Es ist in der neueren Theologie umstritten, ob der Tod von Jesus am Kreuz als Sühneopfer verstanden werden muss, oder nicht als etwas ganz anderes, z.B. als Solidarität Gottes mit der leidenden und sterbenden Kreatur. Nicht selten wird ein Widerspruch zwischen dem Opfertod von Jesus und der Bereitschaft eines liebenden Gottes zur Versöhnung mit dem Menschen konstruiert, ganz nach dem Motto: Ein liebender Vater kann doch dem Menschen seine versöhnende Hand ganz anders anbieten.
Die Überlieferung der Urgeschichte, speziell des Konflikts zwischen den Brüdern Kain und Abel (1Mose 4), kann ein Licht in die Debatte werfen. Sie führt mitten hinein in die alte Welt des Opferkults und konfrontiert auch den modernen Menschen mit der Frage, welche Rolle das Opfer überhaupt in der Beziehung des Menschen zu Gott spielt, und ob es auch heute noch eine Bedeutung hat.
Opfer pauschal abzulehnen – wozu der Protestantismus generell in der Abgrenzung zum Katholizismus und den Religionen geneigt ist – gipfelt in der Behauptung radikaler Annahme des Menschen durch Gott auch ohne Opfer, zuletzt auch ohne Opfer von Jesus am Kreuz. Allerdings werden dabei dem modernen Menschen durchaus weiterhin Opferleistungen abverlangt, Spendentätigkeiten, Kirchensteuer und Engagement für die Armen und Entrechteten. Im Ton des sauren Moralismus werden diese Leistungen doch zumindest im Blick auf die erwartete Dankbarkeit gegenüber der unvoreingenommenen und unbedingten Annahme durch Gott eingefordert. Und werden diese Dankesgaben nicht erbracht, kann auch heute ein sanfter Kirchenbann ausgesprochen werden, zumindest, was den Ausschluss von kirchlichen Dienstleistungen angeht. Der Blick ins Alte Testament kann hier einiges klären.
Beide, Kain und Abel, erbringen Opfer. Das eine Opfer wird von Gott angenommen (Abel), das andere verworfen (Kain). In der Auslegung wird hier gerne psychologisiert. Abel sei eben der Mensch reinen Herzens, während Kain aus unlauteren Motiven heraus opfere. Diese Auslegung ist nicht falsch, weil zumindest auch danach gefragt werden muss, wie es mit dem Glauben der beiden Brüder bestellt ist. Aber der Bibeltext gibt hierüber keinen Aufschluss, im Gegenteil: es ist sogar beim Opfer Abels vom „gnädigen Ansehen Gottes“ die Rede, d.h. Abel kommt ebenfalls wie Kain als Sünder vor Gott. Und selbst Kain wird auch nach seinem Mord von Gott in Schutz genommen, d.h. Gott zeigt auch ihm gegenüber seinen Gnadenwillen.
Zielführend für die Auslegung ist darum nicht die psychologische Spekulation über die Seelenzustände der beiden Brüder, sondern der Blick auf die Art der beiden Opfer, die Kain und Abel erbringen. Allein an der Art der Opfer entzündet sich Gottes Wohlwollen oder Ablehnung.
Abel erbringt ein blutiges Opfer (Erstling der Herde), Kain dagegen ein unblutiges Opfer (Früchte des Feldes). Hier liegt der Schlüssel zur Auslegung. Das Opfer Abels ist deshalb angenehm vor Gott, weil es das richtige Opfer für ein bestimmtes Anliegen ist. Was ein richtiges und was ein falsches Opfer ist, sollte sich später im Gesetz des Mose zeigen und wird hier bereits vorweggenommen. Das Gesetz des Mose kennt zwei Kategorien von Opfer, das unblutige Opfer, bei dem Dank, Lobpreis oder Bitte im Zentrum stehen, und das blutige Opfer, bei dem die Sündenvergebung im Mittelpunkt steht. Diese beiden Kategorien von Opfern müssen strikt auseinandergehalten werden.
Speisopfer taugen nicht zur Vergebung der Sünden
Speisopfer (Kain) finden auch heute noch statt. Spenden für Brot für die Welt, Engagement für den Nächsten, Hilfe für den Nachbarn, praktisches Handeln im Sinne von Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung entsprechen alle dem Speisopfer des Kain, sind also unblutige Opfer. Sie sind von Gott im Gesetz angeordnet und ihm auch wohlgefällig. Aber für die Vergebung der Sünden taugen solche Opfer alle nicht. Wer glaubt, man könne seine Sünden durch Speisopfer oder Geldspenden freikaufen, hat die Bibel gründlich missverstanden. Dann feiert die katholische Lehre vom Ablass auch im Protestantismus wieder fröhliche Urstände. Dann kann der Christenmensch wieder zu verstärkten Bußleistungen im Sinne sozialen Engagements aufgerufen werden, ganz nach dem Motto: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ (Goethe).
Das abgelehnte Opfer des Kain muss hier zu denken geben. Es wird von Gott nicht als Erntedankopfer abgelehnt, sondern als Opfer für Sünden. Die Vertreibung aus dem Paradies liegt nicht lange zurück. Und gleich anschließend ans Opfer zeigt sich Kain als sündenverfallener Mensch, der sich sogar zum Mord hinreißen lässt. Sein Speisopfer war ihm nicht im Geringsten eine Hilfe. Das Opfer des Abel dagegen war die Vorwegnahme der heilsgeschichtlichen Bestimmung, dass einmal der kommen wird, der als reines Opferlamm sein Leben für die vielen geben wird: Jesus. Das Opfer des Kain war also nicht an und für sich schlecht, sondern nur im Blick auf Sündenvergebung.
Für die Beantwortung der Frage, ob der Tod von Jesus ein Sühnetod ist, gibt die Geschichte von Kain und Abel den entscheidenden Hinweis: Sünden können nur mit Blut abgewaschen werden. Gott akzeptiert hierfür kein anderes Opfer.
Doch gerade hier entzündet sich die heftige Kritik eines neuzeitlichen Humanismus an der biblischen Tradition. Gott sei doch kein blutrünstiger Gott, dem man Blut opfern müsse. Diese Unterstellung wird immer wieder laut, ist jedoch im Blick auf die Bibel nicht zu halten. Schon die Propheten des Alten Bundes haben deutlich gemacht: „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer.“ (Hos 6,6). Dasselbe wird im Neuen Testament präzisiert: „Denn es ist unmöglich, durch das Blut von Stieren und Böcken Sünden wegzunehmen.“ (Hebr 10,4). Gott geht es also nicht um seine persönliche Befriedigung durch blutige Opfer, wie es z.B. von der hinduistischen Gottheit Maya gelehrt wird, sondern um die Befreiung des Menschen von der Macht der Sünde. Diese Befreiung ist geistiger Natur.
Das Tieropfer macht dabei drei Tatsachen deutlich. Erstens zeigt das Opfern von Tieren, dass sich der Mensch von der Macht der Sünde nicht selbst befreien kann. Es braucht das andere, das stellvertretende Leben, das nicht durch Sünde korrumpiert ist. Zum zweiten wird deutlich: Nur Tiere haben die Eigenschaft, ohne Sünde zu sein, sofern sie rein und makellos sind. Das Menschenopfer (z.B. im alten kanaanäischen Kult) oder das Selbstopfer (z.B. im Islam) sind damit ebenfalls ausgeschlossen, weil ein sich opfernder Mensch immer Sünder ist und damit ungeeignet, Sünden zu tilgen. Drittens braucht es Blut, weil Blut der Trägerstoff des Lebens ist, zusammengesetzt aus Wasser und Geist. Gott blies dem feuchten Erdenkloß Adam den Lebensgeist ein, und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen (1Mose 2,6f). Darum kann nur ein wirklich geistliches Opfer Gott gefallen. Nur wer wiedergeboren ist aus Wasser und Geist, kann das Reich Gottes sehen (vgl. Joh 3,3).
Selbst die Hingabe meines Lebens genügt nicht, um die Sache mit Gott in Ordnung zu bringen
Opfert Abel also ein Blutopfer, dann wird deutlich: „Ich selber kann die Sache mit Gott nicht mehr in Ordnung bringen. Selbst die Hingabe meines eigenen Lebens genügt nicht, weil mein Leben durch die Sünde korrumpiert ist. Es braucht Hilfe von außen, eine „Blutspende“ eines unschuldigen und sündlosen Lebens, das an meiner Stelle Gott die Ehre gibt. Anders lässt sich der Schaden, der durch die Sünde geschlagen wurde, nicht reparieren.“ Hier hat die Aussage vom stellvertretenden Leiden und Sterben ihren Ursprung.
Das Tieropfer im Alten Bund hatte jedoch im Blick auf die Sündenvergebung etwas Defizitäres. Zum einen entspricht das Leben eines Tieres nicht dem eines Menschen. Daher musste für einzelne Sünden immer wiederholt und auf vielfältige Weise geopfert werden, ohne dass dabei der generelle Schaden im Menschen behoben werden konnte. Die Überwindung der Sünden und die geistige Erneuerung Israels standen im Alten Bund daher immer noch aus (vgl. Hes 36,27). Zum andern gab es für bestimmte Sünden keine Möglichkeit zu opfern. Sie waren zu schwer, um ihre Tilgung durch Tieropfer zu veranschaulichen. Darunter fielen die sog. Todsünden (Ehebruch, Mord, u.a.), und hierfür gab es keinen Trost, was z.B. König David in schiere Verzweiflung trieb (vgl. Ps 51). Erst der Opfertod von Jesus konnte Heilsgewissheit schaffen. Jesus, der Sohn Gottes, war Mensch geworden, blieb auf einzigartige Weise ohne Sünde, ein Mensch nach dem Wohlgefallen des Vaters (vgl. Mt 3,17). Nur er konnte sein Leben für alle Sünden geben, selbst für die schwersten (vgl. Lk 23,43). Wer darum den Sühnetod von Jesus leugnet, hat nichts, womit er Gott versöhnen könnte und schon gar keinen Anteil an der Kraft des Geistes von Jesus Christus. Er bleibt unter der Macht der Sünde.
So ist eigentlich zu hoffen, dass die Frage nach dem Sühnetod von Jesus zumindest im biblisch orientierten Protestantismus eindeutig entschieden wird. Hier gibt es keine zwei Meinungen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen könnten und die lediglich von den Bischöfen versöhnlich moderiert werden müssten. Auf solche Weise lässt sich die alte Feindschaft zwischen Kain und Abel nicht aus der Welt schaffen. Das unselige und vergebliche Opfern wird erst dann ein Ende haben, wenn das Sühneopfer von Jesus am Kreuz im Glauben angenommen wurde und die anderen Opfer, die Gaben des Dankes, des Lobpreises und der Bitte, aus einem versöhnten und fröhlichen Geberherzen fließen.
Informationsbrief der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ Nr. 271