Ernte nachzudenken – was nicht verwerflich ist –, aber dabei vergessen, dass der eigene schnelle Tod alle Verhältnisse ändert. Er ist nicht „reich bei Gott“ und darum nicht auf den Tag des Gerichtes vorbereitet. Unseren Schatz sollen wir bei Gott haben, damit auch unser Herz bei Gott ist (12,34). Jesus fordert darüber hinaus aber auch auf, bereit zu sein und das Kommen des Menschensohnes wachsam zu erwarten (12,40). Er soll die Zeichen der Zeit richtig deuten und sich vorbereiten, damit er vor Gott, dem gerechten Richter, bestehen kann (12,54-59).
Das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum verdeutlicht, dass dazu noch eine Zeit der Gnade vorhanden ist, die aber bald abläuft (13,6-9). Dann aber ist es zu spät und man steht vor der Tür und will gerettet werden, aber sie ist verschlossen und der Hausherr will nicht öffnen (13,22-27). Wer die Einladung nicht annimmt, der wird am Heil des ewigen Reiches Gottes nicht teilhaben (14,15-24). Aber gegenwärtig ist der Hirte immer noch auf der Suche nach dem verlorenen Schaf (15,1-7) und wer sich finden lässt und von seinem Irrweg auf den Weg Gottes kommt, der löst Freude im Himmel aus.
Der Weg des Glaubens ist eine konsequente Vorbereitung auf eine zukünftige Zeit (16,8-9) und darum sollen die Jünger jetzt selbst mit den scheinbar unwichtigen Dingen treu sein und sich insbesondere nicht vom Geld das Herz stehlen lassen. Es ist nämlich besser als armer Lazarus zu leben und nach seinem Tod bei Gott zu sein als ein reicher Mann und dann in ewigen Qualen (16,19-31). Es kommt also jederzeit darauf an, dass wir darauf vorbereitet sind, vor Gott treten zu müssen. Das kann man nicht bis zum Kommen von Jesus schieben, weil der eigene Tod das beendet.
Jesus geht es darum, dass der Glaubende weiß, dass Gottes Reich mit Jesus schon angebrochen ist und er doch in seinem Handeln von der Erwartung der zukünftigen Heimat im Himmel bestimmt ist.
Angesichts dieser Lehre von Jesus ist die Frage nach dem „Wann?“ des Reiches Gottes naheliegend (17,20). „Wann kommt es, damit ich pünktlich vorbereitet bin?“ Aber diese Frage ist in doppelter Hinsicht falsch. Erstens ist mit Jesus Christus das Reich Gottes schon da. Deswegen hatte doch Johannes der Täufer zur Buße gerufen, weil der Herr des Reiches Gottes kommt. Jesus Christus ist der Richter, an dem sich entscheidet, wer dabei ist. Das Reich Gottes ist aber ohne die äußerlich sichtbaren Zeichen gekommen, weil Jesus als einfacher Mensch kam und – anders als von Johannes erwartet – jetzt noch nicht das Gericht ausübt, sondern in Gnade zur Umkehr ruft. Aber zweitens wäre es falsch, eine Haltung einnehmen zu wollen, in der man eben dann, wenn die Zeichen des Reiches Gottes nun wirklich sichtbar werden, noch die nötigen Vorbereitungen trifft, um dabei zu sein.
Jesus macht deutlich, dass der Mensch mit dieser Haltung wie die Leute zur Zeit Noahs sein wird. Er wird so mit den normalen Dingen des Lebens beschäftigt sein, dass er die Vorzeichen des zweiten Kommens von Jesus Christus nicht bemerkt. Wie die Menschen damals aßen und tranken und heirateten, kauften, pflanzten und bauten und damit nichts Falsches taten, so werden die Menschen am Tag der Parousie wie an allen Tagen davor mit den Alltagsgeschäften beschäftigt sein (C). Das Problem sind nicht die Alltagsgeschäfte, sondern dass sie nicht längst zum Glauben an Christus umgekehrt sind. Dass Jesus das im Hinblick auf Lots Flucht aus Sodom wiederholt, zeigt, wie unausweichlich dieser Zusammenhang ist. Wenn Jesus wiederkommt, ist es für die Umkehr zu spät. Sie aufzuschieben ist Dummheit mit weitreichenden Folgen: Der Mensch verspielt seinen Platz im Reich Gottes. Wenn Jesus den Tag (Singular) schildert (30-36), dann geht es ihm nicht um ein Drehbuch für eine dramatische Story über die Entrückung, sondern erstens um die Haltung, die nicht zurückschaut, sondern davon geprägt ist, dass die Heimat des Christen im Himmel ist (31-32). Zweitens werden in äußeren Dingen die Geretteten und die Verlorenen nicht unterscheidbar sein. Sie schlafen und arbeiten wie die anderen (Man könnte sogar hinzufügen: sie essen und trinken, sie heiraten, sie kaufen, pflanzen und bauen.), aber weil sie glauben, darum werden sie zu ihm ins Reich Gottes eingehen, wenn Jesus wiederkommt.
Die Betonung liegt darauf, dass viele Menschen in ihren gedankenlosen Beschäftigungen unvorbereitet auf den Tag der Wiederkunft hinleben.
3. Damit ist deutlich, dass die Unterscheidung zwischen dem Tag oder Augenblick der Wiederkunft und der Zeit davor nur insofern von Bedeutung ist, als dass sie die Möglichkeit der Umkehr in den Fokus nimmt, von der aber viel zu wenige Gebrauch machen. Vers 26 mit dem Ausdruck „Tage des Menschensohns“ (Plural) scheint gemäß dem Vergleich mit den Tagen Noah (Jahrzehnte der Bauzeit und Predigt Noahs) und Lots (Stunden bis zur Flucht) absichtlich keine Betonung auf eine bestimmte Länge oder Anzahl von Tagen oder Jahren zu legen, sondern vor allem auf die Gedankenlosigkeit der vielen Menschen, die unvorbereitet auf den Tag der Wiederkunft hinleben. Die folgenden Verse aber drängen m.E. die Gedanken auf die direkte Zeit vor der Wiederkunft. Für die Umkehr aber spielt das alles keine Rolle, sondern hier gilt, dass diese sofort geschehen soll und kann. Denn Jesus ist schon gekommen. Er hat gelitten, ist für uns gestorben und auferstanden und hat damit alles für unsere Rettung möglich gemacht. Dass mit den Tagen des Menschensohns seine Lebenszeit auf der Erde gemeint ist (D.), ist offenbar mit dem Zusammenhang nicht vereinbar.
4. Bliebe noch die Frage, ob die angefragte auslegende Übersetzung der NEÜ zu weit geht. Zuerst einmal muss jede Übersetzung in gewissem Maße auslegen und tut es auch. An dieser Stelle könnte man in einer „wörtlichen“ Übersetzung natürlich die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten offen lassen. Aber das ist eine grundsätzliche Entscheidung über die Art von Übersetzungen. Ich meine, dass beide ihre Berechtigung haben. Die Formulierung „wenn der Menschensohn kommt“ verbirgt den Wortlaut des griechischen Textes und vermeidet damit die vielen Deutungsmöglichkeiten, indem sie sich für eine entscheidet. Sie lässt zwar die Deutung des Wiederkommens von Jesus als einem Zeitpunkt mit einem vorangehenden und folgenden Zeitraum offen, aber könnte es wohl auch in einer kommunikativen Übersetzung deutlicher wiedergeben.