LiteraturSystematische Theologie

Dogmatik in biblischer Perspektive

Der an der Goethe-Universität in Frankfurt lehrende und zugleich in Nidderau als Pfarrer tätige Lukas Ohly hat mit dieser „Dogmatik in biblischer Perspektive“ ein höchst interessantes Lehrwerk vorgelegt. Interessant deshalb, weil er die christliche Lehre in ihren Lehraussagen, also die sog. Dogmatik, aus biblischer Perspektive plausibilisieren will. Studiert man sonstige dogmatische Lehrbücher auf akademischem Niveau, kann man als (ungeübter) Leser durchaus frustriert werden, weil derart viele komplexe Sachverhalte und Traditionsstücke der christlichen Lehrbildung über die Jahrhunderte hinweg erörtert, abgewogen, diskutiert und bewertet werden, dass gelegentlich die Frage aufkommen kann: „Und wie leite ich nun das alles – also meinen christlichen Glauben – von der Bibel ab? Kann denn eine derart komplexe „Dogmatik“ ein normal sterblicher, theologisch ungeübter Christ überhaupt noch verstehen?“

Ohly fängt diese oft berechtigte Kritik an schwerfälligen dogmatischen Lehrbüchern in seinem „nur“ 272 Seiten umfassenden Lehrwerk geschickt ab, indem er didaktisch und erwachsenenpädagogisch gut durchdacht eine nachahmenswerte Konzeption wagt. Er adressiert bewusst die Studierenden an der theologischen Fakultät und zugleich seine Gemeindeglieder in der evangelischen Kirchengemeinde (Widmung, S. 5). Beide Zielgruppen sollen offensichtlich von dem Lehrbuch profitieren und dabei ihren Glauben verstehen lernen, durch Erfahrungen bestätigen und entsprechend darstellen können. Viele relevante theologische Lehraussagen, die Christen glauben und bekennen, werden in dieser Dogmatik aufgegriffen und sogleich an biblische Basisaussagen mit exemplarischen Bibelstellen zurückgebunden, um zu demonstrieren, dass sich die christlichen Lehren „an Bibeltexten belegen lassen“ (S. 12). Sodann werden diese Grundlagen an die Erfahrungswirklichkeit heutiger Christen angebunden und gedeutet. Dies alles geschieht so, dass weitgehend auf Fachsprache verzichtet wird, die gewählten Umschreibungen dennoch präzise den Sachverhalt darstellen sollen. Beispiel: Wo normalerweise mit „Prolegomena“ oder „Fundamentaltheologie“ eines der ersten Kapitel eines christlichen Lehrbuches bezeichnet wird, steht in Ohlys Werk: „Die Grundlagen, von Gott zu reden“ (S. 7).  Diese Konzeption lässt diese Dogmatik sympathisch erscheinen.

 

Was fällt noch auf?

Zum einen verfolgt der Autor einen „phänomenologischen“ Zugang zum christlichen Glauben, im Sinne der „Wahrnehmungswissenschaft“ als Erfahrungsdimension, auch hinsichtlich diverser Paradoxieerfahrungen (S. 12; 17ff. – in Anlehnung an Schleiermacher und Husserl etc.). Zum anderen liegt eine trinitarische, also eine an der Dreieinheit Gottes orientierte Struktur im Zentrum der Lehrentfaltung, vielleicht bewusst oder unbewusst in Anlehnung an die klassischen dreigliedrigen Glaubensbekenntnisse (Apostolikum usw.). So werden in den Kapiteln „II. Gottes Wirklichkeit“ (S. 39-76), „IV. Jesus Christus“ (S. 121-180) und „V. Der Heilige Geist“ (S. 181-238) die Kernaussagen des christlichen Glaubens dargelegt. Die Lehre von der Kirche (Ekklesiologie) samt den Aussagen zur Taufe, zum Abendmahl, zu den Dienstämtern der Kirche und zu den Gnadengaben erhalten keine eignen Kapitel, wie sonst oft in dogmatischen Lehrbüchern, sondern sie sind in das Hauptkapitel zum Heiligen Geist eingeordnet. Ein wichtiges Zentrum klassischer Dogmatiken, die „Soteriologie“ (die Lehre vom Heil/ der Rettung) existiert erstaunlicherweise nicht! Das ist sehr befremdlich. Erlösungstheologische Bemerkungen werden auf verschiedene Unterkapitel verstreut geäußert, doch eine dezidierte Erlösungslehre fehlt. Diesen Malus kann auch das Unterkapitel zur „Rechtfertigung“ – überraschenderweise dem Heiligen Geist zugeordnet (S. 187-204) – nicht kompensieren.

Ein eigenes Kapitel zur Bibel als Grundlage der Gottes- und Welt-Erkenntnis und der christlichen Glaubensaussagen, basierend auf Gottes Offenbarung, Inspiration und Geistleitung, fehlt eklatanterweise! Aussagen dazu sind auf (zu) wenigen Seiten unter „Grundlagen“ (S. 31-38) skizziert, ein Mangel, der das eigentlich positive Anliegen, „Dogmatik in biblischer Perspektive“ demonstrieren zu wollen, markant in Misskredit bringt, da in die Bibel als Buch Gottes und als normativ offenbartem Erkenntnisgrund an keiner Stelle adäquat eingeführt wird!

Lukas Ohly. Dogmatik in biblischer Perspektive.Tübingen: UTB 2020 272 S. 22,90 € ISBN 978-3-8252-5423-0

Die für den christlichen Glauben zentral wichtige Trinitätslehre im Rahmen der Gotteslehre wird unter „Gottes Wirklichkeit“ auf viel zu wenigen Seiten, zudem qualitativ völlig unzureichend abgehandelt (S. 45-51), inhaltlich bedauerlicherweise nicht sachgerecht biblisch belegt, sondern beinahe als Nebenschauplatz der christlichen Tradition präsentiert. Die Trinität als „Möglichkeit“, sich anderen Religionen dialogisch anzunähern (S. 51), um dadurch dann „eine große Familie“ (religionsübergreifend) werden können, muss als gravierende Fehldeutung des christlichen Glaubens wie der Trinitätslehre bewertet werden. Diese Einschätzung und andere dazugehörige Thesen überzeugen leider gar nicht.

Die trinitarischen Kapitel werden ergänzt – neben dem „Ziel des Buches“ (S. 11-13) – durch ein Grundlagenkapitel (S. 15-38), das zu klären versucht, wie und wieso wir von Gott überhaupt reden können und sollen. Die Schöpfungslehre und die Lehre vom Menschen als Geschöpf und Sünder und auch die Sündenlehre werden im Kapitel „Gottes Geschöpfe“ (S. 77-117) durchgenommen. Eine kurze, moderate Erklärung, wie die Naturwissenschaften und die Sinnhaftigkeit der biblischen Schöpfungslehre aufeinander zu beziehen sein können, bietet einen verständlichen Einstieg (Sinnfrage). Eine Reflexion der vorhandenen Welt- und Lebensentstehungsmodelle, inklusive der christlichen Sicht, wird allerdings nicht gesondert durchgeführt.

Das letzte inhaltlich bedeutsame Kapitel wird „Die letzten Dinge“ genannt. Es reflektiert demnach eine christliche Endzeitlehre (Eschatologie). Darin werden Gericht, Auferstehung, ewiges Leben, Reich Gottes und christlicher Trost (über den Tod hinaus) thematisiert, wie allerdings überall im gesamten Buch, sehr stark existentiell und erfahrungsbezogen gedeutet. Klassische, auch evangelikal-theologische Debatten, wie das Tausendjährige Reich, Himmel und Hölle, Ewigkeit usw. werden kaum bis gar nicht erwähnt oder gedeutet oder aber liberal-theologisch umgedeutet, die Grenzen zur Heterodoxie werden hierbei leider nicht selten überschritten.

 

Was lässt sich über den Inhalt des Lehrbuches sonst noch festhalten?

Um es kurz zu machen: inhaltlich bietet das Lehrbuch – wie ansatzweise bereits angedeutet – etliche „Fußangeln“, die theologisch nicht positiv zu werten sind, da u.a. die Zielgruppen „Kirchengemeinde/ Laien“, die ja ausdrücklich adressiert werden, unfähig sind, die einseitigen theologischen (!) Vorurteile und Vorentscheidungen des Autors zu durchschauen. Was meine ich?

  1. Gleich zu Beginn wird in der weitverbreiteten Tradition liberal-theologischer, bibelkritischer Vorgaben behauptet, dass „biblische Texte“ nur (subjektiv menschliche?) Modelle seien (also keine normativen Offenbarungsinhalte von Gott herkommend beinhalten) und „die Bibel selbst keine einheitliche Theologie“ vertrete (S. 13). Mit dieser unsachgerechten (weil undifferenzierten) Relativierung der Bibel wird dem Bibelleser sofort „vermittelt“, dass die biblischen Aussagen keine einheitliche Lehre vertreten (und „somit müssen wir uns darum auch nicht bemühen, eine solche auszuformulieren“, schlussfolgere ich einmal lapidar). Das gute Konzept Ohlys, „Dogmatik in biblischer Perspektive“ entfalten zu wollen, wird damit konterkariert, und insbesondere der ungeübte Bibelleser wird letztlich doch nicht zum Vertrauen in die Schriftaussagen als Wort Gottes als Grundlage für „seinen eigenen“ christlichen Glauben hingeführt. Die Bibeltexte mutieren dann leider nicht selten lediglich zu „Sprungbretttexten“, die „beruhigend-einlullende Funktion“ einnehmen, dass doch aktueller christlicher Glaube und die daraus abgeleiteten Erfahrungen irgendwie mit biblischen Texten verbunden werden können. Das jedoch ist viel zu wenig.
  2. Das Lehrbuch hat insgesamt fortlaufend gezählt 36 Unterkapitel. Jedes wird mit wenigen Literaturhinweisen abgeschlossen. Zielgruppe dieser Literaturhinweise dürften die Theologiestudierenden sein, da ein Gemeindeglied kaum diese Fachliteratur konsultieren wird. Allerdings liegt darin auch ein Problem! Einflussreiche Theologen und Philosophen, wie Schleiermacher, Husserl, Ebeling, Arendt, Horkheimer, Adorno, Jüngel, Härle, Welker, Dalferth, Nord usw. sind sicherlich nützlich für den, der akademisch-theologisch zu denken und zu urteilen gewohnt und geübt ist. Doch diese Referenzliteratur ist insgesamt viel zu einseitig gewählt. Kaum eine Erwähnung reformatorischer Schriften oder der Bekenntnisschriften unterschiedlicher evangelischer Denominationen, kaum eine aktuelle theologische Stimme, die nicht aus dem liberal-theologisch, bibelkritischen Lager käme. Das überzeugt nicht, v.a. hinsichtlich der Zielgruppe der Gemeindeglieder (aber auch hinsichtlich der der Theologiestudierenden), die – oft nicht fähig, diese Einseitigkeit zu durchschauen – zu einer eigenen Urteilsbildung und mündigen Lehrbildung „in biblischer Perspektive“ nicht befähigt werden.

 

Sprachlich lebensnah werden in Ohlys Buch viele gute Fragen gestellt: „Das Bedürfnis nach Erklärung ist hoch. Christen wollen wissen, welche Gründe dafür sprechen, dass der christliche Glaube die Wirklichkeit erschließen hilft“ (S. 11). Diese Fragen hat der Autor in langjähriger Erfahrung der Seelsorgepraxis un-akademisch beantworten lernen müssen (S. 11). Diese Lebensnähe zu Erfahrungen der Menschen heute zeichnet das Buch positiv aus. Die einzelnen Themen des Lehrbuches werden mit (wenigstens) einer exemplarischen Bibelstelle eingeleitet und dann theologisch reflektiert und im Stil einer Kurzpredigt/ Kurzandacht ausgelegt. Das lässt die Ausführungen existentiell für die Leserinnen und Leser bedeutsam werden. Themen, wie „Theodizee“ (S. 65-67), „Vorhersehung“ (S. 83-86), „Israel“ (S. 87-90) oder „Engel“ (S. 91-94) usw. werden erfreulicherweise nicht ausgelassen, aber – unterm Strich – oftmals nicht wirklich grundlegend oder „biblisch“ erläutert, um das „Bedürfnis nach Erklärung“ (s. 11) auch nur annähernd zu befriedigen.

Die Antworten, die jeweils anthropozentrisch und lebensnah als „in biblischer Perspektive“ entfaltete Glaubenslehre vermittelt werden, können inhaltlich nicht durchgehend überzeugen, da sie oft zu einseitig an liberal-bibelkritisch-theologische Antworten gebunden bleiben, sie zu wenig an evangelisch-reformatorischer Theologie orientiert sind, sie dabei zudem oft den Lehrkonsens aller christlichen „Kirchen“ ignorieren (Trinität, Christologie, Soteriologie, Schrift und Tradition, doppelter Ausgang im Gericht usw. ).

 

Beispiele: (a) In Fragen der „Allwissenheit Gottes“ proklamiert Ohly – als wäre das für alle Christen klar und selbstverständlich, was es aber nicht ist – dass Gott nicht im klassischen Verständnis allwissend sei und nicht allwissend sein müsse (S. 53f.), ganz im Sinne der Argumentation eines sog. Open Theism oder der Prozesstheologie. (b) Die Erzählung von „Adam und Eva“ ist für Ohly – klassisch liberal-theologisch – keine Geschichte vom Sündenfall und der „Ursprungssünde“ (S. 104), da Sünde keine „moralische Schuld“ ist (S. 150 u.ö.), sondern sie handelt vom „befreienden, aber auch beschämenden Prozess, selbstständig zu sein. Es ist eine Geschichte der Entstehung der Freiheit“. (c) Über die Zweinaturenlehre Christi wird typisch dialektisch uneindeutig gesprochen, nicht wirklich im Sinne der klassischen Deutungen der biblischen Offenbarungen des „wahren Gottes und des wahren Menschen“ (S. 123ff.). (d) Die Deutung der Auferstehung Jesu eiert typisch liberal-theologisch an klaren biblischen Offenbarungsaussagen herum, spricht von „nachträglichen Erfindungen“ rund um die Auferstehungsberichte der Evangelien (S. 165-176) und verwässert letztlich die Bestätigung der Aussagen aus 1Kor. 15, von der tatsächlichen Auferstehung Jesu Christi von den Toten grundlegend ausgehen zu müssen. In diesen und ähnlichen Lehraussagen ist die Grenze der christlichen Orthodoxie bedauerlicherweise weit überschritten. Zustimmung darf hier nicht mehr erwartet werden. Für theologisch ungeübte Kirchengemeindeglieder, die diese Lektüre wählen, eine Tragödie, weil sie lehrmäßig in die Irre geführt werden.

 

Fazit: Das Buch ist von der Konzeption her gut durchdacht. Die Vermittlung der strukturierten christlichen Glaubensaussagen zwischen „akademisch und zugleich existentiell lebens- und erfahrungsnah“ ist nachahmenswert für andere (künftige) Dogmatikprojekte, die auf nur wenigen Seiten den christlichen Glauben für die Gemeinde und die Lehrunterweisung (Katechetik) beschreiben möchten.

Inhaltlich-theologisch ist das Buch für Gemeinden und (theologisch ungeübte) Gemeindeglieder – egal welcher konfessionellen Prägung oder gemeindlichen Herkunft – nicht geeignet. Zu viele fehlgeleitete, unorthodoxe, liberal-theologische Thesen kontaminieren dieses Lehrbuch in (angeblich) „biblischer Perspektive“, das eben oftmals gar keine „biblische Perspektive“ liefert (!), so dass es – „gut gemeint, jedoch schlecht gemacht“ – nicht Gemeindegliedern zur Glaubensunterweisung zugemutet werden sollte.

Theologisch geschulte Personen und Theologiestudierende können – insbesondere unter apologetischem oder missionarischem Blickwinkel – mit dieser „Dogmatik“ studieren und in sehr gut lesbarer Kürze (!) kennenlernen, wie gegenwärtig insbesondere die unorthodoxen Deutungen der christlichen Lehre multiplikatorisch weite Verbreitung an theologischen Lehrstühlen und in Kirchengemeinden gefunden haben. Das wäre zumindest eine nützliche apologetisch-seelsorgerliche Aufgabe, die Gemeindeleitungen in ihrer Verantwortung nicht ignorieren dürfen.