Bibel und Gemeinde

Interview zur Bibel mit Dr. Arnold Fruchtenbaum

Die Bibel ist nicht nur Wort Gottes und Grundlagenwerk der Kirche, sie spielt auch eine nicht unerhebliche Rolle im Leben und Arbeiten unzähliger Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart. In einer Reihe von Interviews sollen verschiedene Personen des öffentlichen Lebens zu Wort kommen, um über ihre Erfahrungen mit der Bibel zu berichten.

Heutiger Gesprächspartner ist der promovierte Theologe jüdischer Herkunft Arnold Fruchtenbaum (geb. 1943). Seine Familie floh in den 1930er Jahren vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sie nach Polen. Aufgrund des dort immer stärker werdenden Antisemitismus emigrierten die Fruchtenbaums in die USA. Hier bekamen sie Kontakt zu dem American Board of Missions to the Jews (ABMJ), einer christlichen Mission unter Juden (1951).

Dr. Arnold Fruchtenbaum im Gespräch mit Michael Kotsch

Nachdem er zum Glauben an Jesus Christus gekommen war, studierte Arnold Fruchtenbaum Hebräisch und Griechisch am Shelton College in New Jersey und am Cedar College in Ohio. In Israel vervollständigte er seine Studien in Archäologie und antiker Geschichte (1967).

Später arbeitete Fruchtenbaum als Redakteur der Zeitschrift The Chosen People für ABMJ. 1976 wurde er Vize-Direktor der Christian Jew Foundation in San Antonio, der größten hebräisch-christlichen Rundfunkanstalt der Welt. Seit 1977 ist Fruchtenbaum Direktor des judenchristlichen Missionswerks Ariel Ministries in San Antonio / Texas USA.

? Welche Bedeutung hat die Bibel für Ihr persönliches Leben?

! Eigentlich bestimmt die Bibel fast alle Bereiche meines Lebens: Natürlich ist sie meine geistliche Grundlage und das Fundament meiner Ehe. Die Bibel beeinflusst sowohl mein berufliches Engagement, als auch meine Freizeitgestaltung und meine wirtschaftlichen Entscheidungen. Eigentlich gibt es da kaum etwas, das in meinem Leben nicht irgendwie von der Bibel bestimmt oder beeinflusst wird.

? Welche Relevanz hat die Bibel, Ihrer Meinung nach, für den postmodernen Menschen?

! Gläubige müssen aufpassen, sich nicht von der Welt beeinflussen zu lassen. Insbesondere besteht die Gefahr, dass ihr Umgang mit der Bibel durch die Postmoderne verändert wird. Es ist wichtig, jede Bibelstelle vor dem Hintergrund ihres jeweiligen historischen Kontexts zu lesen. Auch sollten Christen immer das in der Bibel Erkannte auf ihr persönliches Leben anwenden, unabhängig davon, ob es für ihre postmoderne Umwelt akzeptabel erscheint oder nicht. Der Nicht-Gläubige muss zuerst einmal durch das Evangelium von Jesus Christus verändert werden. Nur hier kann er Erlösung finden und eine positive Hoffnung für sein eigenes Leben sowie für die ganze übrige Welt.

? Welche Probleme haben Juden mit dem Neuen Testament?

! Die meisten Juden haben eigentlich kein wirkliches Problem mit dem Neuen Testament, sie haben es nämlich noch nie gelesen. Die weit größere Schwierigkeit liegt in den theologischen Interpretationen der großen Kirchen.

Oft lesen sie einen Antisemitismus in das Neue Testament hinein oder sie beziehen alle positiven Aussagen und Verheißungen Gottes unmittelbar auf die christliche Gemeinde, so dass Israel in ihren Predigten einfach nicht mehr vorkommt. Solche Tendenzen finden sich nicht nur in der katholischen Kirche, sondern leider auch bei Martin Luther.

In den meisten Fällen lehnen Juden nicht das Neue Testament als solches ab, sondern die ununterbrochene Reihe von Verfolgungen und Unterdrückungen seit dem 4. Jahrhundert.

Besonders tragisch ist, dass diese Pogrome gegen Juden immer wieder mit der Bibel begründet und im Namen Jesu Christi durchgeführt wurden. Aufgrund dieser kirchlichen Propaganda glauben heute leider auch viele Juden, dass das Neue Testament antisemitische Passagen enthält.

Und natürlich kann man auch anti­jüdische Aussagen in den Evangelien, der Apostelgeschichte oder den Briefen des Paulus finden, vor allem wenn man einzelne Bibelverse aus ihrem Gesamt­zusammenhang reißt.

? Nennen Sie ein Beispiel dafür, wie die Kenntnis der jüdischen Tradition dabei helfen kann, das Neue Testament besser zu verstehen!

! Wenn Johannes den Begriff „Logos“ benutzt, bezieht er sich mit ziemlicher Sicherheit auf das rabbinische „Memra“. („Memra“ ist die aramäische Entsprechung zum griechischen „Logos“, ein in den jüdischen Targumim gebräuchlicher Begriff für das personifizierte Wort Gottes.)

Sechs Aussagen verbanden antike Rabbinen mit „Memra“, die Johannes auch auf den „Logos“ bezieht:

  • 1. Manchmal ist es von Gott getrennt, manchmal ist es mit Gott identisch.
  • 2. „Memra“ ist der Weg, durch den Gott die Welt geschaffen hat.
  • 3. Nur mit Hilfe von „Memra“ kann die Erlösung bewirkt werden.
  • 4. Es ist der Weg, auf dem Gott eine sichtbare Form annimmt.
  • 5. Es ist außerdem das Zeichen seines Bundes mit den Menschen.
  • 6. „Memra” ist das Werkzeug, mit dem sich Gott der Welt offenbart.

Alle diese Aspekte gelten sowohl für das rabbinische „Wort Gottes“ (Memra) als auch für den „Logos“ bei Johannes (Jesus Christus).

? Was halten Sie von deutschen Theologieprofessoren, die fordern, das Alte Testament aus der christlichen Bibel zu streichen?

! Das Neue Testament kann nicht alleine bestehen bleiben. Beide Teile der Heiligen Schrift sind untrennbar miteinander verbunden. Einerseits enthält das Neue Testament die Erfül­lung der messianischen Pro­phe­zeiungen der hebräischen Bibel.

Andererseits macht eine fortschreitende Offenbarung im Neuen Testament nur Sinn, wenn sie sich auf die vorhergehende im Alten Testament stützen kann. Immer war und ist das Alte Testament die Grundlage für das richtige Verständnis des Kommens und der Predigt Jesu Christi.

Die weitere Entfaltung der göttlichen Wahrheit und des göttlichen Plans im Neuen Testament sind ohne ihre Geschichte und ihre Vorbereitung im Alten Testament nur sehr begrenzt verständlich.

? Haben Sie einen Lieblingsvers aus der Bibel?

! Ja, Lukas 24, 45-47: „Da öffnete Jesus ihnen das Verständnis, so dass sie die Schrift richtig verstanden, und sprach zu ihnen: So steht‘s geschrieben, dass Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage; und dass gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern. Fangt an in Jerusalem.“ – Das war der Text, mit dem Gott mich in meinen Dienst an dem jüdischen Volk berufen hat.

Von Dr. Arnold Fruchtenbaum erschienen auch zahlreiche Bücher, darunter eine Reihe von Auslegungen aus messianisch-jüdischer Sicht.