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Kriterien für eine gute Bibelübersetzung

Nicht alle Bibelübersetzungen haben die gleiche Qualität. Dann aber muss man mit angemessenen Maßstäben auch entscheiden können, was eine bessere Übersetzung ist und wo die Übersetzung den Aussagen des Wortes Gottes schaden zufügen könnte, indem sie sie entstellt.

1. Das Dilemma des Übersetzers

„Wer wörtlich übersetzt, ist ein Fälscher, wer etwas hinzufügt, ist ein Gotteslästerer“ (Rabbi Jehuda).

Jeder Übersetzer steckt in einem Dilemma und muss entscheiden nach welchen Prinzipien er übersetzen soll.

  • frei oderwörtlich?
  • gleichwertig oder gleichförmig?
  • einbürgernd oderentfremdend?
  • empfängerorientiert oderurheberorientiert?

Wenn es um die das Wort Gottes geht, sind diese Fragen umso bedeutender. Soll man die Bibel so übersetzten, dass der Urheber des Ursprungstextes zu seinem Recht kommt, oder so, dass der Hörer des übersetzten Textes zu seinem Recht kommt? Oder anders gesagt: Soll der Leser zum Text kommen oder der Text zum Leser? muss der Bibeltext sich dem Leser anpassen, oder muss der Leser sich dem Bibeltext anpassen?

„Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott“ (Kol 3,3 – Luther;Elberfelder).

„Denn ihr seid dieser Welt gegenüber gestorben, und euer neues Leben ist ein Leben mit Christus in der Gegenwart Gottes. Jetzt ist dieses Leben den Blicken der Menschen verborgen“ (Kol 3,3 – Neue Genfer Übersetzung)

Welche dieser beiden Versionen von Kol 3,3 ist die bessere? Die erste, die wörtlich übersetzt hat, oder die zweite, der frei übersetzt hat?

Von den drei antiken Autoren Cicero, Horaz und Hieronymus stammen drei klassische Äußerungen zu diesem Problem. Jörn Albrecht, Ordinarius für Übersetzungswissenschaften in Heidelberg, fasst ihre Bedeutung zusammen:

„Die Beschäftigung mit den klassischen Stellen aus antiken bzw. spätantiken Autoren hat uns mit der ältesten Dichotomie der Übersetzungstheorie vertraut gemacht: dem Gegensatz zwischen ‚freiem‘ Übersetzen auf der einen und ‚wörtlichem‘ oder ‚treuem‘ Übersetzen auf der anderen Seite“1

Bis zum 20. Jahrhundert haben die Bibelübersetzungen immer den Ansprüchen des Autors des Bibeltextes den Vorrang gegeben, auch wenn es dabei graduelle Unterschiede gab. Man hat sich also möglichst eng an den vorgegebenen hebräischen und griechischen Text gehalten. Zwar hat Luther mehr auf die Sprache der Leser Rücksicht genommen als Tyndale, dennoch ist bei Luther immer noch ganz deutlich, dass er den Leser zum Text und nicht der Text zum Leser führt. Er hat „entfremdend“, nicht „einbürgernd“ übersetzt. Er übersetzte so, dass dem deutschen Leser klar wurde, dass er in der Bibel einer ihm fremden Welt begegnet.

Im 20. Jahrhundert ist unter Bibelübersetzern eine Wende eingetreten. Es hat sich unter den meisten Übersetzern die Meinung festgesetzt, man müsse „einbürgernd“ übersetzen, also so, dass der Bibeltext wie ein eingebürgerter Ausländer in unsere Zeit, Sprache und Kultur passt. Diese Zielsetzung ist nicht neu; es hat schon lange Übersetzungen aus der Weltliteratur gegeben,  die mehr auf den Geschmack der Leser ausgerichtet waren als auf den Urtext, schon in antiker Zeit und vor allem in der Neuzeit. Es war sogar die vorherrschende Übersetzungstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa.

Ein aktuelles Beispiel: Raoul Schrott und seine Ilias-Übersetzung

2008 erschien im Hanser Verlag eine neue Übertragung der Ilias von Raoul Schrott.2 Dessen erklärtes Ziel ist es, nicht philologisch, sondern wirkungsmächtig zu übersetzten. Schrott fragt nach der Wirkung, die der Vortrag der Ilias im alten Griechenland hatte, nach dem ästhetischen Genuss, den er schuf. Diese Wirkung muss der Text auch heute für den Leser haben, d.h. er muss  der Verfasstheit des Publikums angepasst werden.

„Es gibt zwei komplementäre Gattungen der Übersetzungstechniken … Da ist einmal die philologische. Die fragt: ‚Was war der Gedankengang des Autors?‘ Die andere Gattung fragt nach der Wirkungsmächtigkeit: ‚Wie funktioniert ein Text für sein Publikum?‘ Der Text ist ja eine musikalische Inszenierung von Sprache, von Form. Ich will die Ilias so präsentieren, dass sie auch in einer heutigen deutschen Übersetzung zu einem solchen Genuss, zu einer musikalischen, ästhetischen Inszenierung wird“. (Schrott an einem Leseabend zu seiner Übersetzung)

Zwei Gegenstimmen

Katharina Reiß, die Mitbegründerin der Übersetzungswissenschaft im deutschsprachigen Raum, wendet sich gegen die Meinung, alte Werke müssten sprachlich stets der Gegenwart angepasst werden:

„Bei der Übersetzung älterer Texte sollte die Wahl der Worte … morphologischer und syntaktischer Elemente, die Entscheidung für bestimmte stilistische Figuren usw. sich möglichst eng an den Sprachgebrauch des Ausgangstextes halten. … Ein Text aus dem 18. Jahrhundert darf grundsätzlich in der Übersetzung nicht so aussehen wie ein übersetzter Text aus dem 20. Jahrhundert, auch wenn der Übersetzer ein Mensch des 20.Jahrhunderts ist“.3

Jörn Albrecht meint dazu: „Das klingt zwar etwas apodiktisch; ich würde dem Grundgehalt dieser Aussage dennoch zustimmen“.4

„Die Ausrufe sind dicht, die Grammatik ist schwierig, fast unzusammenhängend. Übersetzer, die alles glätten, verderben die Kunst.“ So urteilt der Ausleger Francis I. Anderson in seinem Hiob-Kommentar.5

2. Ein Blick in die Geschichte des Übersetzens

a. Antike

Die Septuaginta, die im 2. vorchristlichen Jahrhundert in Alexandrien (Ägypten) entstand, war eine wortgetreue Übersetzung, die sich so eng an die hebräische Vorlage hielt, dass mit ihr das typische „Septuaginta-Griechisch“ entstand.

Hieronymus (347-420 n.Chr.) übersetzte die ganze Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen ins Lateinische. Sein Werk, die Vulgata, war eine wortgetreue Übersetzung.

b. Neuzeit

Jörn Albrecht zeigt im bereits erwähnten Buch, wie man sich in Frankreich, in England, in Spanien und in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert sehr bemühte, Homer, Aischylos und Sophokles so in die eigene Sprache umzusetzen, dass sie dem Franzosen, Engländer etc. nicht zu fremd vorkamen.6 Um das zu erreichen, übersetzten sie dynamisch-äquivalent. Man nennt diese Übersetzungen Les belles infidèles – die schönen Untreuen. Man beachte, dass man das nicht bei Bibelübersetzungen tat, sondern nur bei profanen Texten.

Namentlich in Deutschland begann man im ausgehenden 18. Jahrhundert die gleichen antiken Texte anders zu übersetzen, nämlich philologischer und damit auch „entfremdend“, wie Schleiermacher das nannte und auch forderte. Man solle und dürfe dem Deutschen zutrauen, dass er Fremdes verstehen könne, und zudem solle und könne er etwas von den fremden Autoren lernen.

c. Reformationszeit und danach

Wie die Übersetzer der Septuaginta und wie Hieronymus übersetzten die Re- formatoren wortgetreu.

Martin Luther

Luther übersetzte im großen Ganzen „entfremdend“, nicht „einbürgernd“. Trotzdem wird Luther von den Vertretern der freien Übersetzungen als Gewährsmann für ihre Methoden zitiert:

„Man muss den Leuten aufs Maul schauen. So hat Martin Luther seinerzeit anschaulich beschrieben, wie er bei seiner Bibelübersetzung vorging. Bis heute ist sein Motto für jede gute Übersetzung wegweisend geblieben. Eine gelungene Übersetzung soll nicht nur die Botschaft des Originaltextes genau wiedergeben, sie muss auch verständlich sein, natürlich und lebendig klingen – so wie wir uns in unserer Sprache ausdrücken. Kurzum: Sie soll auf ihre Leser möglichst die gleiche Wirkung haben wie sie das Original auf die damaligen Leser hatte“ (Aus dem Vorwort zur „Hoffnung für alle“).

Die Hfa („Hoffnung für alle“) stellt also drei Forderungen an eine „gelungene Übersetzung“:

  1. Sie muss verständlich
  2. Sie muss sich ausdrücken wie wir es in unserer Sprache
  3. Sie muss die gleiche Wirkung beim heutigen Leser haben, wie das Original auf seine

Woher diese drei Forderungen in genau der angegebenen Reihenfolge kommen, werden wir etwas weiter unten sehen.

Schauen wir uns nun Luthers berühmten Sendbrief vom Dolmetschen etwas näher an. Er zeigt uns, wie der Reformator mit dem Dilemma eines jeden Übersetzers Rang. Wie sollte er übersetzen?

„Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden… sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so verstehen sie denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“

„Ich habe mich dessen beflissen im Dolmetschen, dass ich reines und klares Deutsch geben möchte. Uns ist oft begegnet, dass wir vierzehn Tage, drei, vier Wochen ein einziges Wort gesucht und gefragte haben, haben’s dennoch zuweilen nicht gefunden. In Hiob arbeiteten wir also, M. Philippus, Aurogallus und ich, dass wir in vier Tagen zuweilen kaum drei Zeilen fertigen konnten.“

„Ich wollte ungern einen Buchstaben mutwilliglich unrecht verdolmetschen.“

Luther schaut den Leuten aufs Maul, um einzelne griechische Begriffe oder Wendungen gut deutsch zu treffen. Das ist nicht das, was die Hoffnung für Alle anstrebt. Die will Aussagen so formulieren, dass sie bei den deutschen Lesern die gleiche Wirkung haben wie bei den ursprünglichen Lesern.

Nehmen wir als Beispiel Röm 3,28: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch denGlauben“.

Für diese Übersetzung wurde Luther von seinen Gegnern angegriffen; im Urtext stehe das Wort „allein“ nicht. Seine Rechtfertigung lautete:

„Ich habe hier Röm 3,28 sehr wohl gewusst, dass im lateinischen und griechischen Text das Wort solum (allein) nicht steht… Denn ich habe deutsch, nicht lateinisch noch griechisch reden wollen… Das ist die Art unserer deutschen Sprache: Wenn sich eine Rede begibt von zwei Dingen, deren man eines bekennt und das andere verneint, so braucht man des Wortes ‚allein‘ neben dem Wort ‚nicht‘ oder ‚kein‘. Als wenn man sagt: ‚Der Bauer bringt allein Korn und kein Geld. Nein, ich habe wahrlich jetzt nicht Geld, sondern allein Korn… ‘ Und dergleichen unzählige Weise im täglichen Gebrauch.“

Ja, Luther will „die Meinung des Textes“, d.h. den Sinn recht wiedergeben. Hier hat er einbürgernd übersetzt. Aber das hat er bei weitem nicht immer getan, und wenn er es tat, dann tat er es mit Zurückhaltung, mit heiliger Scheu („Ich wollte ungern einen Buchstaben mutwilliglich unrecht verdolmetschen.“). Vergleichen wir die im Sendbrief diskutierte Stelle aus dem Römerbrief einmal mit „Hoffnung für alle“ (Hfa):

Luther: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm3,28).

Hfa: „Also steht fest: Nicht wegen meiner guten Taten, die ich Gott vorweise, werde ich von meiner Schuld freigesprochen. Gott spricht mich erst dann frei, wenn ich mein Vertrauen allein auf Jesus Christussetze.“

Jetzt urteile der Leser selbst: Hält sich Hfa wirklich an das Vorbild Luthers, wie ihre Herausgeber von sich sagen?

William Tyndale (1494-1536)

Tyndale war Zeitgenosse Luthers, der sich in seiner Übersetzungsarbeit stark von Luther inspirieren ließ.7 Die erst fast 80 Jahre nach seinem Tod herausgegebene King James Bibel (1611) war zu 80% Tyndale. Er sagte:

„Ich bezeuge mit Blick auf jenen Tag, an dem wir vor dem Richterstuhl Christi erscheinen werden, um von unseren Taten Rechenschaft abzulegen, dass ich niemals auch nur eine Silbe des Wortes Gottes gegen Wissen und Gewissen verändert habe.“

Wir können folgende vier Merkmale der reformatorischen Übersetzungen nennen:

  • Wort für Wort: d.h. für ein griechisches Wort ein äquivalentes deutsches Wort
  • Begriff für Begriff
  • Idiom für Idiom: Manchmal ist das Idiom Wort für Wort, manchmal ist es durch ein deutsches ersetzt;8 nicht hingegen Sinn für Sinn oder Verständnis für Verständnis.
  • Urheberorientiert, nicht Empfängerorientiert.
  • Primär für das Volk Gottes, nicht für die Welt

William Carey (1761-1834)

William Carey übersetzte die ganze Bibel in die nordindischen Hauptsprachen Bengali, Hindi, Oriya, Marathi und Sanskrit, dazu das NT in eine ganze Reihe anderer Sprachen. Er folgte dem Vorbild der Reformatoren.

„Gewiß, es fanden sich darin unpolierte Wendungen, welche aber, wie Professor H. H. Wilson von Oxford feststellt, auf Careys enge Bindung  an den Urtext beruhen. Eng am griechischen und hebräischen Vorbild zu bleiben, war ihm Ehrensache, wie das in vergangenen Jahrhunderten stets der Fall gewesen war. Tyndale, der Bibelübersetzer und Märtyrer der Reformationszeit, sagte: Ich berufe mich auf Gott als Zeugen auf den Tag, da wir vor dem Richterstuhl Christi erscheinen müssen, daß ich nicht eine einzige Silbe an Gottes Wort gegen mein Gewissen geändert habe.“9

d. Das 20.Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert setzte sich eine Übersetzungstheorie durch, die gründlich mit der Tradition der bisherigen Übersetzungen brach. Eugene A. Nida und The Summer Institute of Linguistics sind die beiden Namen, die für diesen Umbruch stehen.

Eugene A. Nida, 1914 in Nordamerika geboren und 2011 in Madrid gestorben, promovierte an der Universität Michigan in Linguistik. 1943 wurde er Direktor der Übersetzungsabteilung der amerikanischen Bibelgesellschaft. Während vieler Jahre leitete er das Summer Institute of Linguistics, an dem die Wycliffe-Bibelübersetzer ausgebildet werden. Er entwickelte eine Theorie des Übersetzens, die sich grundlegend unterschied von den Ansichten, die frühere Übersetzer geleitet hatten.

Verständlichkeit als oberstes Prinzip

Nida macht Verständlichkeit zum alleinherrschenden Prinzip seiner Übersetzungstheorie und Übersetzungsarbeit. Die Hauptsache sei, dass man verstanden werde; darum müssen schwer verständliche Aussagen vereinfacht und mögliche Mehrdeutigkeiten vermieden werden. Das ist sehr pragmatisch und natürlich sehr amerikanisch; und amerikanischer Pragmatismus ist an gegebener Stelle nützlich, wenn er aber zur Alleinherrschaft kommt, wird er unerträglich.

Dass Nida von der Tradition bisheriger Bibelübersetzer abrückte, war ihm bewusst. Entsprechend steht als Überschrift über dem ersten Kapitel seiner grundlegenden Schrift „Theorie und Praxis des Übersetzens“: Eine neue Auffassung vom Übersetzen. Es finden sich dort u.a. folgende Sätze:

„Das Interesse hat sich heute verlagert, und zwar von der Form der Botschaft zur Reaktion des Empfängers auf die Botschaft.“

„Auch die bisherige Frage: ‚Ist das eine gute Übersetzung?‘ muß mit der Rückfrage beantwortet werden: ‚Gut für wen?‘“

„Wir geben uns nicht damit zufrieden, lediglich so zu übersetzen, daß der Durchschnittsleser die Botschaft versteht, sondern wir wollen sicherstellen, daß die Möglichkeit des Mißverstehens weitestgehend ausgeschaltet ist.“10

Natürlich ist es wichtig, dass die Botschaft verstanden wird, und es ist sicher die Aufgabe der Übersetzer, so zu übersetzen, dass das Verständnis nicht verbaut wird. Aber zu behaupten, Unverständliches oder nur Schwerverständliches dürfe nicht sein, ist einfach Unfug. Die Bibel ist an manchen Stellen dunkel, und zwar bewusst so (siehe Spr 1,5.6). Unser Herr redete in Gleichnissen, damit ihn gerade nicht alle verständen (Mt 13,13). Aufgabe des Übersetzers ist es nicht, das Dunkle und das Schwierige und Mehrdeutige im Urtext glatt, eingängig und eindeutig zu machen. Seine Aufgabe ist es, die Ursprache wortgetreu in die neue Sprache zu übersetzen.

Im Interesse der Verständlichkeit ist gemäß Nida das Ziel der Übersetzung „Gleichwertigkeit, nicht Gleichheit“, mit einem Fremdwort: Äquivalenz soll angestrebt werden, nicht Gleichheit. Man muss eine dynamisch-äquivalente Übersetzung herstellen, nicht eine möglichst wörtliche. Dynamisch meint, sie müsse in der Form sich frei dem Verständnis des Lesers anpassen; Hauptsache sei, dass der der Sinn gleichwertig übertragen werde. Nida: „Dynamische Gleichwertigkeit ist wichtiger als formale Übereinstimmung.“

Man kann die Unterschiede zwischen den traditionellen und neuen Überset- zungen wie folgt zusammenfassen:

  • traditionell: Man ging von einem Text aus und versuchte diesen Text in einer neuen Sprache zu formulieren. Man übersetzte Wort für Wort und Satz für Satz.
    • Neu: Man ging von einem Text aus und versuchte zu erfassen, wie die ursprünglichen Hörer ihn verstanden und nahm sich vor, ihn so umzuschreiben, dass die heutigen Hörer ihn gleich verstanden. Man übersetzte nicht mehr Wort für Wort, sondern Sinn für Sinn.
  • traditionell: Luther schaute den Leuten aufs Maul.
    • Neu: Nida will den Leuten ins Verstehen
  • traditionell: die Übersetzung war urheberorientiert.
    • Neu: die Übersetzung ist empfängerorientiert.
  • traditionell: die Übersetzung war textorientiert.
    • Neu: die Übersetzung ist leserorientiert.
  • traditionell: Man übersetzte für das Volk Gottes.
    • Neu: Man übersetzte für die ungläubige Welt.

Hieronymus, Luther, Tyndale, Zwingli

Die gute Nachricht; Hoffnung für Alle; NGÜ; NeÜ

ursprünglicher Text zu anderssprachigem Text

ursprüngliches Verstehen zu anders- sprachigem Verstehen

Wort für Wort, Satz um Satz

Sinn für Sinn

den Leuten aufs Maul schauen

den Leuten ins Verstehen schauen

urheberorientiert

empfängerorientiert

Textorientiert

leserorientiert

für das Volk Gottes

für die Außenstehenden

Betrachten wir das jeweilige Ergebnis dieser Grundhaltungen an dem Schlüsselvers für das Bibelverständnis 2.Tim 3,16:

„Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt“ (Luther).

Man kann diesen Text griechisch-deutsch interlinear darstellen und dabei erkennen, dass Luther Wort für Wort dem Urtext entlang geht und nur dort von der Reihenfolge der Wörter weicht oder ein Wort einfügt, wo es die Regeln der deutschen Syntaxfordern:

Dynamisch-äquivalente Übersetzungen sind doppelt so wortreich und springen mit den Begriffen der griechischen Vorlage sehr großzügig um:

„Die ganze Schrift ist von Gottes Geist gegeben und von ihm erfüllt. Ihr Nutzen ist entsprechend: Sie lehrt uns, die Wahrheit zu erkennen, überführt uns von Sünde, bringt uns auf den richtigen Weg und erzieht uns zu einem Leben, wie es Gott gefällt. Mit der Schrift ist der Mensch, der Gott gehört und ihm dient, allen seinen Aufgaben gewachsen und zu jedem guten Werk gerüstet“ (Neue Evangelistische Übersetzung; NeÜ).

„Denn die ganze Heilige Schrift ist von Gottes Geist eingegeben. Sie lehrt uns, die Wahrheit zu erkennen, unsere Schuld einzusehen, uns von Grund auf zu ändern und so zu leben, dass wir vor Gott bestehen können. Sein Wort zeigt uns, wie wir als veränderte Menschen fähig werden, in jeder Beziehung Gutes zu tun“(Hfa).

3. Das Anziehende an der empfängerorientierten Übersetzung

a. Die Bibel wird verstanden

Nidas Theorie ist auf die Praxis des Übersetzens in der realen Missionssituation bezogen. Die Botschaft der Bibel soll gehört und geglaubt werden. Damit sie gehört und geglaubt werde, muss sich auch verstanden werden. Das leuchtet ein. Aber: Wenn wir die Verständlichkeit zum obersten Zweck machen, dann werden wir ihm andere Erwägungen opfern müssen.

Ein Beispiel: Ein Inselvolk hat noch nie ein Lamm gesehen und noch nie etwas von einem Lamm gehört. Es versteht die Aussage: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“ nicht. Also übersetze man so, dass es versteht: „Siehe, das Robbenjunge Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.“ Wird dieses Beispiel an einem Missionsabend einer Freikirche von einem Bibelübersetzer erzählt, bewundern die Anwesenden wahrscheinlich die Weisheit der Übersetzer, und alle langen sich an den Kopf und fragen sich, wie sie bis dato nur so befangen sein konnten zu glauben, die formale Übereinstimmung beim Übersetzen sei so wichtig.

Ist Verständlichkeit tatsächlich jener Zweck, der alle anderen Erwägungen verdrängen darf und muss, dann hat der Übersetzer gute Arbeit geleistet. Was ist aber, wenn unmittelbare Verständlichkeit nicht das Ziel der biblischen Mitteilungen sein sollte? Was ist, wenn noch weiter entfernt und höher liegende Ziele in der Absicht des Urhebers der Botschaft liegen sollten? Es könnte ja immerhin sein, dass der Autor der Bibel auch zeitlich ein wenig weiter blickt als wir aus der Froschperspektive.

Schauen wir uns einmal einige Auswirkungen dieses schnell gewonnen Erfolges beim Vermitteln der biblischen Botschaft an. Was ist, wenn dieses Inselvolk, nachdem es einige Jahre lang mit dem Neuen Testament vertraut gemacht worden ist, das Alte Testament kennenlernt. Wir gehen mit Abraham auf den Berg Moria. Im Dickicht sieht er ein Robbenjunges, das er an Stelle seinen Sohnes Isaak opfern darf. Und Israel in Ägypten opfert in der ersten Passahnacht unzählige Robbenjungen. Wir merken: Wir dürfen nicht unbesehen biblische Begriffe oder Realien, die uns fremd sind, durch vertrautere ersetzen.11 Die Bibel ist ein Buch, das tatsächlich eine zusammenhängende Struktur ist. Man kann nicht einen Teil aus dem ganzen verschieben und meinen, es hätte nicht Auswirkungen auf den ganzen Rest. So bietet die Sache mit dem Robbenjungen, die zunächst so genial schien, ein einfache Illustration einer sehr wichtigen Wahrheit: Unmittelbare Verständlichkeit ist nicht erste und oberste Absicht der biblischen Botschaft. Das sollten wir nie vergessen.

„Literatur ist jeder zusammenhängende Text, der seiner Natur und Intention nach öffentlich und nicht unmittelbaren Gebrauchszwecken zubestimmt ist“12

Literatur ist also nicht zu unmittelbaren Gebrauchszwecken bestimmt; sie verfolgt nicht allein einen praktischen Zweck, sondern sie will durch ihre wohlgeformte, verdichtete Gestalt allgemeingültig und bleibend gültig sein. Es braucht Zeit, es braucht Muße, es braucht Geduld, um Literatur verstehen und würdigen zu können.

b. Die biblische Botschaft als Diskurs, als aktuelle Mitteilung

Die Theorie Nidas berücksichtigt die Bibel nur als Botschaft, die von einem Sender ausgeht und vom Empfänger verstanden werden muss. Nida beurteilt die Bibel ausschließlich auf ihren kommunikativen Wert. Die Bibel soll kommunizieren; man nennt die entsprechenden Übersetzungen daher auch kommunikative Übersetzungen. Sie lesen sich leicht; man erfasst den Sinn des Geschriebenen schnell; man kann erzählenden Texten mühelos folgen. Sie erleichtern den unmittelbaren Zugang zur Bibel. Darum werden etwa die Hfa, die NeÜ, die Gute Nachricht als Einsteigerbibeln angepriesen. In Wirklichkeit sind sie aber zur Lesebibel sehr vieler Christen geworden; in den Freikirchen hat die Hfa weitgehend die klassischen Übersetzungen – Luther, Zürcher, Schlachter, Elberfelder – verdrängt.

Nida sieht die Bibel vornehmlich als Diskurs, als aktuelle Mitteilung, die immer einen Anlass, einen Kontext und einen Empfänger hat.13 Auch damit trifft er eine wichtige Absicht der biblischen Botschaft. Sie spricht ins Leben. Aber: Wäre bei der Bibel nur die aktuell vollzogene Mitteilung, die Kommunikation in Echtzeit das Entscheidende, dann fragen wir uns, warum Gott als Mittel die Schrift gewählt hat. Die Tatsache der Verschriftung des Wortes Gottes sagt schon an sich, dass etwas mehr als nur die eben verlaufende Kommunikation von einem Sprecher zu seinen Zuhörern die Hauptrolle spielen muss. Warum spricht Gott nicht täglich und fortlaufend durch direkte Inspiration? Wäre Aktualität und unmittelbare Situationsbezogenheit der Hauptzweck, dann müsste Gott so und nicht anders reden.

Der Nutzen der empfängerorientierten Übersetzungen ist nur begrenzt, aber der Schaden, den sie anrichten, ist groß. Man erfasst den Sinn des Geschriebenen schnell; aber entspricht das Übersetzte dem ursprünglichen Bibeltext? Man findet den Zugang zur Bibel, aber findet man auch den Inhalt der Bibel?

4. Sieben fatale Mängel der empfängerorientierten Übersetzung

1. Die zugrunde liegende Theorie isteinseitig

Die Sichtweise der dynamisch-äquivalenten Übersetzung gehörte in Europa jeweils in die frühe Phase der Übersetzertätigkeit, wie wir oben gesehen haben. Diese Theorie gehörte zu einer bestimmten geistesgeschichtlichen Epoche. Sie war schon immer eine Theorie neben anderen, aber so zu tun, als ob dies die einzige Art sei, in der vernünftige Menschen je übersetzt haben und daher auch heute übersetzen sollen, ist einfach anmaßend und damit auch nicht besonders vernünftig. Ich verstehe den Nepalmissionar David W. Cloud sehr gut, dass er die Übersetzungstheorie der dynamischen Äquivalenz eine „überhebliche Theorie“ („a proud theory“) nennt.

  1. Das Interesse der Anthropologen und des Missionars ist nicht das ein- zige, das beim Übersetzen der Bibel befragt werden muß; es ist nicht ein- mal dasHauptsächliche.
  2. Wird das Anliegen der Verständlichkeit, also die „Einbürgerung“ zum alles beherrschenden Prinzip, werden wir zwangsläufig am Ausgangstext Verrat übenmüssen.

Man beruft sich beim Einbürgern teilweise zu Recht auf Luther, aber häufiger zu Unrecht. Man darf Luther nicht zum Gewährsmann für alles machen, was Nida und seine Schule getan hat und noch tut. Es stimmt zwar, dass Luther zuweilen die „Einbürgerung“ der  „Verfremdung“ vorzog.14 Er hat das in seinem Rechtfertigungsschreiben „Vom Dolmetschen“ deutlich genug gesagt. Aber – und dieses Aber muss stark betont werden –, er hat die Einbürgerung nicht konsequent betrieben; er hat meistens aus Treue gegenüber dem Original „entfremdend“ übersetzt, also so, dass die Sache sprachlich und inhaltlich dem deutschen Leser gar nicht vertraut vorkam.15

So lernen wir an Luther, dass das Übersetzen nicht nur eine Frage der leitenden Theorie ist, sondern auch des Maßes. Luther hat behutsam und sehr maßvoll einbürgernd übersetzt.

2. Der Übersetzer mutet sich Übermenschliches zu

Traut sich der Übersetzer zu, den von Gott beabsichtigen Sinn vermöge seiner geschickten Übersetzung dem unbedarften Leser zu vermitteln, dann maßt er sich etwas an, dass Gott allein vermag. Verstehen ist ein ungeheuer komplexes Geschehen. Es sind nicht nur die geschriebenen Worte, die Verstehen und Verständnis erzeugen, sondern auch die Umstände, in denen man sich gerade findet, die Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat, in denen die im Text gebrauchten Worte eine Rolle gespielt haben usw. Wie soll ein Übersetzer das alles erfassen können und mit seiner Übertragung die Macht haben, das exakt zu treffen? Gott allein hat diese Macht. Gottes Geist kennt den Leser, kennt seine Vergangenheit und seine Gegenwart, sein Herz und sein Begehren. Gottes Geist kann dem Leser das Verständnis der Schrift so öffnen, dass er beim Lesen versteht, was er verstehen soll.

Luther, auf den sich die Vertreter der leserorientierten Übersetzung berufen, sagt zu diesem Sachverhalt im dritten Artikel des Kleinen Katechismus:

„Ich glaube an den Heiligen Geist… Ich glaube, dass ich nicht aus eige- ner Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder  zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt underhalten.“

Das entspricht der neutestamentlichen Lehre vom Werk und Wirken des Heiligen Geistes (Joh 16,8-14; 1.Kor 2).

3. Das Verständnis des Übersetzers schlägt zu stark durch

Jeder Übersetzer muss ein Stück weit interpretieren, auch wenn er bestrebt ist, sich möglichst eng ans Original zu halten.

„Jede Übersetzung ist nolens volens eine Auslegung, eine Auslegung mit anderen Mitteln. Konsequent einbürgernde Übersetzungen treffen eine sehr einseitige, zeitbedingte Auswahl aus dem Sinnpotential des Originals und sind somit  einem besonders schnellen Alterungsprozess unterworfen… Für den deutschen Leser leistet der Übersetzer – nolens volens, das kann nicht oft genug wiederholt werden – zumindest einen Teil der Arbeit des Kommentators in der Übersetzung selbst“.16

Verglichen mit der Elberfelder Übersetzung ist die Luther-Übersetzung insgesamt stärker interpretierend, d.h. Martin Luther hielt sich meist, aber nicht immerstrikt an den griechischen Wortlaut. Nehmen wir als bekanntes Beispiel Röm 1,17:

„Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte aber wird aus Glauben leben“ (Elberfelder).

„Sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht: Der Gerechte wird seines Glaubens leben“ (Luther).

Die Elberfelder Übersetzung hält sich treu an die grammatikalische Form der griechischen Vorlage und übersetzt dikaiosu,nh qeou/ mit: „Gerechtigkeit Gottes“, das die beiden Möglichkeiten offenlässt, den Genetiv als einen subjektiven oder objektiven aufzufassen. Martin Luther hat sich entsprechend seinem Verständnis (die auf seiner persönlichen Erfahrung mit gerade diesem Vers beruht) in der Übersetzung dahingehend festgelegt, es müsse ein objektiver Genetiv sein. Denn es handele sich um jene Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Vielleicht hat er Recht, aber nur vielleicht. Darum ist hier die Elberfelder Übersetzung vorzuziehen. Sie lässt dem Geist Gottes die Tür offen, den Leser persönlich anzusprechen und zuüberzeugen.

Joh 6,29 übersetzt Luther:

„Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“ (Luther)

Hier übersetzt er die griechische Genetivverbindung direkt ins Deutsche. Damit lässt er beide Möglichkeiten offen, wie es der Urtext tut: „Werk Gottes“ kann als genetivus subjektivus aufgefasst werden mit der Bedeutung: „das Werk, das Gott tut“; es kann auch als genetivus objektivus verstanden werden mit der Bedeutung: „das Werk, das Gott verlangt“. Hfa überträgt die Aussage im anthropozentrischen Sinn: „Nur eins erwartet Gott von euch: Ihr sollt an den glauben, den er gesandt hat.“ Aus dem Werk, das Gott wirkt (Glauben), wird eine Forderung, die der Mensch erfüllen soll.

Genau so überträgt Gute Nachricht: „Gott verlangt nur eins von euch

Hat nun der Übersetzer, wie Nida will, von vornherein die Absicht, den Sinn des Originals zu vermitteln, und zwar so, dass sich beim Leser das gleiche Verständnis einstellt, muss er bewusst interpretieren. Zunächst baut er bewusst auf seiner eigenen Interpretation auf, und dann müht er sich, den Bibeltext in der Zielsprache eben das sagen zu lassen. Interpretieren, Auslegen wird zum unveräußerlichen Bestandteil seiner Übersetzungsarbeit. Schauen wir uns den einleitend zitierten Vers Kol 3,3 in einer wörtlichen und einer dynamisch-äquivalenten Version an:

„Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott“ (Kol 3,3 – Luther; Elberfelder).

„Denn ihr seid dieser Welt gegenüber gestorben, und euer neues Leben ist ein Leben mit Christus in der Gegenwart Gottes. Jetzt ist dieses Leben den Blicken der Menschen verborgen“ (Kol 3,3 –NGÜ)

NGÜ interpretiert das urtextliche „ihr seid gestorben“ als „ihr seid dieser Welt gestorben“. Nun könnte aber auch gemeint sein „der Sünde gestorben“ (Röm 6,2), oder „dem Gesetz gestorben“ (Gal 2,19). Paulus hat es offen gelassen; und das müsste die Übersetzung auch tun.

Was muss man tun, um immer verstanden zu werden? Man muss zwei Dinge tun: vereinfachen und erklären. Das ist eine gute Sache; es ist richtig, dass wir schwierige Sachverhalte in einfache Form bringen, damit sie besser verstanden werden, und es ist richtig, dass wir erklären, was man ohne Erklärung nicht verstünde. Aber – und dieses Aber ist von großer Tragweite:

Das zu tun ist nicht die Aufgabe der Bibelübersetzung.

Das zu tun ist die Aufgabe der Prediger, der Bibellehrer, der Evangelisten, der Hauskreisleiter und der Bibelkommentare. Die Aufgabe des Übersetzers ist es, so zu übersetzten, dass nichts von der Substanz verloren geht; also genau zu übersetzen, auch wenn die Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten bleiben; Befremdendes so zu belassen, dass es dem Deutschen fremd ist; Anstöße, die im Text liegen, nicht aus dem Weg zu räumen.

Eine solche Übersetzung war die erste Bibelübersetzung, die Septuaginta. Es war nicht die Aufgabe der Christen, die schon zweihundert Jahre alte Übersetzung neu zu übertragen, damit alle Härten und Schwierigkeiten, alle Mehrdeutigkeiten und schwer verstehbaren Ausdrücke ausgemerzt würden. Sie haben nie daran gedacht, die Septuaginta mit ihrem typischen Septuagintagriechisch zu einer dynamisch äquivalenten Version in fließendem Idiom umzumodeln. Haben sie damit etwas unterlassen, was sie hätten tun sollen? Die ersten Christen haben das offensichtlich nicht empfunden; sie haben die alte alexandrinische Bibelübersetzung nicht modernisiert, geglättet und von allen Unzumutbarkeiten für Griechen und Römer befreit. Sie haben gesehen, dass das nicht die Aufgabe einer Bibelübersetzung sein kann. Diese soll gar nicht möglichst dynamisch, sondern sie soll möglichst wörtlich sein.

Unmittelbare Verständlichkeit ist nicht immer das von den biblischen Autoren angestrebte Ziel. Dass der Leser verstehe, ist nicht die überall alle anderen Erwägungen der biblischen Autoren verdrängende Absicht. Mehr- und Schwerdeutigkeit wird in Kauf genommen, weil es offenkundig Absichten geben muss, die vorrangiger sind als Verständlichkeit.

Dass die Apostel nicht „dynamisch äquivalent“ übersetzt haben, beweisen alle ihre Schriften, die wir im Neuen Testament haben. Sie haben unzählige Male das Alte Testament zitiert, meistens wie es die LXX bot. Manchmal verweisen sie sogar auf einzelne Wörter des griechischen und hebräischen Textes, um damit eine wichtige Wahrheit zu belegen (Gal 3,16). Die Apostel konnten dabei die Septuaginta zitieren, weil sie eben genau genug war. Auch wenn der Herr in den Evangelien aus der Heiligen Schrift zitiert, finden wir im Urtext Septuagintazitate (Mt 4), weil sie treu und wörtlich übersetzt waren. Der Herr hält in diesem Abschnitt dem Teufel nicht eine dynamisch äquivalente Umschreibung der hebräischen Verse aus dem 5. Mosebuch entgegen, sondern eine wortgetreue Übersetzung. Das Gleiche lesen wir auch, wenn er mit den Juden oder mit den Jüngern redete (Mt 13,14.15; Joh 10,34).

4. Die Wahrheit der Verbalinspiration wirdverhüllt

Da der Übersetzer nicht Wort für Wort, sondern Gedanke für Gedanke oder Sinn für Sinn wiedergeben will, muss er sich nicht an der Wortwahl des Originals orientieren. Er produziert deshalb eine Übersetzung, die den Leser vergessen lassen kann, dass der ursprüngliche Bibeltext verbal, also Wort für Wort, inspiriert ist.

5. Man kann keine theologischen Begriffe erfassen und studieren

Ein Text, der frei übertragen ist, hat fast zwangsläufig einen weiteren Mangel. Die für den Glauben wichtigen theologischen Begriffe lassen sich nicht mehr erfassen.

Beispiel: Werk, e;rg.on

Joh 6,28: „Da sprachen sie zu ihm: Was sollen wir tun, damit wir die Werke Gottes wirken?“ (Elb)

„Was sollen wir denn tun, damit Gott mit uns zufrieden ist?“ (Hfa)

Joh 6,29: „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Dies ist das Werk Got- tes, dass ihr an den glaubet, den er gesandt hat“ (Elb).

„Gott verlangt nur eins von euch“ (Hfa)

„Gottes Wille wird dadurch erfüllt“ (NeÜ; NGÜ)

Im Johannesevangelium allein kommt das Wort „Werk“ in Elb 27 Mal vor. Das entspricht genau der Häufigkeit von ergon im griechischen Text. In Hfa kommt „Werk“ ganze 3 Mal vor. Es wird sonst wie folgt wiedergegeben:

Schandtat; Wunder; Gottes Wunder; Verlangtes; Tun und Treiben; Tat; Han- deln; Macht; Aufgabe; Ding; Auftrag. Das sind elf durchaus nicht synonyme Begriffe für das eine griechische Wort ergon. Zuweilen steht einfach nichts, was dem Wort „Werk“ entspräche (z.B. Joh 3,21), zuweilen wortreiche Um- schreibungen (Joh 7,21). In den übrigen Evangelien wird ergon auch ersetzt durch: Beispiel; was sie tun; Arbeit; etwas.

6. Der primäre Adressat wird verfehlt

Die Bücher des Alten und des Neuen Testaments wurden primär für das Volk Gottes geschrieben, nicht für die ungläubige Welt.

7. Der Empfänger wirdwichtiger als der Urheber der Bibel

Die amerikanische Linguistik von Eugene Nida ist anthropologisch ausgerichtet. Das steht im Gegensatz zur Schule der Nachfolger de Saussures (system-bezogen) und der Pragerschule (literaturbezogen), die in Europa prägend gewesen sind. Eine anthropologisch orientierte Linguistik verleitet den Übersetzer dazu, den Empfänger der Botschaft aufzuwerten und damit zwangsläufig den Urheber der Bibel abzuwerten. Das kann man exemplarisch an der Hoffnung für Alle zeigen.

  • Von den 660 Belegen von „Herr“ im NT sind 220 durch ein anderes Wort (Gott; Jesus; Christus) ersetzt oder gar nichtübersetzt.
  • Das griech. doulos wird nie mit Knecht oder Sklave, sondern entweder nur mit „Diener“ übersetzt oder ganz ausgelassen. Statt „wir sind unnütze Knechte;wirhabengetan,waswirzutunschuldigwaren“(Lk17,10)

„Wir haben nur das getan, was zu unserem Auftrag gehört.“

  • Statt „Folge mir nach“: „Komm jetzt mit mir“ (Mt 8,22); „komm, geh mit mir“ (Mt 9,9). Statt „Sie folgen ihm nach“ (Mt 4,22): „Sie gingen mit Jesus.“
  • Statt: „Ich bin der ich bin“ (2.Mo 3,14) „Ich bin euer Gott, der für euch da ist“.
  • Statt: „Gott hat ihnen einen Geist der Schlafsucht gegeben, Augen, um nicht zu sehen“ (Röm 11,8): „Sie sind wie betäubt. Mit ihren Augen sehen sie nichts.“
  • Statt: „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass der Vater ihn ziehe“ (Joh 6,44): „Keiner kann zu mir kommen, dem nicht der Vater den Weg“
  • Statt: „Deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrwahns, dass sie der Lüge glauben“ (2.Thess 2,11) „Weil sie nicht der Wahrheit, sondern der Lüge glauben, überlässt sie Gott ihrem“

5. Zusammenfassung

Die Merkmale einer guten Übersetzung lassen sich stichwortartig noch einmal so zusammenfassen: Eine gute Übersetzung der Bibel übersetzt

  • Wort für Wort,
  • Begriff für Begriff,
  • Idiom für Idiom,
  • Urheberorientiert, nicht Empfängerorientiert,
  • für das Volk Gottes, nicht für die Welt.

  1. Jörn Albrecht: „Literarische Übersetzung. Geschichte, Theorie, kulturelle Wirkung“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, S. 61-62. 

  2. Raoul Schrott: „Homers Heimat: Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“, München: Carl Hanser, 2008. 

  3. Zitiert bei Albrecht, S. 107. 

  4. Ebd., S. 107. 

  5. Francis I. Anderson: „Iob: An Introduction and Commentary“, Tyndale Old Testament Commentaries, InterVarsity Press, 1976, S. 101. 

  6. Albrecht, S. 69ff. 

  7. David Daniell: „William Tyndale. A Biography“, New Haven & London: Yale University Press, 1994. 

  8. 1.Sam 22,15: „Habe ich heute erst angefangen, Gott für ihn zu befragen? Das sei ferne von mir! Der König lege solches seinem Knecht nicht auf noch meines Vaters ganzem Hause; denn dein Knecht hat von allem diesem nichts gewusst, weder Kleines noch Großes“ (Luther). Gute Nachricht: „Es war doch nicht das erste Mal, dass ich eine Weisung von Gott für ihn eingeholt habe! Du verdächtigst mich und meine Verwandten zu Unrecht; ich habe von alldem nicht das Geringste gewusst.“ Das ist Zeitungsdeutsch, und Zeitungen liest man und wirft sie weg. Die Bibelsprache ist aber nicht Alltagssprache, sondern eben geschriebene Sprache, Literatur. 1.Sam 24,4; Ri 3,24 „die Füße bedecken“ (Elb, Lu); Zü: „die Notdurft verrichten“; 1.Sam 26,16 „Kinder des Todes“ (Elb, Lu); Zü: „des Todes“; 1.Sam 29,3 „seit Jahr und Tag“ (Elb; Lu); 2.Sam 16,21 „stinkend gemacht“ (Elb; Lu); Sch „verhasst gemacht“, LND „reso odioso“; KJV, ASV „thou art abhorred“. 

  9. S. Pearce Carey: „William Carey. The Father of Modern Missions“, London: Wakeman Trust, 1993, S. 387. 

  10. Eugene Albert Nida und Charles R. Taber: „Theorie und Praxis des Übersetzens, unter besonderer Berücksichtigung der Bibelübersetzung“, Weltbund der Bibelgesellschaften 1969, S. 1. 

  11. Der Leser kann nun selbst untersuchen, welche Auswirkungen es auf das Verständnis der gesamten Bibel hat, wenn wir um des unmittelbaren Verständnisses willen den Begriff „Schnee“ durch Kokosnuss ersetzen, was man getan hat, um Afrikanern, die noch nie Schnee gesehen haben, verständlich zu machen, was Johannes meint, wenn er sagt, die Haare des Menschensohnes seien weiß wie Schnee. Man schlage in einer Konkordanz „Schnee“ nach ersetze es immer durch Kokosnuss. 

  12. Art. Literatur in Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1975. 

  13. Hans J. Vermeer hat vom Skopos, vom beabsichtigten Zweck einer Mitteilung, gesprochen (Albrecht, S. 258). 

  14. Z.B. Ps 63,6. 

  15. Er übersetzt Röm 12,20 wörtlich: „…so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln“. NeÜ und NGÜ meinen, das dürfe man dem heutigen Leser nicht zumuten und übersetzen: „…wirst du ihn zutiefst beschämen“. Abgesehen davon, dass das fad und kraftlos ist, ist es auch schlechter Stil: „beschämen“ hätte genügt. 

  16. Albrecht, a.a.O. S. 105.