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Traditionsabbruch der Evangelikalen

Viele der heutigen Evangelikalen wollen von den Wurzeln ihrer Bewegung nichts mehr wissen, sondern suchen den Schulterschluss bei anderen Traditionen. Ein genauer Blick zeigt allerdings, dass viele Vorwürfe gegen alte Überzeugungen falsch sind. Es lohnte sich für die evangelikale Bewegung vielmehr, sich auf bestimmte Elemente ihrer Tradition zu besinnen und ihre Geschichte vom Staub zu befreien.

Zu den wichtigsten evangelikalen Vordenkern des 20. Jahrhunderts gehörte zweifellos Carl F. H. Henry (1913-2003).

Der Journalist und Theologe war 1942 an der Gründung der „National Association of Evangelicals“ (NAE), der US-amerikanischen evangelischen Allianz, beteiligt. 1956 wurde er erster Chefredakteur des neuen Journals „Christianity Today“, bis heute das journalistische Flaggschiff der Evangelikalen in den USA und darüber hinaus.

Bekannt machte ihn ein Buch, das 1947 erschien – gerade 90 Seiten dünn –, aber es brachte Steine ins Rollen: The Uneasy Conscience of Modern Fundamentalism.

Am Anfang: Reform des Fundamen­talismus

Ohne Übertreibung kann das Büch­lein ein Grün­dungs­doku­ment der modernen evan­gelikalen Bewe­gung genannt werden.

Mit anderen noch recht jungen Mitstreitern wie Harold J. Ockenga (1905-1985), Edward J. Carnell (1919-1967) oder Bernard Ramm (1916-1992) setzte sich Carl F. Henry für eine erneuerte fundamentalistische Theologie ein.

Sie lehnten damals die Enge, den Anti­­intel­lektua­lis­mus, die Kultur- und Wissen­schafts­feind­­lich­keit ab, die weite Bereiche des Funda­men­talismus ab etwa den 30er Jahren kennzeichneten.

Gegenwärtige Probleme sehen

Henrys Haupt­vorwurf in seinem Buch: der Fundamen­talismus hat die heutige Welt und die sozialen Probleme aus dem Blick verloren; die Botschaft des Christentums wurde in falscher Weise verengt auf das persönliche Heil und das Jenseits; Henry plädiert für eine Wiederentdeckung alten Erbes:

„Die Kirche braucht einen progressiven Funda­men­talismus mit einer sozialen Botschaft.“

„Einst war das erlösende Evangelium eine weltverändernde Botschaft, heute ist es zu einer weltverneinenden Botschaft geworden.“

„Wir müssen die Welt heute mit einer Ethik konfrontieren, die sie erzittern lässt, mit einer Dynamik, die sie hoffen lässt.“

Der Fundamentalismus „fordert die Ungerechtigkeiten des Totalitarismus, den Säkularismus der modernen Erziehung, die Übel des Rassenhasses, die Mißstände in der Arbeitswelt, internationale Un­gleich­heiten nicht heraus. Er hat aufgehört, Rom und Cäsar herauszufordern… Das apostolische Evangelium hat nichts mehr gemein mit einer Leidenschaft für eine gerechte Welt.“

Diese Kritik finden auch heute sicher viele sympathisch. Wer die Gesell­schaftsrelevanz des christlichen Glaubens und Transformation großschreibt, wird in Carl Henry einen Gesinnungsgenossen finden.

Man sollte jedoch nicht überlesen, dass Henry den Fundamentalismus seiner Zeit im Grunde positiv sieht, denn er ist „bibelgläubiges Christentum, für das das Übernatürliche ein wesentlicher Bestandteil der biblischen Sicht darstellt“.

Wie alle in der Tradition des historischen Fundamentalismus Stehenden, die auf die namensgebende Schriftenreihe „The Fundamentals“ (1910–1915) zurückblicken, hält er vehement fest an einem „supranaturalistischen Rahmen“ des Glaubens. Henry hatte keinerlei Sympathie für die verzerrenden Angriffe auf den Fundamen­talis­mus durch liberale Theologen und säkulare Humanisten. Er stimmte mit dem Fundamentalismus im Hinblick auf die Lehre von Gott, der Schöpfung, des Menschen, der Erlösung und der Ewigkeit überein, verwarf also keineswegs dessen dogmatische Inhalte.

Kein dritter Weg

Carl Henry sah die gewünschte Neubelegung des modernen Evangelikalismus nicht darin, dass man lehrmäßige Überzeugungen aufweicht und sich anpasst.

Henry sah die „Neubelebung des modernen Evange­li­ka­lismus“ nicht darin, dass man lehrmäßige Überzeugungen aufweicht und anpasst und „sich in Richtung des Liberalismus bewegt“. Ganz ähnlich argumentierte übrigens später auch der fast gleichaltrige Francis A. Schaeffer.

Henry setzte sich also ausdrücklich nicht für einen dritten Weg zwischen Liberalismus und Fundamentalismus ein, vielmehr für eine Erneuerung, Reform, Modernisierung, ein Sich-Öffnen der vielfach erstarrten Bewegung. Daher gebrauchte er „evangelikal“ und „fundamentalistisch“ noch synonym!

Die Bewegung des erneuerten Fundamentalismus wurde deshalb auch austauschbar als „neo-fundamentalistisch“ oder „neo-evangelikal“ bezeichnet. Mit dem Adjektiv „evangelical“ kennzeichnete man im angelsächsischen Raum schon lange die Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts.

Unter den weltzugewandten Funda­mentalisten etablierte sich nach und nach die Selbstbezeichnung „Evange­likale“, und dies gerade auch in Europa, wo der Begriff „Fundamentalist“ praktisch nie Wurzeln geschlagen hatte. Fundamentalisten waren bald nur noch die engen, streng separatistischen Gruppen.

Theologisch stimmten die Neo-Evangelikalen aber in den wesentlichen Glaubenslehren mit den Fundamentalisten überein. Dies wurde auch in ‘Fundamentalism’ and the Word of God des jungen anglikanischen Theologen James I. Packer (geb. 1926) aus dem Jahr 1958 deutlich. Packer greift die damalige Kritik am Fundamentalismus auf, kritisiert wiederum den Liberalismus und verteidigt die Autorität der Bibel.

Auch für Packer ist der Name Fundamentalismus mit zu vielen Vorur­tei­len und schlechten Assoziationen verbunden (deshalb in der Schrift meist in Anführungszeichen), inhaltlich bekennt er sich aber zu ihm:

„‘Fundamentalismus’ ist bloß die Bezeichnung des 20. Jahrhunderts für den historischen evangelischen Glauben, nach unserer Meinung allerdings kein besonders guter und nützlicher Name.“

Und ganz ähnlich wie Henry:

„Um seinen evangelikalen Wurzeln treu zu sein, muss der Fundamentalismus entsprechend dem Wort Gottes, das er verteidigt, erweitert, reformiert und verfeinert werden.“

Sicherlich gab und gibt es in Teilen des Fundamentalismus „schreckliche Schwächen“ (so Schaeffer), doch damit eröffnet sich nicht die Notwendigkeit eines dritten Weges zwischen der Dogmatik des Fundamentalismus und des Liberalismus. James I. Packer schreibt unmissverständlich:

» Wir stehen im Prinzip vor der Wahl zwischen dem historischen evangelischen Glauben und dem neuen Subjektivismus, der sich selbst widerspricht und von Menschen gemacht ist.

„Wir stehen im Prinzip vor der Wahl zwischen zwei Arten von Christentum. Es ist die Wahl zwischen dem historischen evangelischen Glauben und dem neuen Subjektivismus; zwischen einem in sich stimmigen Christentum und einem, das sich selbst widerspricht; zwischen einem, das ganz von Gott gegeben ist und einem, das in Teilen von Menschen gemacht ist… Wir müssen wählen, ob wir die biblische Lehre von der Schrift, so wie sie dasteht, akzeptieren oder ob wir es uns erlauben, sie umzubauen je nach unserem Geschmack… Wenn sich der menschliche Verstand zum Maßstab der Wahrheit aufschwingt, wird er schnell den Schöpfer durch einen begreifbaren Götzen, gemacht nach dem Bilde des Menschen, ersetzen.“

Ob nun Henry, Packer oder Schaeffer – und zu nennen wären hier auch Martyn Lloyd-Jones, Billy Graham und viele andere führende Köpfe der Neo-Evangelikalen der Nachkriegszeit: sie alle hielten bzw. halten an der Lehre der Irrtumslosigkeit der Bibel fest. Einige von ihnen waren beteiligt an der Formulierung der „Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit“ (The Chicago Statement on Biblical Inerrancy, 1978).

John Stott, der 2011 verstorbene, wohl einflussreichste Theologe der Evangelikalen, hielt den englischen Begriff „inerrancy“ für wenig glücklich; er war ihm zu negativ. Wichtiger sei die Anerkennung der vollen Autorität der Bibel und der konkrete Gehorsam (siehe sein Evangelical Truth). Letztlich stand er in der Sache aber in einer Reihe mit den anderen großen Evangelikalen.

Glaube an ein vom Himmel gefallenes Buch?

Sprachen Henry und Packer noch mit kritischem Respekt über den Fundamentalismus, so ist heute nichts, aber auch gar nichts Positives mehr zu hören. Definitionen gibt es nun zahlreiche, der Sprachgebrauch hat sich massiv gewandelt.

Beim letzten Kirchentag vertrat Theologieprofessor Ulrich Körtner aus Wien laut „idea“ die Ansicht, „dass christliche und islamische Fundamentalisten eine Gemeinsamkeit hätten. Sie verstünden ihre Heiligen Schriften – die Bibel bzw. den Koran – als unmittelbar von Gott gegeben.“

Hermann Barth, 2006 bis 2010 Präsident des Kirchenamts der EKD, skizzierte in „Wir“ (6/2008), der Zeitschrift des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, die „vor etwa anderthalb Jahrhunderten“ aufgekommene fundamentalistische Sicht der Bibel so: „Sie sei gleich einem vom Himmel gefallenen Buch, ohne Fehl und Tadel, über jede Kritik erhaben.“

Der evangelikale Journalist Andreas Malessa sagte vor einigen Jahren im ERF: „Islamisten, christliche Fundamentalisten und ultraorthodoxe Juden sind Drillinge in der Hermeneutik – also sind Brüder im Geiste, wie man an einen heiligen Text herangeht.“

Schließlich sei noch Jürgen Werth zitiert. Der damalige Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz sagte 2007 im Hessischen Rundfunk:

„Ich glaube, dass ich sagen kann – für unsere Bewegung [Evangelische Allianz], dass die Zahl derjenigen, die die Bibel Wort für Wort wörtlich nehmen – die sagen, jeder Buchstabe ist verbal von Gott inspiriert, und die Bibel ist sozusagen vom Himmel gefallen, dass der Kreis derjenigen nicht allzu groß ist.“

Dies war natürlich auf die Fundamentalisten gemünzt. Hat aber je ein fundamentalistischer Theologe von irgendwelcher Bedeutung die These vertreten, die Bibel sei „vom Himmel gefallen“, wie dies indirekt der Islam lehrt? Haben Packer, Schaeffer, Henry oder Lloyd-Jones an irgendeiner Stelle so etwas behauptet? Die historische christliche Position der göttlichen Autorenschaft (neben der menschlichen Autorenschaft!) der Bibel wird hier an die des Islam herangerückt, um sie auf solch unseriöse Weise wie im Vorbeigehen zu diskreditieren. Andreas Malessa hat aber, sonst immer zu scharfen Seitenhieben bereit, nicht den Mumm, die Großen der weltweiten evangelikalen Bewegung des 20. Jahrhunderts als „Brüder im Geiste“ der Islamisten zu zeihen – es wäre wenigstens konsequent.

Es zeugt von fahrlässiger Unkenntnis und Verachtung der eigenen Geschichte, wenn Evangelikale die Verbal- oder Ganzinspiration der Bibel einfach vom Tisch fegen.

Malessa und andere Zitierte sprechen in erster Linie nur für sich. Jürgen Werth war jedoch oberster Repräsentant einer breiten christlichen Bewegung. Wenn er alles wild durcheinander mischt und tatsächlich die Verbal- oder Ganzinspiration – das alte Erbe aller großen Kirchen – vom Tisch fegt, so zeugt dies nur von fahrlässiger Unkenntnis und Verachtung der Geschichte der eigenen Bewegung.

Der derzeitige Allianz-Vorsitzende Michael Diener ist zu klug, um solche Fehler zu begehen. Er bezeichnet den Fundamentalismus als eine „Lebens- und Sichtweise, die eben nicht differenziert, die die eigene Sicht von Glaube und Welt für göttlich inspiriert hält, die abweichende Meinungen nicht stehen lassen kann, sondern Vertreter solcher Lehren sehr schnell als Irrlehrer und ungläubig tituliert.“

Damit sind tatsächliche Gefahren richtig benannt, aber auch hier muss zurückgefragt werden: Welche konkreten Theologen halten denn „die eigene Sicht von Glaube und Welt für göttlich inspiriert“? Wohlgemerkt: nicht die Bibel, sondern die eigene Sicht. Wo sind Beispiele? Diese Gefahr besteht vielleicht am „charismatischen Rand“ der evangelikalen Bewegung, aber die hat Diener hier wohl nicht im Blick. Wenn er das Verschließen gegenüber Kritik meint, sollte Diener das so formulieren. Mit dieser Versuchung ringt aber jeder Theologe. Noch einmal: Wo sind die Theologen aus der „fundamentalistischen Schmuddelecke“ (Werth), die tatsächlich ihre eigene Lehre für „göttlich inspiriert“ halten?

Essentielle Teile der evangelikalen Bewegung

Ulrich Körtner äußerte beim Kirchentag die Sorge, dass es unter Christen zu einem „Traditionsabbruch“ gekommen ist. „Viele Bibelgeschichten seien inzwischen weitgehend unbekannt“ (idea 24/2015).

Die evangelikale Bewegung will weithin nichts mehr von ihren Wurzeln wissen.

Das ist wohl wahr. Mir scheint aber, dass es noch einen weiteren Traditions­abbruch gegeben hat: die evangelikale Bewegung will nichts mehr von ihren Wurzeln wissen, die in Teilen zumindest in der fundamentalistischen Bewegung Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts liegen. Natürlich zeigen sich hier auch Unterschiede zwischen Europa und Amerika, doch die Auseinandersetzung mit dem theolo­gischen Liberalismus und Moder­nismus verlief ja entlang ähnlicher Front­linien.

Der Funda­men­­talis­mus­be­griff ist für heutige Phänomene oft unbrauchbar geworden. Ich stimme mit Thomas Schirr­macher über­ein, der in seinem guten Über­blick Fundamentalismus – Wenn Religion zur Gefahr wird (Hänssler 2010) schreibt:

„Man sollte meines Erachtens [heute] nur von Fundamentalismus sprechen, wenn Gewalt im Spiel ist oder eine echte Gefahr für die innere Sicherheit besteht.“

Fundamentalismus ist für ihn nun „militanter Wahrheitsanspruch“. Das ist natürlich eine Definition, die Henry und Co. in keiner Weise trifft.

Problematisch ist nun aber, dass auch gerne alle Anhänger der Irr­tums­losigkeit, wie gemäßigt auch immer, als Fundamentalisten gescholten werden.

Der Konfessionskundler Erich Geldbach nannte Thomas Schirrmacher im Frühjahr 2015 einen „strengen Funda­men­talisten“, und das war nicht als Kompliment gemeint.

Schon 10 Jahre zuvor hatte Geldbach in „SMD transparent“ (3/2006) kritisiert, dass Menschen mit „fundamentalistischem Bibelverständnis“ – Anhänger der Irrtumslosigkeit – unter evangelikaler Flagge fahren.

„Ich habe den Eindruck, dass die Evangelikalen an dieser Stelle zu flexibel sind und Fundamentalisten kritiklos integrieren. Man weiß also bei dem Etikett ‘evangelikal’ nicht mehr wirklich, woran man ist. Diese Vermischung halte ich für gefährlich.“

Dass ein Bibelverständnis mit der Überzeugung von der Irrtumslosigkeit der Schrift zum Kern evangelikaler Identität gehörte, wird heute oft übersehen.

Diese Sätze sind wirklich ein starkes Stück. Historisch gesehen ist es natürlich richtig, dass die Fundamentalisten die Irrtums­losig­keit vertraten. Was Geldbach völlig übergeht, ist die Tatsache, dass die neo-evangelikale Bewegung (zumindest im früher zahlenmäßig bedeutendsten Raum, nämlich dem angelsächsischen) genau auf diesem Bibelverständnis als einem Kern seiner Identität ruhte. Christen, die sich in der Tradition von Henry, Schaeffer und Packer sehen, will Geldbach außerhalb der evangelikalen Bewegung sehen. Diese Ausgrenzung ist gefährlich.

Im Vorwort des Buchs Die Jesus-Revolution schreibt Michael Diener, dass die Autoren Tony Campolo und Shane Claiborne und ihr linksevangelikales Lager ein „essentieller Teil“ der evangelikalen Bewegung seien. Zwar sind manche Thesen im Buch geradezu haarsträubend, aber gemeint ist sicher das soziale Engagement, das eben tatsächlich schon immer die Evangelikalen auszeichnete, man denke an Carl Henrys Bemerkungen.

Warum hört man nun aber keine leitenden Evangelikalen in Deutschland, die öffentlich erklären, dass Christen mit einem Bibelverständnis, wie es Henry, Schaeffer und Packer hatten bzw. haben, essentieller Teil der evangelikalen Bewegung sind?

„Ein fundamentalistischer Lehrer hat geklagt…“

Die Geschichte der evangelikalen und fundamentalistischen Bewegung ist viel zu unbekannt.

Man mache mal an evangelikalen Ausbildungsstätten einen Test und frage die Studierenden, wer die Großen dieser Bewegung im 20. Jahrhundert waren? Der Name Billy Graham fiele vielleicht noch. Der eine oder andere wüsste mit John Stott etwas anzufangen. Womöglich hat auch jemand ein Buch von James I. Packer gelesen. Carl Henry, Martyn Lloyd-Jones und Francis Schaeffer, ganz zu schweigen von J. Gresham Machen, diese Namen erschienen sicher vielen wie Schall und Rauch.

Diese Un­kenn­tnis ist schlicht ein Skandal, und sie führt auch dazu, dass man Fundamentalisten – und wen man dafür hält – vorwerfen kann, was man immer man will.

Vom 8.–9. Mai 2015 traf sich die Theologie-Initiative von „Emergent Deutschland“ in Fulda. Thema der Tagung: „Fundamentalismus“.

Natürlich ging es da zur Sache: Fundamentalisten nähmen „Zuflucht zum metaphysischen Not­anker­­gott“. Alles klar. Funda­mentalismus sei „immer ein Versuch Gott zu domestizieren, Gott und den eigenen Glauben zum Gewinn von Sicherheit zu nutzen.“ Er strebe nach „fragloser Gewissheit“, wolle „Gott in den Griff bekommen“, und natürlich sei er „Götzendienst“.

Der Traditions­abbruch hat dazu geführt, dass selbst eigentlich kompetente Fachleute es nicht für nötig halten, die historischen Fakten über die Evangelikalen zu studieren und zu würdigen.

Der Traditionsabbruch hat dazu geführt, dass selbst eigentlich kompetente Fachleute es nicht für nötig halten, die historischen Fakten zu studieren und zu würdigen.

Abschließend noch ein konkretes, häufiger genanntes Beispiel: Peter Aschoff sprach auf der genannten Tagung zum Thema „Die Neubelebung des Fundamentalismus“ (Podcast #84). Darin machte der Theologe und Pastor aus Bayern, sicherlich einer der intellektuellen Vordenker der emergenten Bewegung in Deutschland, Ausführungen zum berühmten „Scopes-Prozess“ in den USA im Jahr 1925 – einem Schlüsselereignis in der Geschichte des Fundamentalismus. Es sei damals, so Aschoff, um die Frage gegangen, ob Evolution an den Schulen gelehrt werden dürfe. „Ein fundamentalistischer Lehrer hatte geklagt oder widersprochen. Der Gerichtshof hat entschieden: sie darf gelehrt werden.“ Damit habe sich der amerikanische Funda­mentalismus allmählich ins Ghetto begeben.

Leider ist nichts an dieser Darstellung richtig. Im sogenannten „Affenprozess“ in Dayton, Tennessee, wurde 1925 der Biologielehrer John T. Scopes angeklagt, weil er die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich gelehrt hatte. Es war also kein „fundamentalistischer Lehrer“, im Gegenteil. Sein Unterricht widersprach einem erst kurz zuvor im Bundesstaat in Kraft getretenem Gesetz.

Der Prozess wurde auch nicht von der evolutionskritischen, „fundamentalistischen“ Seite angestrengt, wie Peter Aschoff zu verstehen gibt und wie man sogar in Jürgen Moltmanns Buch Gott in der Schöpfung lesen kann.

Er war vielmehr eine bewusst herbeigerufene Inszenierung der Evolu­tions­befürworter und der „American Civil Liberties Union“ (der es auch hier weniger um Evolution, als allgemein um freie Rede, Lehre und Pluralismus ging). Ziel der ACLU war es, das Anti-Evolutionsgesetz im Staat Tennessee, das den Darwinismus aus den Schulen verbannte, zu kippen und die Evolutionsgegner bloßzustellen.

Die Anklage vertrat damals William Jennings Bryan, einer der bekanntesten Politiker der USA und dreimaliger Präsidentschaftskandidat der Demokraten, der seit 1920 gegen die Evolutionslehre kämpfte. Der Lehrer John Scopes, der im Prozess fast überhaupt keine Rolle spielte, wurde verteidigt von Clarence Darrow, damals einer der erfolgreichsten Anwälte im Land.

Der Prozess erregte für die damalige Zeit ungeheure mediale Aufmerksamkeit. Jeder Satz, jedes Wort, wurde in ganz Amerika bekannt. Dem mit allen Wassern gewaschenen Darrow gelang es, Bryan auszutricksen. Er lud diesen völlig überraschend in den Zeugenstand. Bryan stimmte zu. Fragen zur biblischen Urgeschichte sollten den christlichen Fundamentalismus, den auch der Presbyterianer Bryan repräsentierte, als rückständig und primitiv erweisen.

In der Kleinstadt Dayton ging Bryan als Sieger aus dieser Befragung hervor; ganz anders sah dies in den landesweiten Medien aus, was natürlich entscheidend und von Darrow auch so bezweckt war. Eine wichtige Rolle spielte dabei der sehr bekannte Journalist H.L. Mencken, der keinen Hehl aus seiner Abscheu des Fundamentalismus machte und übrigens jede Religion verachtete.

Trick Nummer zwei: Bryan konnte sein Abschlussplädoyer nicht mehr halten, da Darrow auf seines verzichtet hatte. Dies war ein wirklich geschickter Schachzug des Anwalts, denn Bryan hatte an der Rede und seinen Argumenten lange gefeilt. Sie sollte den Höhepunkt seines Plädoyers vor Gericht darstellen. Der Politiker William Jennings Bryan starb kurz nach dem Prozess, aber seine Rede ist uns erhalten, denn sie wurde bald als Bryan’s Last Speech veröffentlicht.

Der Gerichtshof entschied damals in Dayton keineswegs, dass der Darwinismus gelehrt werden dürfe. Scopes wurde verurteilt. Aber das Ansehen aller Fundamentalisten in den Medien war stark beschädigt. Was diesen Prozess angeht, kann man eindeutig feststellen: sie haben sich nicht „ins Ghetto begeben“, sondern sie wurden mit voller Absicht dort hinein gedrängt.

All diejenigen, die heute auf den historischen Fundamentalismus eindreschen, sollten einmal Bryan’s Last Speech studieren. Bryan ging darin auf die Protokolle des Leopold-Loeb-Prozesses ein. Ein Jahr zuvor hatte Darrow dabei die Jugendlichen Dicky Loeb und Nathan Leopold verteidigt, die einen äußerst grausamen und kaltblütigen Mord an einem 14-Jährigen begangen hatten. Er konnte beide mit einem sozialdarwinistischen Argument vor der sonst sicheren Todesstrafe retten: ein „ferner Vorfahre“ in der Kette der Evolution habe sie so gewalttätig werden lassen.

Der Text ist bis heute eine lesenswerte und fundierte Gesamtkritik der Evolution. Bryan argumentiert darin schlüssig und sauber, dass durch die Evolutionslehre die Grundlagen der Ethik und Moral und damit auch der Justiz zerstört werden.

Es ist höchste Zeit, die Geschichte der Evangelikalen von ihrem Staub zu befreien.

Es ist schon vielsagend und geradezu tragisch, dass Darrow, der kaltblütig den Sozialdar­winis­mus nutzte, vor dem Urteil der Nachwelt geradezu glänzend dasteht (im berühmten Film „Inherit the Wind“ verkörpert Spencer Tracey die Darrow-Figur als wahren Helden der Freiheit); und dass der moralisch integre Bryan trotz guter Argumente im Keller der Geschichte verschwand – als einer der ersten unverbesserlichen Kreationisten und Erz-Fundamentalisten.

Es ist höchste Zeit, die evangelikal-fundamentalistische Geschichte von ihrem Staub zu befreien.