Wenn wir als bibeltreue Christen von der Irrtumslosigkeit der Bibel sprechen, dann setzen wir das folgende voraus:
- Gott ist der Urheber der Bibel.
- Gott gab den Schreibern der biblischen Bücher das Geschriebene ein.
- Die Heilige Schrift ist darum Gottes Wort und deshalb uneingeschränkt glaubwürdig.
Die Bibel ist Gottes Offenbarung. Sie ist wie Gott heilig und deshalb fehlerlos. Darum besitzt sie göttliche Autorität. So wie wir Gott bedingungslos vertrauen können, vertrauen wir seinem Wort; ja, wir können Gott gar nicht anders glauben und gehorchen, als dadurch, dass wir seinem geschriebenen Wort glauben und gehorchen.
Das ist das Fundament. Aber aus unseren Überzeugungen zur Autorität der Bibel müssen deutliche Früchte im Leben hervorgehen. Das gilt für:
- unser persönliches Glaubensleben,
- unser Leben in der örtlichen Gemeinde,
- unsere Mitarbeit am Missionsbefehl.
Diese drei Bereiche werden unausweichlich von unserer Bibelhaltung geprägt sein. Erst, wenn unsere Bibelhaltung in diesen drei Bereichen sichtbar wird, können wir von uns sagen, wir seien „bibeltreu“; denn Bibeltreue heißt rechter Glaube und rechtes Tun. Thomas Watson hat das so ausgedrückt:
„Danke Gott für die Gabe der Heiligen Schrift. Welche Gnade ist es, daß Gott uns nicht nur seinen Willen kundgetan hat, sondern ihn dazu durch Schrift festgelegt hat. Vor Zeiten offenbarte sich Gott in Gesichten, aber das geschriebene Wort ist befestigter (2.Petr 1,18) und gibt uns größere Gewißheit über Gottes Gedanken. Der Teufel ist der Affe Gottes; er kann sich in einen Engel des Lichts verwandeln und uns mit falschen Offenbarungen verführen… Darum danken wir Gott, daß er sich uns durch das geschriebene Wort offenbart hat. Wir werden nicht im Ungewissen gelassen über die Dinge, die wir wissen müssen und glauben sollen… Die Bibel ist unser Polarstern, der uns den Weg in den Himmel weist; sie zeigt uns jeden Schritt, denn wir gehen müssen; sie weist uns zurecht, wo wir irren, sie unterweist uns, und sie stärkt uns, wo wir auf dem rechten Weg sind.“1
1. Das Zeugnis von der göttlichen Autorität der Bibel
1.1 Das Selbstzeugnis der Bibel
Die Bibel sagt von sich selbst, dass sie Gottes Wort ist. Und weil Gott die Bibel als sein Wort gegeben hat, kann sich das Wort selbst beglaubigen. Mehrere hundertmal stehen im Alten Testament Sätze wie: „So spricht der HERR“, oder „Der HERR sprach“. Gott aber kann nicht lügen (1.Sam 15,29; Tit 1,2; Hebr 6,18). Damit sagt die Bibel von sich selbst, dass sie Gottes Wort ist.
„In verschiedenen Redewendungen sagt das Alte Testament 3808 mal, dass es die ausdrücklichen Worte Gottes übermittelt… Der Pentateuch sagt es mit verschiedenen Ausdrücken 420 mal… Die Propheten erklären in formaler Weise wiederholt, dass ihre geschriebene Botschaft das Wort Gottes sei, indem sie Ausdrücke verwenden wie ‚So spricht der HERR… Hört das Wort des HERRN… der Mund des HERRN hat gesprochen‘. Solche Wendungen kommen vor bei
Jesaja 120mal
Jeremia 430mal
Hesekiel 329mal
Amos 53 mal
Haggai 27 mal (innerhalb von 38 Versen)
Sacharja 53 mal usw.“2
1.2 Das Zeugnis Christi über die Schrift
Von den zahlreichen Aussagen von Jesus Christus, die sein Zeugnis für die Autorität der Schrift verdeutlichen, seien hier nur drei hervorgehoben:
„Die Schrift kann nicht aufgelöst werden“ (Joh 10,35).
„Dein Wort ist Wahrheit“ (Joh 17,17).
„Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist“ (Mt 5,18).
1.3 Das Zeugnis der neutestamentlichen Autoren über die Schrift
Paulus sagt zusammenfassend und das wirkliche Wesen der biblischen Schrif- ten charakterisierend: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben“ (2.Tim 3,16).
Als eindrückliches Beispiel dafür, wie die Apostel und ihre Mitarbeiter die Autorität der Heiligen Schrift achteten, sei hier aufgezeigt, wie sie die historische Glaubwürdigkeit der alttestamentlichen Berichte bestätigen. Stephanus ist es selbstverständlich, dass Mose auf dem Berg Sinai von Gott lebendige Aussprüche empfing (Apg 7,38). In seiner Verteidigungsrede in Apg 7,2-50 nimmt er auf folgende alttestamentliche Personen und Ereignisse Bezug, womit er zeigt, dass sie für ihn alle historisch waren:
- die Berufung und das Leben Abrahams
- die Erzväter Isaak und Jakob und dessen Söhne
- Joseph und Israel in Ägypten
- Mose und seine Berufung im brennenden Dornbusch
- die Zeichen und Wunder in Ägypten
- der Durchzug durch das Rote Meer
- Josua und die Eroberung Kanaans
In 1.Kor 10,1-10 bestätigt Paulus die Historizität des Auszugs, der Wüstenwanderung samt den dazugehörigen Geschehnissen:
- die Führung des Volkes durch die Wolkensäule
- der Durchzug durch das Rote Meer
- die Ernährung durch das Manna
- das Wasser aus dem geschlagenen Felsen
- das Gericht durch die von Gott gesandten Schlangen
In Apg 24,14 bekennt Paulus: „… indem ich allem glaube, was in dem Gesetz und in den Propheten geschrieben steht“. Man beachte, wie Paulus sich ausdrückt: Er glaubt allem, was in den genannten Büchern geschrieben steht, d.h. nicht nur dass das Buch als Ganzes oder einzelne biblische Bücher als ganze, sondern ein jedes Buch auch in allen Einzelheiten vertrauenswürdig ist. Entsprechend bestätigt er in Apg 13,16-41 folgende historische Geschehnisse:
- die Erwählung Israels
- der Auszug und die Gabe des Gesetzes an Mose
- die vierzig Jahre Wüstenwanderung und wunderbare Ernährung
- die Eroberung Kanaans
- die Richter in Israel
- die Sendung des Propheten Samuel und des Königs Saul
- die Sendung Davids
- die Erfüllung der Verheißung eines Nachkommens Davids in der Sendung Jesu
Denn für ihn steht fest: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Man beachte: „Alle Schrift“; gemeint ist damit das gesamte Alte Testament. Und im ganzen Neuen Testament ist alles zu unserer Belehrung geschrieben: „Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, auf dass wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben“ (Röm15,4).
Der Verfasser des Hebräerbriefes bestätigt in Hebr 11 die Glaubwürdigkeit der alttestamentlichen Berichte folgender Geschehnisse und Personen:
- Erschaffung der Welt und Ruhe Gottes
- Abel
- Henoch und seine Entrückung
- Noah und die Arche
- Abraham
- Opferung Isaaks
- Jakob
- Joseph
- Mose und die Stiftshütte
- Aaron und sein Dienst
- der Durchzug durch das Rote Meer
- Josua
- die Eroberung Jerichos und die Errettung Rahabs
- Gideon, Barak, Simson und Jephta
- Daniel in der Löwengrube
- Auferweckung toter Kinder durch Elia und Elisa
Wir können zusammenfassend zur göttlichen Autorität und Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift sagen:
„Das ganze Neue Testament, Christus, die Apostel, die Urgemeinde, die Verfasser des Neuen Testaments sind einig in ihrer Haltung der Schrift gegenüber. Für sie ist sie Gottes Wort selbst. Sie nehmen sie ohne Bedenken als Autorität an. Als Träger einer neuen Ausrüstung hätten sie – nach modernen Gedanken – sich vom Joch der alten Offenbarung befreien können. Nichts davon geschah. Ihre Auffassung von der biblischen Inspiration deckt sich vollkommen mit der unsrigen: Alle Worte in allen Teilen der Bibel sind eingegeben. Sie machen denselben recht ausgiebigen Gebrauch biblischer Belegstellen wie wir. … Für sie gibt es in der Bibel weder Mythen noch Legenden noch Irrtümern. Nie sprechen sie die leisesten Zweifel aus.“3
1.4 Das Zeugnis der Kirchenväter
„In den ersten Jahrhunderten der Kirche wurde viel und heftig über ver- schiedene Lehrmeinungen gestritten. Ein Thema wurde dabei allerdings nie berührt: die Autorität und Inspiration der Heiligen Schrift. Bei aller Meinungsverschiedenheit und theologischen Gegnerschaft war man sich darüber einig, daß die Bibel Gottes Wort ist und deshalb göttliche Autorität besitzt. Was die Bibel lehrte, war zum Teil umstritten, nicht jedoch, was sie war: nämlich die gewisse und verbindliche Offenbarung Gottes. Aus diesem Grund wurde die Lehre von der Heiligen Schrift in den frühen Bekenntnissen auch nicht beschrieben und definiert.“4
Nehmen wir als eine Stimme, die für die vielen spricht, Aurelius Augustinus:
„Die ganze Schrift ist mit dem Finger Gottes geschrieben, das heißt, durch den Heiligen Geist, der die Männer Gottes erfüllte… Wir schöpfen unseren Glauben aus der Heiligen Schrift allein, und diese einzige Quelle dient dazu, ihn zu befestigen“ (De Unitate Ecclesiae,6).
„An der Irrtumslosigkeit der Schrift zu zweifeln, wäre Sünde“ (Epist. 82,7,3).
1.5 Das Zeugnis der Reformatoren
Die folgenden Zitate zeigen, wie für Luther, Calvin und Bullinger die Heilige Schrift Gottes Wort war, dass dieses Wort sich selbst beglaubigt und keiner menschlichen Beurteilung oder Bestätigung unterstehen kann.
Martin Luther
„Die Heilige Schrift ist Gottes Wort, geschrieben und in Buchstaben ge- bildet.“
„Die Schrift hat noch nie geirret.“
„Der Heilige Geist spricht kein Wort vergeblich.“
„Scriptura mentiri non potest – Die Schrift kann nicht Lügen.“5
Johannes Calvin
„Bevor wir weitergehen, muß zunächst noch einiges über die Autorität der Heiligen Schrift eingefügt werden. Diese Feststellungen sollen der Ehrfurcht vor der Schrift dienen und auch jeden Zweifel beseitigen. Ist es einmal anerkannt, daß es sich um Gottes eigenes Wort handelt, so wird keiner so vermessen, ja, geradezu des Menschenverstandes und gar alles menschlichen Sinnes beraubt sein, daß er dem, der da redet, den Glauben weigern möchte… es hat Gott gefallen, allein in der Schrift seine Wahrheit zu stetem Gedächtnis zu erhalten. Deshalb kann die Bibel nur dann den Gläubigen gegenüber volle Autorität erlangen, wenn sie gewiß wissen, daß sie vom Himmel herab zu ihnen kommt, als ob Gottes eigene Stimme hier lebendig vernommen würde“ (Institutio I, 7.1).
Heinrich Bullinger
„Wir glauben und bekennen, daß die kanonischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testamente das wahre Wort Gottes sind, und daß sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen… Wenn also heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, daß Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen werde.“ (Das Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566 unter der Überschrift „Die Heilige Schrift, das wahre Wort Gottes“).
1.6 Das Zeugnis der reformatorischen Kirchen
Die Westminster Confession of Faith (1646) ist ein Werk der britischen Puritaner. Zur Autorität der Bibel steht dort u.a.:
„Die Autorität der Heiligen Schrift, derentwegen man ihr glauben und gehorchen soll, beruht nicht auf dem Zeugnis irgendeines Menschen oder irgendeiner Kirche, sondern gänzlich auf Gott (der die Wahrheit selbst ist) als ihrem Autor, und sie ist deswegen anzunehmen, weil sie das Wort Gottes ist“6
Das von Baptisten verfasste „Zweite Londoner Bekenntnis“ (1677/1689) bekennt:
„Die Heilige Schrift ist der einzig hinreichende, sichere und unfehlbare Maßstab aller rettenden Erkenntnis, allen Glaubens und allen Gehorsams…Die Autorität der Heiligen Schrift… hängt nicht von dem Zeugnis irgendeines Menschen oder einer Kirche ab, sondern nur von Gott, ihrem Autor (der die Wahrheit in Person ist); deshalb soll sie angenommen werden, weil sie das Wort Gottes ist.“7
Als herausragenden Gelehrten aus dem Pietismus lassen wir Johann Albrecht Bengel (1687-1752) zu Wort kommen:
„Überhaupt die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments, welche durch alle ihre Teile sehr eng zusammenhängt, hat einen göttlichen Ursprung“
„Was Gottes Propheten sagen, sagt Gott.“
„Was er Johanni dictieret, ist ebenso viel, als ob er es eigenhändig geschrieben hätte. Jesus Christus hat seine Offenbarung Johanni dictieret … Wort zu Wort gleichsam protokollieret“.
„Jedes Wort, vom Geist Gottes ausgegangen, hat eine geistliche Kraft; um so weniger ist es zu bezweifeln, daß alle Buchstaben des Neuen Testaments gezählt seien, wie der Herr von den Haaren auf dem Haupt der Seinen sagt. Auch der kleinste Teil der aus göttlichem Mund hervorgegangenen Rede ist göttlich. Es gibt kein Biegelein in der Heiligen Schrift, das nicht seine Kraft und Bedeutung hätte… So sind die Accente selbst darum kein unnützer Unrat.“8
John Wesley schreibt stellvertretend für die im 18. Jahrhundert beginnende Methodistische Erweckungsbewegung am 24. Juli 1776 in sein Tagebuch:
„Wenn es irgendeinen Fehler in der Bibel gibt, können es auch tausend sein. Wenn es in diesem Buch einen einzigen Irrtum gibt, dann ist es nicht vom Gott der Wahrheit gekommen.“9
Ch. H. Spurgeon:
„Ich glaube, daß es vom Anfang bis zum Schluß keinen einzigen Fehler in den Urschriften der Bibel gibt. Wenn ich nicht an die Fehlerlosigkeit des Buches glaubte, hätte ich lieber keine Bibel.“10
1.7 Das Schriftverständnis seit der Aufklärung
Der Ursprung der Bibelkritik, der mit einem methodischen Zweifel an der Autorität der Heiligen Schrift einhergeht, findet sich nicht allein bei diesem oder jenem Theologen, sondern in den geistesgeschichtlichen und philosophischen Vorgaben des Humanismus, des Deismus und der Aufklärung. Es genügt, uns in Erinnerung zu rufen, was den Humanismus ausmacht. In ihm finden sich schon alle Anlagen zu den bis heute das europäische Denken bestimmenden Anschauungen:
- Anthropozentrismus: der Mensch steht im Mittelpunkt.
- Rationalismus: die menschliche Vernunft ist die letzte Quelle der Erkenntnis; die Vernunft muss die biblische Offenbarung beurteilen. Sie entscheidet, was gültig ist.
- Autonome Ethik: keine übergeordnete Autorität darf mehr die Ethik vorgeben.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant befindet,
„… daß die Bibel gleich als ob sie eine göttliche Offenbarung wäre, auf- bewahrt, moralisch benützt und der Religion als Leitmotiv unterlegt zu werden verdiene“11
Die Bibel soll gelesen werden „als ob“ sie Gottes Wort sei. Sie soll erst Autorität haben, wenn der Mensch ihr die Zustimmung gibt. Die Vernunft muss darüber befinden, was an und in der Bibel gut, nützlich und wahr sei.
Hier wurde die Vernunft unendlich überschätzt. Die bloße menschliche Vernunft ohne Gottes Leitung reicht nicht, um sich selbst, die Welt und schon gar nicht den Urheber aller Dinge zu erklären. Darum genügt sie nicht als Führerin, um das Wesen Gottes, seiner Ratschlüsse und seines Wortes zu erfassen und zu deuten, wie sich an folgender Beobachtung zeigt: Der autonomen Vernunft sind fast alle Grundlehren der Bibel und des Christentums anstößig:
- Schöpfung in sechs Tagen
- Sündenfall
- Menschwerdung und Stellvertretung Christi
- Jungfrauengeburt
- leibliche Auferstehung
- leibliche Himmelfahrt
- leibliche Wiederkunft
- ewige Verdammnis
- Ausschließlichkeit der Erlösung in Christus
- Erwählung und Vorherbestimmung zum Heil
- unfreier Wille und doch volle Verantwortung des Menschen
„Der bedeutendste wissenschaftliche Vertreter der theologischen Aufklärung, Johann Salomo Semler (1725-1791), griff die Autorität des biblischen Kanon […] sowie die Identifizierung von Heiliger Schrift und göttlicher Offenbarung mit historischen Mitteln und dem Kriterium der sittlichen Brauchbarkeit an“.12 Die wissenschaftliche Kritik wird so zur Richterin über Gottes Wort. Die Bibel in ihrem Ganzen gilt nicht mehr als der von Gott gegebene Kanon. Weil man „Gottes Wort“ und Bibel als Heiliger Schrift voneinander unterscheidet, muss man im Kanon einen „wahren Kanon“ suchen.
Diese Trennung zwischen göttlicher Offenbarung einerseits und der Sammlung der Bücher, die wir „Heilige Schrift“ nennen, andererseits bleibt ein tragendes Merkmal des liberalen protestantischen Bibelverständnisses bis in unsere Tage.
Mit dieser Auffassung hat man das Bibelverständnis der Reformation, das im reformatorischen Sola Scriptura seinen Ausdruck fand, aufgegeben. Damit hat man auch das reformatorische Solus Christus preisgegeben. Ein wenig Sauerteig durchsäuert die ganze Masse (1.Kor 5,6). Das gilt auch hier.Hat man einmal begonnen, an der vollkommenen Inspiration zu zweifeln und hat man diesem Zweifel stattgegeben, verdrängt dieser am Ende Gottes Autorität im Blick auf die Heilige Schrift vollständig. Am Ende ist die Bibel nur noch ein menschliches Dokument. Eckhard Schnabel fasst zusammen, wie der Weltkirchenrat sich 1971 im Bericht von Louvain zur „Autorität der Bibel“ stellte:
„Die Bibel wird […] als eine Sammlung von menschlichen Dokumenten einer zeitlich weit zurückliegenden Epoche bezeichnet, die wie jedes andere literarische Dokument zu studieren und zu interpretieren ist […]. Die Autorität der Bibel ist keine von vornherein festgelegte […]. Die Bibel hat nur dann und deshalb Autorität, wenn und insofern sie durch ihr Zeugnis eine Kenntnis Gottes ermöglicht. Sie hat nur eine abgeleitete Autorität. Mit anderen Worten: Die Autorität der Bibel wird nur dann gegenwärtige Realität, wenn sie als Autorität erfahren wird[…]“13
Ein solches Vorverständnis der Bibel verbaut dem Leser letztlich den Zugang zur Erkenntnis Gottes und seines Heils.
1.8 Drei Hauptströmungen im 20. Jahrhundert
Was die Auffassung über die Autorität der Bibel betrifft, können wir die drei Strömungen des 20. und 21. Jahrhunderts mit drei „B“ betiteln: Bultmann – Barth – Bibelbund.
Rudolf Bultmann: Er und in seinem Gefolge eine ganze Schule von Theologen lehnen jede Vorstellung von einer übernatürlichen Offenbarung und Inspiration ab. Die Heilige Schrift sei ein rein menschliches Produkt. Der Begriff „Wort Gottes“ könne nur in einem uneigentlichen, in einem allegorischen Sinn verstanden werden.
Karl Barth: Für ihn und alle weiteren Vertreter der sogenannten „Neoorthodoxie“ hat die Heilige Schrift in gewissen Sinn göttliche Qualität. Sie sei ein Niederschlag von göttlicher Offenbarung. Aber die Bibel könne nicht eigentlich als Wort Gottes gelten und ist damit keine göttliche Offenbarung.14 Die biblischen Autoren seien inspiriert gewesen, ihre Worte aber nicht. Die Sache, die sie verkündigten, sei wahr; die theologischen und historischen Aussagen über die Sache müssten indes nicht wahr sein.15
„Die Menschen, die wir hier als Zeugen reden hören, reden als fehlbare, als irrende Menschen wie wir selber […] Die Propheten und Apostel waren auch als solche, auch in ihrem Amt, auch in ihrer Funktion als Zeugen, auch im Akt der Niederschrift ihres Zeugnisses wirkliche, geschichtliche und also in ihrem Tun sündige und ihn ihrem gesprochenen und geschriebenen Wort irrtumsfähige und tatsächlich irrende Menschen, wie wir alle“.16
Bibelbund: Der Bibelbund, der 1894 gegründet wurde, verstand sich immer als eine Stimme all jener Christen, Bibellehrer, Verkündiger und Theologen, die an die Verbalinspiration und an die volle Inspiration der ganzen Heiligen Schrift glauben. Die Bibel ist als Ganze Gottes Wort. Die Heilige Schrift selbst ist Gottes Offenbarung.
Das reformatorische Sola Scriptura, auf dass ich die Gründer des Bibelbunds von Anfang an beriefen, will sagen, dass die Bibel allein genügt. Wenn die Bibel allein genügen soll, dann muss sie vollkommen, vollständig und irrtumslos sein. Wäre sie das nicht, könnte man sich nicht auf alles, was sie sagt, verlassen und man könnte sich nicht ausschließlich auf sie selbstverlassen.
Es gibt aber auch kein Solus Christus ohne Sola Scriptura, denn der einzige Christus, den wir kennen, ist der Christus der Schrift (Joh 5,39), so wie die alttestamentlichen Propheten ihn weissagten (Joh 1,45; Röm 1,2), so wie die Augenzeugen, die der Herr dazu erwählt hatte, ihn verkündigten (Hebr 2,3; 13,7) durch das gepredigte und im Neuen Testament schriftlich fixierte Wort (1.Petr1,11.12).
Es gibt auch kein Sola fide ohne Sola scriptura, denn worauf soll der Glaube gerichtet sein, wenn nicht auf den Glaubensinhalt, der durch das Bibelwort klar bestimmt ist (siehe Röm10,17)?
„Luther zog aus der Inspiration und der sich daraus ergebenden Unfehlbarkeit und Klarheit der Heiligen Schrift, die zu seiner Zeit selbstverständliche Voraussetzungen der Theologie waren, die letzte Konsequenz: Es gibt keine andere Autorität neben der Autorität des Wortes Gottes – sola scriptura. Schon in der Leipziger Disputation (1519) hat Luther dies Eck gegenüber klargemacht und festgehalten. Das ‘allein durch den Glauben’ ist gebunden an das ‘allein durch die Schrift’.”17
„In meinem Herzen herrscht allein dieser Artikel, nämlich der Glaube an Christum, aus welchem, durch welchen und zu welchem alle meine theologischen Gedanken fließen und zurückfließen“.18
2. Sieben Eigenschaften der Heiligen Schrift
2.1 Die Schrift besitzt Autorität Jer 2,2
Weil die Bibel Gottes Wort ist, hat sie Autorität in sich selbst. Sie bedarf keiner Autorisierung durch irgendeine menschliche Instanz. Weil die Bibel Gottes Wort ist, ist sie für das Volk Gottes die alleinige Autorität. „So spricht der HERR“ ist die Formel, die Gottes Propheten vor ihre Aussprüche stellten. „Es steht geschrieben“ ist die Formel, die die Apostel gebrauchen, um eben damit auszudrücken, dass allein das geschriebene Wort in den Fragen des Heils, des Glaubens und des christlichen Wandels normativ ist. Wenn wir das Bekenntnis Sola Scriptura ernstnehmen, stellen wir uns als Christen beständig dieser Autorität. Wir müssen bereit sein, uns von Gottes Wort überführen, zurechtweisen und unterweisen zu lassen (2.Tim 3,16). Nur dann werden wir „zu jedem guten Werk völlig geschickt“ sein und als gläubige Gemeinde allen in 2.Tim 3 beschriebenen Herausforderungen gewachsen sein.
2.2 Die Schrift ist vollkommen und irrtumslos Ps 12,7
„Wir bekennen, dass die Schrift als Ganzes und in allen ihren Teilen, bis in die einzelnen Wörter der Originalhandschriften, von Gott inspiriert wurde. Wir verwerfen die Ansicht, dass die Inspiration der Schrift mit Recht auf ihr Ganzes, nicht aber auf ihre Teile, oder auf einige ihrer Teile, nicht aber auf ihr Ganzes bezogen werden könnte“ (Chicago-Erklärung, Artikel VI)19
Sie ist so vollkommen wie Gott selbst. Denn sie ist sein Wort. Darum liebe ich, als Christ, sein Wort (Ps 119,97). Darum äußert sich meine Liebe zu Gott im Gehorsam gegenüber seinem geschriebenen Wort (5.Mo 6,5.6). Meine Gottesfurcht misst sich an meiner Ehrfurcht vor der Bibel, Gottes Wort. Lieben wir Gott nicht, ist alles was wir tun nichtig (1.Kor 13,1-3). Fürchten wir Gott nicht, werden wir nie weise (Spr1,7).
Nur wenn sie irrtumslos ist, kann die Heilige Schrift die Autorität besitzen, die wir unter 2.1 behauptet haben. Daher können wir am Sola Scriptura nur so lange festhalten, als wir an die Irrtumslosigkeit der Schrift glauben.
7 Gründe für die Irrtumslosigkeit der Bibel
- Gottes Charakter verlangt die Irrtumslosigkeit Seines Wortes.
- Der Charakter des Menschen verlangt eine irrtumslose und unfehlbare Offenbarung.
- Das Selbstzeugnis der Schrift fordert ihre Irrtumslosigkeit.
- Das Zeugnis des Herrn Jesus verlangt die Irrtumslosigkeit der Schrift.
- Wenn ein Fehler in der Bibel möglich ist, dann sind unzählige Fehler möglich.
- Nur eine irrtumslose Bibel kann verbindliche und alleinige Autorität in allen Fragen des Glaubens, des Heils und des christlichen Wandels haben.
- Der historische Glaube der christlichen Kirche bestätigt die Irrtumslosigkeit der Bibel.
Was Irrtumslosigkeit nicht bedeutet
- Wenn wir von Irrtumslosigkeit reden, behaupten wir keine moderne technische Präzision; d.h. wir akzeptieren abgerundete Zahlen und zusammenfassende historische Angaben.
- Wir behaupten nicht, dass die Bibel eine fehlerfreie Grammatik oder Syntax nach einheitlichen Regeln benötigt.
- Wir rechnen damit, dass Aussagen über die Schöpfung aus dem Gesichtspunkt des Beobachters gemacht werden: Zum Beispiel: „Die Sonne geht auf und unter“ (Ps 19,5-7).
- Wir sehen das Vorhandensein dichterischer Vergleiche und Metaphern wie „die Säulen der Erde“ (1.Sam 2,8) und literarischer Stilfiguren wie die Hyperbel (Mt 2,3; 3,5; 11,23; Kor 11,8; Gal 4,15)
- Wir akzeptieren, dass an verschiedenen Stelle eine thematische Ordnung einer chronologischen Ordnung des Stoffes vorgezogen wurde (siehe die Unterschiede zwischen 1.Mo 1 und 2; zwischen den Evangelien) und eine Selektion aus der Menge des bekannten Stoffes vorgenommen wurde (Joh 20,31;21,25).
- Alttestamentliche Zitate müssen nicht wörtlich wiedergegeben werden. Die Art, Zitate anzuführen, muss nicht den modernen wissenschaftlichen Gepflogenheiten genügen. So könnte der Name „David“ für den ganzen Psalter stehen (Hebr 4,7; Ps 95,7) oder „Jeremia“ für alle Bücher der Propheten (Mt27,9).
Diese Erklärungen schränken die Irrtumslosigkeit der Bibel keineswegs ein, sondern sind notwendige Klarstellungen dafür, was man unter Irrtumslosigkeit verstehen soll.
Der Glaube an eine „eingeschränkte Irrtumslosigkeit“ ist unmöglich
Manche Evangelikale meinen, die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift sei nicht mehr zu halten. Sie wollen die Irrtumslosigkeit oder Zuverlässigkeit beschränken auf die Aussagen der Schrift, die das Heil und die Sittlichkeit betreffen. Dagegen ist folgendes einzuwenden:
- Es gibt keinen objektiven Maßstab, nach dem wir entscheiden könnten, welche Teile der Bibel unfehlbar und welche fehlbar sind.
- Es gibt keine Autorität, die festlegt, wie weit wir gehen dürfen, wenn wir mögliche Irrtümer annehmen wollen. Wer sorgt dafür, dass „ein- geschränkte Irrtumslosigkeit“ nicht zu uneingeschränkter Fehlerhaftigkeit wird?
- Wenn es keine über uns stehende Autorität gibt, muss der Ausleger sich selbst zur Autorität machen, die über die Bibel befindet. Das ist das Ende jedes Glaubensgehorsams.
2.3 Die Schrift ist vollständig
Sie genügt. In ihr steht alles, was der Sünder wissen muss, um selig zu werden und gottselig zu leben.
Weil die Schrift vollständig ist, können wir mit den Reformatoren sagen Sola Scriptura. Und nur weil die Schrift vollständig ist, können wir die Bibel durch die Bibel auslegen: Scriptura sacra sui ipsius interpres – Die heilige Schrift legt sich selbst aus.
Die Bibel ist vollständig: Darum konnten die Apostel das Alte Testament zitieren, um das Evangelium zu erklären; mit der Bibel konnten sie die Identität Jesu, des Messias, belegen (Apg 17,1-3); mit der Bibel konnten sie die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben (Römerbrief) und der Erlösung durch das Opfer Jesu Christi (Hebräerbrief) erläutern und beglaubigen.
Die Bibel ist vollständig: Sie sagt mir alles, was ich wissen muss, um selig zu werden und als Christ zu leben: 2.Tim 3,15-17
Die Bibel ist vollständig: Sie sagt alles, was wir als Christen über Struktur, Funktionieren und Aufgaben der örtlichen Gemeinde wissen müssen.
Die Bibel ist vollständig: Wenn ich wissen will, wie ich als Christ mein Eheleben führen soll; wie ich mich als Staatsbürger oder als Angestellter verhalten soll; was die Gemeinde ist; wie die Gemeinde geführt wird; was Mission ist usw., dann muss ich die Bibel daraufhin befragen.
Die Bibel ist vollständig: Sie rüstet mich vollkommen aus für alle Herausforderungen, die auf mich persönlich und auf die Gemeinde des Herrn als ganze zukommen (2.Tim 3). Ich brauche keine Traditionen; ich brauche keine außerbiblischen Quellen der Belehrung; ich brauche auch keine besonderen Erfahrungen oder privaten Erleuchtungen, keine Handauflegungen und Ekstasen. Was ich brauche, ist die Schrift. Aber ich muss sie kennen; ich muss sie studieren; ich muss über sie nachdenken; ich muss ihr gehorchen. Sie muss mir zur Nahrung und zum Licht, zum Stab und zur Waffe, zum Fundament und Kompass werden.
Darum sollte ich die ganze Bibel lesen, nicht nur besondere Abschnitte oder Lieblingsbücher, wie manche Adventisten, bei denen man den Eindruck bekommt, die Bibel enthielte nur zwei Bücher, nämlich den Propheten Daniel und das Buch der Offenbarung; oder wie gewisse Pfingstler oder die Charismatiker, die anscheinend auch nur von zwei Büchern der Bibel wissen, von der Apostelgeschichte und dem 1. Korintherbrief.
Nein, wir brauchen die ganze Bibel mit all ihren Teilen. Wir brauchen die Lehren der Geschichte Israels; wir brauchen die Innigkeit der Psalmen so gut wie die Donnerkeile der Propheten; wir brauchen die Beschreibung des Lebens unseres Herrn Jesus. Wir brauchen die Abhandlungen des Apostels Paulus, ebenso wie die Rügen des Jakobus und die Ermunterungen und Ermahnungen des Johannes. Wenn wir täglich und fortlaufend in der Bibel lesen, werden wir nicht einseitig werden. Gottes Heiligkeit und Gottes Liebe, beide werden vor unseren Augen immer größer. Gottes Souveränität und die Verantwortung des Menschen, beide bekommen wachsendes Gewicht; Gemeindebau und Mission; persönliche Frömmigkeit und gute Werke ebenso.
2.4 Die Schrift ist harmonisch und einheitlich
Die Heilige Schrift bildet ein geschlossenes, übereinstimmendes Ganzes. Das muss so sein, da sie von einem Geist eingegeben ist. Alle ihre Schreiber wur- den vom gleichen Geist gelehrt, erleuchtet, getragen und getrieben (1.Kor 2,9- 13; 2.Petr 1,20). Das ist für die persönliche Bibellese äußerst wichtig. Diese Tatsache lehrt mich, Gottes Wort in all seinen Aussagen zu vertrauen. Sie lehrt mich zu glauben, dass Gott genauso heilig ist und daher den Sünder, der nicht umkehrt, der ewigen Pein übergibt, wie auch, dass Gott Liebe ist und nie aufhört Liebe zu sein. Dass ich das nicht miteinander in Einklang bringen kann, bedeutet nicht, dass Gottes Liebe und Gottes Heiligkeit sich widersprechen, sondern dass mein Verstand nicht reicht, beides gleichzeitig zu denken.
Das Wissen um die Harmonie aller biblischen Aussagen lehrt mich zu glauben, dass Gott souverän zum Heil erwählt, und zwar ganz einfach, weil Gott es mir so sagt. Es lehrt mich auch zu glauben, dass jeder Mensch verantwortlich ist, Buße zu tun und an das Evangelium zu glauben. Auch das glaube ich, weil Gottes Wort es so deutlich sagt. Es lehrt mich anzunehmen, dass die Errettung ganz aus Gnade ohne den geringsten Beitrag des Erretteten geschieht und dass die Verdammnis ganz vom Menschen verschuldet und veranlasst ist. Dass ich diese beiden Wahrheiten nicht logisch miteinander aussöhnen kann, beweist nicht, dass die Bibel widersprüchlich ist oder dass sie verschiedene Theologien und Denkschulen enthält; nein, das zeigt mir nur, dass ich in meinem Verstehen als Geschöpf und erst recht als in Sünde Geborener sehr begrenzt bin, dass der Mangel bei mir ist, nicht bei Gott und seinemWort.
2.5 Die Schrift ist deutlich und klar Ps 119,105
Dass die Schrift deutlich und klar und darum von jedem Hörer oder Leser verstanden werden kann, wird in der Bibel selbst vorausgesetzt. Gott gab in seinem Volk den Eltern den Befehl, in der Familie die Wahrheiten und die Gebote der Schrift zu lehren (5.Mo 6,6.7). Der Befehl ist nur sinnvoll, wenn erstens die Eltern die Schrift verstehen und entsprechend lehren können, und wenn zweitens die Kinder das Gelehrte verstehen und aufnehmen können. In Ps 1,2 wird jeglicher Mann glückselig genannt, der Tag und Nacht über das Wort Gottes sinnt. Man muss nicht Theologe, man muss nicht Priester sein, um die Schrift zu verstehen. Der Sohn Gottes verwies seine Zuhörer immer wieder auf die Schrift (Mt 6,21.38 etc; Lk 10,26; 12,3-5; 19,4; 22,31; Joh 3,10; 6,45). Paulus schreibt seine Briefe „allen Geliebten Gottes“ (Röm 1,7), allen „Geheiligten in Christus Jesus“, „allen, die den Namen des Herrn Jesus Christus anrufen“ (1.Kor 1,1.2), nicht nur den Vorstehern oder den Lehrern der Gemeinde. Er rechnet damit, dass alle Gläubigen seine Briefeverstehen.
Weil die Schrift ohne menschliche Vermittlung – durch die Kirche, durch Priester, durch Gelehrte – dem Glaubenden verstehbar ist, genügt die Schrift. Ohne die perspicuitas und claritas scripturae – die Deutlichkeit und Klarheit der Schrift – können wir am Sola Scriptura nicht festhalten. Wir wären dann auf Helfer und Mittler angewiesen, die uns erst den rechten Sinn der Schrift verständlich machen könnten, müssten also statt Sola Scriptura sagen: Scriptura plus das Lehramt der Kirche. Eben dagegen mussten die Reformatoren ankämpfen. Erasmus hatte in seiner Schrift vom freien Willen vorgebracht, die Bibel sei zu dunkel, als dass man aus ihr Gewisses erfahren könne zur Streitfrage vom freien oder unfreien Willen. Darauf antwortete Luther:
„Dass aber in der Heiligen Schrift etliche Dinge sollten verworren sein und nicht alles deutlich und klar, das haben wohl die gottlosen Sophisten also in die Welt ausgeschrieen, deren Wort du auch brauchest, Erasme; aber sie haben noch nicht einen einzigen (Bibel)Spruch aufgebracht, können auch nichts aufbringen, damit sie ihren erdichteten tollen Wahn beweiseten. Es hat der Satan durch solch fratzenhaftes Gaukelspiel die Leute die Bibel zu lesen abschrecken wollen und die Heilige Schrift verächtlich machen, damit er seinen wüsten Greuel durch die Philosophie in die Kirche einführe“ (Vom unfreien Willen).
Wäre die Schrift nicht deutlich und klar, hätten wir keine Antworten auf den Agnostizismus in all seinen Schattierungen, besonders auch den frommen (den Erasmus vorschützte). Zu oft und zu leichtfertig drücken wir uns davor, ernsthaft um ein gründliches Verständnis von umstrittenen Lehren zu ringen. Es ist bequemer, die verschiedenen Ansichten über das Wesen und Werk des Heiligen Geistes „stehen zu lassen“ unter dem Verweis, all unser Erkennen sei nur Stückwerk. Das gleiche kann gesagt werden vom wachsenden Widerwillen vieler Christen und Gemeinden, auch über so fundamentale Lehren wie das Inspirationsverständnis der Bibel, die Rechtfertigung durch den Glauben etc. nachzudenken, um zu festen und biblisch begründeten Positionen zu kommen.
Dass die Schrift klar ist, heißt nicht, sie sei immer leicht zu verstehen. Manches ist schwierig zu verstehen (siehe 2.Petr 3,16), aber nicht unverstehbar, weshalb Petrus sagt, dass die Unbefestigten sie eigenhändig verdrehen zu ihrem eigenen Verderben. Zur Erklärung schwieriger Stellen gilt das unter 2.3 schon genannte Scriptura sacra sui ipsius interpres (die Heilige Schrift legt sich selbst aus). Es braucht allemal Geduld, Fleiß und Vertrauen, welche Gott aber nie unbelohnt lassen wird. Wer eifrig sucht, bittet und anklopft, dem wird der Heilige Geist immer wieder die Schrift auftun (siehe auch 1.Joh 2,27).
2.6 Die Schrift ist wirksam Hebr 4,12
Die Schrift ist wirksam, weil sie Gottes Wort ist (Hebr 4,12). Sie führt aus, wozu Gott sie uns gesandt hat (Jes 55,11): Sie weckt Glauben (Röm 10,17), und sie wirkt fortwährend in dem, der sie im Glauben aufnimmt (1.Thess 2,13). Sie überführt (Joh 16,8), sie bringt zurecht, sie befestigt und sie rüstet aus (2.Tim 3,16-17); sie nährt (Jer 15,16; 1.Tim 4,6), sie leitet durch ihr Licht (Ps 119,105), sie erleuchtet (Ps 119,130), sie heiligt (Ps 17,4; Joh 17,17). Das soll mich ermuntern. Gottes Wort wird nicht ohne Wirkung auf mich bleiben, wenn ich es glaubend lese. Gottes Wort wird nicht ohne Wirkung auf die Hörer bleiben, wenn ich es im Glauben lehre und predige.
2.7 Die Schrift ist abgeschlossen Offb 22,18
Der Kanon ist nicht offen. Gott hat immer wieder zu verstehen gegeben, dass kein Mensch etwas zu seinen offenbarten Worten hinzutun oder von seinen Worten wegnehmen darf (5.Mo 4,2; Spr 30,6). In Verbindung mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes sollte Gottes Heil vollendet und seine Offenbarung abgeschlossen werden: Hebr 1,1; Kol 1,25; Jud 4; Offb 22,18.19. Besonders zu beachten ist die letztgenannte Stelle, denn mit ihr ist der Kanon der Schrift versiegelt. Ernst Wilhelm Hengstenberg schreibt dazu:
„Der natürliche Mensch muß, wie in der Schrift überhaupt, so ganz besonders in [dem Buch] der Offenbarung vieles nicht finden, was er will, ebenso vieles finden, was er nicht will … Es ist nicht zufällig, daß dieselbe Warnung gegen den Schluß des ersten (nämlich des Pentateuch, B.P.) und gegen Schluß des letzten Buches des Kanons (nämlich der Apokalypse, B.P.) vorkommt, dessen Verfasser klar erkannte, daß er die Aufgabe hatte, den Kanon abzuschließen, … Die in dem ersten und dem letzten Buche ausgesprochene Warnung gilt der Sache nach auch für Alles, was zwischen beiden [Büchern] liegt.“20
Wäre die Schrift nicht abgeschlossen, könnte ich nicht sagen, sie sei vollständig (siehe 2.3); wäre sie nicht abgeschlossen, könnte ich die Bibel nicht mit der Bibel auslegen und über das Erkannte Gewissheit und Zuversicht haben; denn es wäre ja denkbar, dass noch eine göttliche Offenbarung alles bisher Erkannte in ein ganz neues Licht stellte.
3. Die Preisgabe des Offenbarungsglaubens und die Endzeit
Der Mensch unserer Tage hat sich selbst zur Mitte seiner Welt gemacht, zum Schiedsrichter über gut und böse. Er hat den Platz eingenommen, der allein Gott zusteht. Die prophetischen Aussagen des Herrn und seiner Apostel lehren uns, dass genau das am Ende der Zeit geschehen wird. Die Religion des Antichristen ist die Anbetung des Menschen:
„Lasst euch von niemand auf irgend eine Weise verführen, denn dieser Tag kommt nicht, es sei denn, dass zuerst der Abfall komme und offenbart worden sei der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens, welcher widersteht und sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt oder ein Gegenstand der Verehrung ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei“ (2.Thess 2,3-4).
„Und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tiere die Gewalt gab, und sie beteten das Tier an und sagten: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu kämpfen?“ (Offb 13,4).
Weil der Mensch mit seinen Wünschen und Projekten zur Hauptsache geworden ist, muss dem Menschen übergeordnete, normative, und das heißt: göttliche Wahrheit zurücktreten. Erst die Bibelkritik ermöglichte in den Ländern der alten Christenheit die endzeitliche Religionsvermischung, die ja nichts anderes ist als eine religiöse Form der Verabsolutierung des Menschen.
Die heutige Religionswissenschaft, Anthropologie und Soziologie hält alles Wissen nur noch für kultur- und gesellschaftsbezogen. Dass es absolute und für alle verbindliche Wahrheiten geben sollte, wird von vornherein ausgeschlossen.
Nicht nur in den Fragen der Erkenntnis und des Erkennens, sondern auch in den Fragen der Ethik setzt der Mensch allein das Maß. Die ganze Sittlichkeit der Moderne und der Postmoderne beruht auf Selbstgesetzgebung des menschlichen Willens. Selbstverwirklichung muss sein, Selbstverleugnung kommt nicht in Frage. Das hat auch auf die christliche Gemeinde abgefärbt. Sie ist je länger je weniger christozentrisch, sie stellt je länger je mehr den Christen in den Mittelpunkt. Sein subjektives Erkennen, Empfinden und Ergehen ist auch dem Christen wichtiger geworden als die objektiven Wahrheiten und Wirklichkeiten des Heils, des Himmels und des Reiches Gottes.
Damit wir als christliche Gemeinde ins Lot kommen, müssen wir zurück zur Schrift und damit zum Glaubensgehorsam. Um nicht umgestoßen und weggerissen zu werden (2.Petr 3,17), müssen wir an der Inspiration und an der Autorität der Heiligen Schrift festhalten und uns dieser Autorität im täglichen Leben bedingungslos beugen. Dazu gebe Gott uns Gnade.
Thomas Watson: „A Body of Divinity. Banner of Truth Trust“, London 1965. ↩
René Pache: „Inspiration und Autorität der Bibel“, Wuppertal: R.Brockhaus, 3.Aufl., S. 74-75. ↩
René Pache: „Inspiration und Autorität der Bibel“, Wuppertal: R.Brockhaus, 3.Aufl. 1985 S. 227. ↩
Eckhard Schnabel: „Inspiration und Offenbarung. Die Lehre vom Ursprung und Wesen der Bibel“, Wuppertal: R.Brockhaus Verlag, 1997, S. 9. ↩
Zitiert in: Adolf Zahn (Wolf Christian Jeschke Hg.): „Von Gottes Gnade und des Menschen Elend“, Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 2005, S. 224, 227. ↩
Philip Schaff (Hg.): „The Creeds of Christendom“, Vol. III. Baker Books, Grand Rapids 1998 (reprint). ↩
A.a.O. ↩
Zitiert bei Schnabel, S. 44-45. ↩
Zitiert bei Schnabel, S. 46. ↩
Charles Haddon Spurgeon, in: The Sword and the Trowel, October 1889. ↩
Immanuel Kant: „Der Streit der Fakultäten in drei Abschnitten“, S. 111. ↩
Schnabel, a.a.O. S. 51. ↩
Ebd., a.a.O. S. 78. ↩
Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, I, 2, S. 561f. ↩
Ebd., S. 565. ↩
Ebd., S. 562, 587. ↩
Schnabel, S. 19-20. ↩
Martin Luther, Vorrede zum Galaterbriefkommentar, WA 40 I, S. 33. ↩
Bibelbund-Verlag (Hg.): „Die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“, Hammerbrücke: Bibelbund-Verlag, 2003. ↩
Ernst Wilherm Hengstenberg: „Die Offenbarung des heiligen Johannes“, 2. Band, 2. Abtheilung, Berlin: Verlag von Ludwig Oehmigke, 1851, S. 77-80. ↩