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Das Erasmus Testament: Wie vor 500 Jahren ein griechisches NT eine gewaltige Wirkung entwickelte

Ein gutes Jahr vor der Reformation erschien 1516 das griechische Neue Testament des humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam. Obwohl Erasmus ursprünglich vor allem die lateinische Vulgata verbessern wollte, hatte seine Zusammenstellung griechischer Handschriften die eigentliche Wirkung. Die zweite Auflage von 1519 benutzte Martin Luther für seine Übersetzung des Septembertestaments von 1522. Erasmus‘ Arbeit wurde zum Vorbild für viele spätere Ausgaben eines griechischen Textes, auch wenn sie manche Schwächen hatte.

Am 1. März 1516 präsentierte der Basler Buchdrucker und Verleger Johann Froben ein „Ganz neues Werkzeug“, ein Novum Instrumentum omne, wie er es nannte. Es war für das gelehrte Europa bestimmt und in lateinischer und griechischer Sprache abgefasst. Das „Werkzeug“ war ein Wälzer von fast 1000 Seiten. 550 Seiten enthielten den Text des Neuen Testaments, zweispaltig abgedruckt: rechts auf Lateinisch und links auf Griechisch. Im Anschluss folgten mehr als 400 Seiten lateinische Anmerkungen, Annotationes. Die ersten 30 Seiten enthielten neben einer dreiseitigen Papstwidmung verschiedene Vorworte.

Dieses Buch wurde eine der wichtigsten Bibelausgaben aller Zeiten und hatte eine gewaltige Wirkung. Gott benutzte es als Werkzeug für die Reformation und seinen Verfasser als unfreiwilligen Wegbereiter dazu. Es war der in ganz Europa berühmte und weltgewandte Gelehrte Erasmus von Rotterdam. Er war Theologe, Priester, Philologe und galt als der berühmteste Humanist seiner Zeit.

„Der Mensch ist so angelegt, dass ihm der Schein mehr zusagt als die Wirklichkeit. Wer darauf gründlich und bequem die Probe machen will, gehe nur in eine Kirche zur Predigt. Wird dort ein ernstes Wort gesprochen, so schläft alles oder gähnt und findet es langweilig zum Erbrechen. Beginnt aber der Mann auf der Kanzel nach lieber Gewohnheit ein Altweibergeschichtchen, dann erwachen sie alle, sitzen auf und verschlingen ihn schier.“ Lob der Torheit

Schon in jungen Jahren hatte er damit begonnen, antike Weisheiten und Sprichwörter zu sammeln und zu kommentieren. Sein erstes großes Werk hieß Adagia, Sprichwörter. Im Jahr 1500 erschien es bei dem Verleger Manutius in Venedig. Acht Jahre später war die Sammlung bereits auf 3260 Sprichwörter angewachsen. Dieses immer wieder verlegte Werk trug viel zur Ver­breitung der huma­nistischen Bildung bei. Bis an sein Le­bensende ver­voll­­­ständigte der Autor die Samm­­lung, so dass sie schließlich bis auf 4251 Weis­­heiten angewachsen war. Eras­mus entwickelte überhaupt eine Leiden­schaft, Bildungs­bücher zu schreiben. Dazu gehörten auch Satiren wie das Lob der Torheit, das 1509 in England erschien. Erasmus war ein Vielschreiber mit einer sehr eleganten Ausdrucksweise. Man schätzt, dass er täglich etwa 1000 Wörter zu Papier gebracht und insgesamt etwa 150 Bücher geschrieben hat.

Um 1511 begann Erasmus in England, den lateinischen Text des Neuen Testaments durch Vergleiche mit griechischen und lateinischen Handschriften zu verbessern. Die lateinische Bibel, die sogenannte Vulgata, galt in dieser Zeit allerdings als völlig unantastbar. Erasmus begründete deshalb seine Vorschläge mit ausführlichen Anmerkungen zu den einzelnen Stellen, die er verbessern wollte. Seine gelehrten Notizen enthielten Erkenntnisse und Bibelzitate der Kirchenväter und Beobachtungen zur griechischen Sprache.

Mit diesen Anmerkungen im Gepäck und einer genauen Kopie der Vulgata reiste er im August 1514 nach Basel. Dort hatte er einen Drucker und Verleger kennengelernt, dessen Arbeiten eine sehr hohe Qualität aufwiesen: Johann Froben. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern war ja schon ein halbes Jahrhundert alt. Mit Froben wollte Erasmus künftig zusammenarbeiten. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft. Die erste Arbeit von Erasmus, die Froben herausbrachte, war ein Nachdruck der Adagia. Froben kopierte einfach den letzten Druck des Verlegers aus Venedig, einschließlich Schriftform und Layout. Für die Titelseite ließ er allerdings eine neue Illustration von einem gewissen Urs Graf anfertigen. Und genau diese etwas fragwürdige Illustration der Randleisten für die Titelseite verwendete Froben später auch für das Titelblatt der zweiten Ausgabe des Neuen Testaments.

Erasmus wollte in Basel eine verbesserte lateinische Übersetzung des Neuen Testaments herausbringen. Als christlicher Humanist war er überzeugt, dass man Christus nur nachfolgen könne, wenn man dessen eigene Worte genau kennt. Deshalb war er an einer möglichst exakten, dem griechischen Grundtext entsprechenden Wiedergabe des lateinischen Neuen Testaments interessiert. Im mittelalterlichen Europa war Lateinisch die Verkehrssprache der Gelehrten. Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Vorlesungen an den Universi­täten in ganz Europa auf Latein gehalten. Die Arbeit des Erasmus war deshalb nur für Kirchenmänner und Gelehrte lesbar.

Wir wissen nicht genau, wie es dazu kam, dass er sich entschloss, das Neue Testament auch in griechischer Sprache herauszubringen. Möglicherweise hatten Erasmus und Froben erfahren, dass man in Spanien schon seit Jahren an einem zweispaltigen griechisch-lateinischen Neuen Testament gearbeitet hatte und wollten ihnen doch noch zuvorkommen. Wir wissen heute, dass dieses Werk, der neutestamentliche Teil der sogenannten Complutenischen Polyglotte, bereits gedruckt vorlag, aber wegen fehlender päpstlicher Erlaubnis noch nicht verkauft werden durfte.

Andererseits wäre ein komplettes Neues Testament in griechischer Sprache eine Art Lebensversicherung für Erasmus, weil er dadurch beweisen konnte, dass er die als heilig erachtete lateinische Übersetzung, die Vulgata, nicht in Frage stellen, sondern sie nur verbessern und dem griechischen Text genauer anpassen wollte. So entschlossen sich Erasmus und Froben, zu den lateinischen Verbesserungen der Vulgata mit Anmerkungen, doch noch eine griechische Ausgabe hinzuzufügen.

„Nun zu den Theologen! Gescheiter freilich wäre es wohl, in dieses Wespennest nicht zu stechen und um diese stinkende Hoffart einen Bogen zu machen, denn die Leute sind hochnäsig und empfindlich und reiten am Ende mit ihren Schlusssätzen schwadronsweise Attacke, um mich zum Widerruf zu zwingen, und weigere ich mich, so schreien sie gleich: »Ketzerei«. Im Handumdrehen schleudern sie diesen Blitz, um den zu schrecken, der es mit ihnen verscherzt hat.“ Lob der Torheit

Mit dieser Arbeit begann Erasmus erst im Herbst 1515 in Basel. Dafür standen ihm sechs Handschriften zur Verfügung. Die älteste stammte aus dem 11. Jahrhundert und enthielt nur die Evangelien, vier stammten aus dem 12. Jahrhundert. Eine davon enthielt das ganze Neue Testament außer der Offenbarung, die zweite nur die Evangelien, die dritte nur die Apostelgeschichte, die katholischen Briefe und die Paulusbriefe und die vierte nur die Offenbarung. Eine der Handschriften war nicht einmal 100 Jahre alt. Sie enthielt die Apostelgeschichte, die katholischen Briefe und die Paulusbriefe. Es ist bemerkenswert, dass Erasmus eine viel ältere Handschrift aus dem 8. Jahrhundert nicht verwendete, obwohl sich diese in der Universität Basel befand und ihm zugänglich war.

Erasmus muss­te in den Hand­­­schriften jeden Satz vergleichen und bei Unter­­­schieden ent­­­scheiden, welches Wort oder welche gram­matische Form wohl am besten dem Grund­text entsprach. Bei der ein­zigen Handschrift von der Offen­ba­rung, die ihm zur Ver­fü­gung stand, fehlte außerdem das letzte Blatt. Auf diesem befanden sich die letzten sechs Verse des Buches. Kurzerhand entschied er sich zur Übersetzung der fehlenden Verse aus der lateinischen Vulgata ins Griechische. Es handelte sich um 132 Worte.

In Apg 9,6 fügte er einen ganzen Satz hinzu. Dort wird die Bekehrungsgeschichte des Saulus berichtet. Jesus sagte unter anderem zu ihm: „Steh jetzt auf und geh in die Stadt. Dort wird man dir sagen, was du tun sollst.“ Erasmus ergänzte aus der Vulgata: Und zitternd und erstaunt sagte er, Herr, was willst du, dass ich tue?

Wie Erasmus den griechischen Text wertete, offenbarte er am 26. August 1518 in einem Brief:

Ich habe zwar stets den griechischen Text wiedergegeben, aber ich billige ihn nicht immer, vielmehr ziehe ich den lateinischen Text bisweilen vor und gebe immer an, wo die rechtgläubigen lateinischen Schriftsteller mit den Griechen übereinstimmen oder nicht.

Die ganze Arbeit wurde in der ungeheuer kurzen Zeit von fünf Monaten bewältigt. Es war nicht nur alles gesetzt, korrigiert und gedruckt, sondern großenteils überhaupt erst geschrieben worden. Noch während des Druckplattenwechsels in der Werkstatt hatte Erasmus Anmerkungen und Änderungen in die vorliegenden Manuskripte eingefügt. In einem Brief vom 5. Juni 1516 gab Erasmus zu, dass er einen großen Teil seiner Zeit auf das Verbessern der Handschriften und das Korrigieren der Druckbögen habe verwenden müssen, deswegen sei die Ausgabe weniger sorgfältig, als er es erhofft habe. Mit ihrer hastigen Arbeit wollten die beiden Freunde offensichtlich den Spaniern zuvorkommen.

Die fertige Arbeit widmete Erasmus dem Papst Leo X. Dadurch sparte er sich wohl die Druckerlaubnis. Er schrieb unter anderem:

Ich habe wahrgenommen, dass die Lehre, die zu unserer Erlösung dient, in einer viel reineren und lebendigeren Form zu finden ist, wenn sie vom Brunnen-Kopf oder der tatsächlichen Quelle anstatt aus Teichen und Flüssen genommen wird. Und so habe ich das gesamte Neue Testament (wie sie es nennen) gegen den Standard des griechischen Originals überarbeitet … Ich habe einige Anmerkungen selbst beigetragen, in erster Linie um dem Leser die von mir vorgenommenen Änderungen zu zeigen und warum ich sie machte, und zweitens um Dinge zu entwirren und zu erklären, die vielleicht etwas kompliziert, unklar oder undurchsichtig sind.

Der Papst erwiderte (es war übrigens der, der Luther vier Jahre später exkommunizieren sollte):

Deinem Eifer wünschen Wir Heil und Segen … Uns selbst sollst du indes immer empfohlen sein und du sollst von Uns das Lob empfangen …

43 Jahre später allerdings wurde diese Bibelausgabe auf dem Konzil von Trient 1559 mitsamt den anderen Schriften des Erasmus auf den Index, das Verzeichnis der verbotenen Bücher der katholischen Kirche, gesetzt. Das erlebte Erasmus aber nicht mehr, der 1536 in Basel starb. Übrigens hatte Erasmus 1529 Basel verlassen, als dort die Reformation eingeführt wurde, die er ablehnte. Erst ein Jahr vor seinem Tod war er in die Stadt zurückgekehrt, um die letzte Ausgabe seines griechisch-lateinischen Neuen Testaments zu betreuen.

Inzwischen war das Novum Instrumentum omne, dieses neue Werkzeug, aber ein großer Erfolg geworden, nicht nur für den Drucker. Denn damit stand der Gelehrtenwelt zum ersten Mal ein gedrucktes vollständiges Neues Testament auch in der Sprache zur Verfügung, in der es ursprünglich verfasst wurde, nämlich in Griechisch.

In den nächsten drei Jahren nach Erscheinen der Erstausgabe widmete Erasmus sich mit großem Eifer der Revision seines Neuen Testaments. Den griechischen Text korrigierte er an 400 Stellen, allerdings hauptsächlich auf Druckfehler. Die meiste Zeit verwendete er für die Verbesserung seiner lateinischen Übersetzung und der An­merkungen, die er wesentlich erweiterte. Diese zweite korrigierte Auflage erschien 1519. Sie hieß nun nicht mehr „Neues Werk­zeug“, sondern Novum Testa­mentum omne „Das ganze Neue Testament“.

„Unbeschreiblich aber ist das Glück der Theologen, wenn sie Worte der Heiligen Schrift wie einen Wachsklumpen nach Belieben bald so, bald so zurechtdrücken, oder … wenn sie wie Zensoren des Erdkreises jeden zum Widerruf herbeizerren, der irgendwo irgendwas sagte, das nicht genau in das Gebäude ihrer direkten und indirekten Folgerungen passt …: »Dieser Satz ist ein Ärgernis, der ist zu wenig respektvoll, der riecht nach Ketzerei, der hat einen üblen Klang.«“ Lob der Torheit

Drei weitere Auflagen mit Textänderungen erschienen 1522, 1527 und 1535. Aber in allen war der lateinische Text der Vulgata stets das oberste Ziel des Erasmus. Deswegen ließ er ab der zweiten Auflage praktisch seine eigene lateinische Übersetzung des Neuen Testaments drucken, die sich allerdings immer noch stark an die Vulgata anlehnte. Die Veränderungen am griechischen Text blieben minimal. Nur für die Auflage von 1527 verbesserte Erasmus den griechischen Text noch einmal an ungefähr 100 Stellen, vor allem in der Offenbarung. Denn inzwischen war ihm auch die Arbeit der Spanier, die Complutenische Polyglotte zugänglich geworden. Er nahm aber keine gründliche Revision vor.

Dennoch konnte die von Erasmus revidierte Vulgata sich keines großen Erfolgs erfreuen. Sie relativierte nämlich die Autorität der Vulgata und demon­strierte damit, dass es doch möglich war, die traditionellen Formulierungen zu ändern. Auch damit öffnete sie die Tür für spätere Übersetzungen der Bibel in die Landes­sprachen.

Es war mit großer Wahr­schein­­lich­keit die zweite verbesserte Auflage des Erasmus-Testaments mit dem griechischen und latei­nischen Text und den An­mer­kungen, die Martin Luther ab 1521 als Grundlage für seine Über­setzung des Neuen Testaments ins Deutsche diente. Gott gebrauchte eine nur halbherzig hergestellte Ausgabe des Neuen Testaments aus den wenigen vorliegenden Handschriften dazu, letztlich in ganz Europa das Evangelium zum Leuchten zu bringen.

Literatur zur Vertiefung:

Martin Heide. Der einzig wahre Bibeltext? Erasmus von Rotterdam und die Frage nach dem Urtext. Nürnberg: VTR 2007.

Karl-Heinz Vanheiden. Näher am Original. Der Streit um den richtigen Urtext der Bibel. Witten/Dillenburg: SCM-R. Brockhaus/CV Dillenburg 2014.