ThemenOrientierung

Zur Krise der Evangelikalen: ein Zwischenruf zur Diskussion gestellt

Die Evangelikale Bewegung ist in einer Identitätskrise, in der ihre Fundamente in Zweifel gezogen werden. Das liegt vor allem daran, dass der biblische Auftrag für die Gemeinde nicht mehr klar gesehen und gelebt wird. Aus der Krise gibt es nur einen Ausweg durch Abkehr vom Zweifeln am Wort Gottes, von der Zaghaftigkeit im Bekenntnis und der Konzentration auf den Auftrag der Gemeinde Jesu in der Welt.

Die evangelikale Bewegung ist in eine Krise geraten. Es ist offenbar eine Form von Identitätskrise, in der fraglich geworden ist, wofür man eigentlich stehen will. Gab es an den Rändern schon immer Unschärfen und unterschiedliche Meinungen, so sind seit ein paar Jahren auch die eigentlich unumstrittenen Grundlagen in der Mitte fraglich geworden. Dass die Bibel Gottes Wort ist, war klar, auch wenn es nicht bei allen ganz gleich verstanden wurde. Dass die Bibel deshalb auch der Maßstab sein muss für alles, was man glauben und wie man als Christ leben soll, wollte niemand bestreiten, der sich zu den Evangelikalen zählte. Man verstand sich mit Stolz als konservative Christen, die die Ethik der Bibel auch leben wollten, wenn die Gesellschaft es sonst ganz anders machte. Den Glauben offen zu bezeugen, aktiv zu evangelisieren und sich für die Verbreitung der Botschaft von Christus in der ganzen Welt einzusetzen, gehörte gewissermaßen zur DNA.

Nicht nur schon immer umstrittene Themen am Rand, sondern die Grundlagen in der Mitte der Bewegung stehen in der Identitätskrise der Evangelikalen in Frage.

Die Symptome der Krise sind mit Händen zu greifen. Die Rolle und das Verständnis der Bibel wurden über Jahre beständig aus dem innersten Kreis evangelikaler Leiter solange problematisiert, bis es ein Fehler sein sollte, dem Wort der Bibel zu vertrauen. Bekehrung zu Christus und Glauben an die Vergebung der Sünden soll nur noch eine Randnotiz des Christseins darstellen gegenüber dem Kampf für eine bessere Welt. Das Festhalten an einer biblischen Sexualethik wird aus der Mitte der Evangelikalen gleich zur Sünde erklärt. Dass dann die Spannungen innerhalb der Bewegung zunehmen, kann nicht verwundern.

Die Krise wächst in einer Zeit, in der sich der christliche Glaube in der westlichen Welt in wachsendem Maße angegriffen sieht. Konnte man die Angriffe von Seiten der atheistischen Bewegung noch beantworten, so scheinen sie trotzdem Spuren hinterlassen zu haben. Das liegt meines Erachtens vor allem in der Erfahrung, in einer Verteidigungsposition zu sein, die man nur mit Anstrengung halten kann. Die anschließenden Angriffe auf die christlichen Werte in der Ethik der Familie und der Sexualität verstärkten die Verunsicherung und führten auch dazu, dass bisherige Positionen fraglich wurden. Dabei lebt die Bewegung. Es werden neue Gemeinden gegründet. Junge Leute lassen sich an evangelikalen Ausbildungsstätten auf einen hauptamtlichen Dienst vorbereiten. Es gibt eine lebendige Musikkultur und Buchproduktion. Aber inwieweit darin die alten Werte lebendig sind, ist durchaus nicht immer klar. Die jüngere Generation verlangt zudem nach tragfähigen Begründungen, wobei sie einen Konservativismus, der bestimmte Werte für unhinterfragbar hält, weithin ablehnt. Wer eine Position aber modern und eloquent begründet, findet Gehör, selbst wenn dabei alle alten Werte fundamental in Frage gestellt werden.

1. Die Krise der Evangelikalen ist keine Krise des Fundaments

Es sind nicht die Grundüberzeugungen, die die vielgestaltige Gemeinschaft von Christen über Jahrzehnte zusammengehalten haben, die in die Krise geraten sind. Das sage ich auch angesichts dessen, dass einige, die sich als „bekehrte“ Christen verstanden, sich in den vergangenen Jahren „entkehrt“ und evangelikalen Gemeinden mit z.T. lautstarker Abrechnung den Rücken zugekehrt haben. Die Überzeugung, dass die Bibel Gottes Wort ist und die einzige Richtschnur für das sein kann, was ein Christ glauben und wie er leben soll, hat sich nicht als überholt oder falsch erwiesen. Das Festhalten daran wird aber aus den Reihen der Evangelikalen offen bezweifelt und vor allem von vielen nicht länger gelebt. Nicht die Überzeugung, dass zum Christsein eine lebendige Beziehung zu Jesus gehört, die für die meisten mit einer Umkehr beginnt und dann von der Liebe zur Bibel, lebendiger Gemeinschaft mit anderen Christen und dem offenen Bekennen zum Glauben bestimmt ist, ist zweifelhaft geworden. Nicht die missionarische Grundhaltung hat sich überholt, aber die Klarheit, für was man werben will, ist verloren gegangen.

Es macht natürlich einen großen Unterschied, ob eine Krise entsteht, weil sich das Fundament als brüchig erweist, oder weil man es aus unterschied­lichen Gründen verlässt.

Es macht natürlich einen großen Unterschied, ob eine Krise entsteht, weil sich das Fundament als brüchig erweist, oder weil man es aus un­terschiedlichen Grün­den verlässt. Das Fundament der Evangelikalen hat sich in früheren Krisen als sehr tragfähig erwiesen. Auf diesem Fundament wurde zum Beispiel in der Lausanner Bewegung die massive Kritik an Mission und Evangelisation überwunden. Man kann das Ergebnis sicher unterschiedlich beurteilen, aber dieses Fundament hat auch dazu geführt, dass ein Weg gefunden wurde, damit die charismatischen Aufbrüche nicht zu einer völligen Spaltung der evangelikalen Bewegung geführt haben. Auch die meisten der zahlreichen neugegründeten unabhängigen Gemeinden wollten irgendwie doch zur Evangelischen Allianz als Plattform der Evangelikalen gehören.

Die evangelikale Bewegung hat sicher das Problem jeder Bewegung, die in die Jahre kommt und ihre Fundamente für so selbstverständlich hält, dass sie aufhört, sie immer und immer wieder zu begründen und zu verteidigen. Es gehört zum Charakter des christlichen Glaubens und seiner lehrmäßigen Darstellung, dass in ihm nichts als selbstverständlich gelten kann. Der Glaube ist immer angefochten. Die Glaubensinhalte müssen nicht nur jeder neuen Generation neu dargelegt und innerhalb ihres Denkhorizontes begründet werden. Auch innerhalb der alten und älter werdenden Generation ist eine Pflege des Fundaments unerlässlich. Nicht das Fundament selbst ist brüchig. Wem allerdings seine Bedeutung und seine Grenzen nicht klar sind, der wird gedankenlos auch neben dem Fundament auf unsicherem Grund sein Glaubenshaus bauen und sieht es irgendwann verwundert auseinanderbrechen.

2. Warum ein gutes Fundament verlassen wird

Die evangelikale Bewegung hat in Deutsch­land seit den 1970er Jahren einen steten öffentlichen Bedeutungszuwachs erlebt. Ange­fangen hat das nach meiner Beobachtung mit der Erweckung unter Jugendlichen in den geburtenstarken Jahrgängen und der Gründung vieler freier Werke, war in den 1990ern noch nicht beendet als im Bildungsbereich zahlreiche private, christliche Schulen gegründet wurden und sich als erfolgreich erwiesen, und ging bis in die Anfänge der 2000er weiter, als aus Bibelschullehrern nach und nach Professoren wurden, die an evangelikalen Hochschulen lehrten, und die Evangelikalen auch politisch zunehmend wahr- und ernstgenommen wurden. Das alles war möglich mit dem Eintreten für eine biblische Ethik und dem Willen, Christus zu ehren und Menschen zum Glauben zu führen.

Die evangelikale Bewegung hatte auch und trotz ihres Eintretens für eine biblische Ethik und dem Willen, Menschen zum Glauben an Christus zu führen, gesellschaftlich ziemlich viel Erfolg.

Sich allein daran zu erinnern, kann erstaunen, weil man sich doch den aufstrebenden 68ern gegenüber sah, die mit ihrem erfolgreichen „Marsch durch die Institutionen“ nach und nach ihre weithin unchristlichen Werte in der Gesellschaft durchsetzten. Sie konnten diesen Erfolg nur haben, weil die Werte und die gelebte Moral der Nachkriegs­gesellschaft sich als schwach und oft heuchlerisch erwiesen. Zwar wurde z.B. vorehelicher Geschlechts­verkehr abgelehnt, aber ein erheblicher Teil der Eheschließungen wurde von werdenden Eltern vollzogen, weil man heiraten „musste“. Weil der Wiederaufbau nach dem Weltkrieg vorgegangen war, hatte man auch weithin die Auseinandersetzung mit den ideologischen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus vernachlässigt. Hier setzten die 68er erfolgreich an.

Aber in gewisser Hinsicht war auch der christliche Aufbruch der Evangelikalen erfolgreich, auch wenn er weniger spektakulär verlief. Wollte man es auf einen Punkt bringen, könnte man aber durchaus sagen, dass der christliche Kindergarten und die christliche Bekenntnisschule leben, während der „Kinderladen“ und die Reformschule verschwunden sind. Wenn es allerdings um den Wertekanon geht, so muss man zugeben, dass ein großer Teil der Agenda der 68er verwirklicht wurde. Trotzdem bleibt die Frage, wo die Gründe für die Krise der Evangelikalen liegen könnten.

a. Ungeistlicher Umgang mit Anerkennung

Christen können vorübergehend die Anerkennung der Welt bekommen. Sie dürfen aber darauf nicht bauen oder die Freundschaft der Welt suchen, sonst geraten sie unweigerlich auf einen ungeistlichen Weg.

Man könnte sich eigentlich über die Erfolgsgeschichte der Evangelikalen freuen, aber muss doch nüchtern einsehen, dass dadurch nicht das Evangelium in den Mittelpunkt öffentlicher Wahrnehmung gerückt wurde, sondern – wie das in der Welt normal ist – die Gruppe der Evangelikalen. Damit verbunden ist die Versuchung, die erreichte Stellung zu bewahren und Kompromisse mit den Maßstäben der anderen zu machen. Heute kämpfen Evangelikale mit der UNO für deren Milleniumsziele, sind Gesprächspartner im Vatikan und beim Weltkirchenrat und politische Experten in Sachen Christenverfolgung. Darüber ist vielen allerdings der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums von der Erlösung durch Jesus Christus von Mensch zu Mensch in den Hintergrund geraten. Oder der Auftrag wurde gleich so umgeformt, dass man die Gesellschaft ethisch-politisch im christlichen Sinne umgestalten bzw. transformieren will, weil das der Weg sei, dem Evangelium Einfluss zu verschaffen. Das lebendige Ringen um die Wahrheit des Evangeliums wurde oft hinter die Geschlossenheit der Bewegung zurückgestellt mit dem Argument, man müsse in der Öffentlichkeit doch zusammenstehen, damit so das Evangelium glaubwürdiger sei. Christen können vorübergehend die Anerkennung der Welt bekommen. Sie dürfen aber darauf nicht bauen oder die Freundschaft der Welt suchen, sonst geraten sie unweigerlich auf einen ungeistlichen Weg.

b. Bequemlichkeit im Wohlstand

„Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn!“ konnte Paulus sagen. Der normale Evangelikale denkt heute wohl eher: „Christus ist meine Freizeitbeschäftigung und angenehm leben ist mein Sinn.“ Die Pflege des Selbst ist dabei auch unter Evangelikalen eine beliebte Beschäftigung und kann sogar scheinbar biblisch begründet werden: man müsse schließlich erst sich selbst lieben, damit man Gott und den Nächsten lieben könne. Das alles hat Folgen. Christen suchen sich eine Gemeinde, die etwas zu bieten hat und meinen dabei oft gute Unterhaltung und Stärkung des Selbst, während eine halbgare Verkündigung tolerierbar erscheint. Die Kraft, schwierige Verhältnisse auszuhalten, hat nach meiner Beobachtung aber deutlich abgenommen. An der verbreiteten Empfindlichkeit zeigt sich, welches Ausmaß die Selbstverliebtheit gewonnen hat. Die Ansprüche sind auf vielen Ebenen gewachsen, nur auf biblisch-theologischer herrscht weithin Genügsamkeit.

c. Ungeistlicher Umgang mit Bedeutungsverlust

In den letzten Jahren ist ein allgemeiner Bedeutungsverlust christlicher Positionen in Europa vorangeschritten, der sich zwar lange abgezeichnet hatte, dann aber mit Macht eintrat. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass eine biblische Sexualethik, über die unter Evangelikalen lange weitgehend Einigkeit bestand, öffentlich nicht mehr nur als altmodisch angesehen wird, sondern inzwischen als menschenverachtend. Sie diskriminiere, wenn sie bestimmtes Verhalten Sünde nenne. Sie schade dem Selbstbewusstsein des Menschen, mache ihn klein, sage ihm, dass er nicht richtig sei und verursache Depression oder gar Selbstmord. Solche Vorwürfe gab es früher vereinzelt auch, jetzt aber führen sie zunehmend zur Aufgabe biblischer Positionen und werden z.T. auch von Evangelikalen übernommen. M.E. liegt das vor allem an der Furcht vor Widerstand und weiterem Bedeutungsverlust. Die Evangelikalen haben etwas zu verlieren und da erscheint die öffentliche Anerkennung vielen verlockender als die Anerkennung bei Gott.

d. Vernachlässigung der Theologie

Wenn biblische Lehre vernachlässigt wird, bleibt das entstehende Vakuum nicht leer, sondern wird meist mit unbiblischer Lehre gefüllt, wenn diese den Christen ohne Unter­scheidungs­vermögen nur eloquent vorgetragen wird.

Unter den Evangelikalen gab und gibt es gute Theologen. Trotzdem sind das theologische Arbeiten und die Formulierung der Wahrheit des Glaubens in der Breite vernachlässigt worden. Mal steht die Praxis im Vordergrund und Bibelstudium ist nur Theorie. Dann schaffen Glaubensüberzeugungen angeblich nur Streit und Trennung. Schließlich sei Theologie vor allem Biografie, weil eben jeder seine Meinungen hat, je nach dem wie das Leben ihm mitspielt. Was lohnt der Streit oder die Mühe, wenn alle Auslegungen und Glaubenslehren nur subjektive Meinungen sind? Da scheint es Irrlehre nicht mehr zu geben, sondern nur noch andere Ansichten, die man nicht diskriminieren soll. Aber das dabei entstandene Vakuum bleibt nicht leer, sondern wird durch unbiblische Lehren gefüllt. Ich habe den Eindruck, dass viele evangelikale Christen nun ohne gesundes Unterscheidungsvermögen alles Mögliche und Unmögliche in sich aufnehmen: althergebrachte bibelkritische Argumente, Tiefenpsychologie, Pragmatik oder Sondermeinungen aus der Werkstatt von Privattheologen, ob diese nun von Konservativismus oder von Liberalismus geprägt sind. Man erwählt sich Lehrer, die vor einigen Jahren kaum Gehör gefunden hätten, weil sie das Papsttum verehren, Wunder und sogar die leibliche Auferstehung in Zweifel ziehen, die Geschichtsschreibung der Bibel für unhistorisch erklären oder die biblische Eheethik als überholt ansehen und dabei mit Selbstverliebtheit glänzen. Wäre das Unterscheidungsvermögen nicht derart vernachlässigt worden, könnten die meisten Bibelleser die oft windigen und manipulierenden Argumente schnell durchschauen und mit guten Antworten abwehren.

e. Verlust des Evangeliums

Das alles hat auf dem Gebiet, auf dem man sich besonders sicher fühlte, zu einem herben Substanzverlust geführt. Was genau das Evangelium ist, scheint vielen aus der evangelikalen Bewegung nicht mehr klar zu sein. Nach meiner Beobachtung ist das Evangelium derart ausgehöhlt, dass es für viele zu dem Lebensgefühl geworden ist, selbst doch irgendwie von Gott geliebt zu sein. Es besteht Unklarheit, warum der Mensch ein Sünder ist und Erlösung braucht. Wie Jesus die Rettung durch seinen Opfertod und die Sühne gebracht hat, erscheint als unmodernes, missverständliches Interpretationsmodell. Von Johannes 3,16 bleibt dann nur der erste Teil übrig: „So sehr hat Gott die Welt geliebt.“ Der „schwierige“ Teil, dass Gott seinen Sohn in den Tod gab, die Rettung nur für Glaubende versprochen ist und diese im „ewigen Leben“ besteht, ist keineswegs mehr unbestritten. Warum Gebote keine Tipps für ein erfolgreiches Leben sind und auch für den Glaubenden Bedeutung haben, ohne dass sie zu Gesetzlichkeit führen müssen, wissen viele nicht. Evangelikale Prediger rufen noch zum Glauben, allerdings scheint mir das oft die Einladung zu dem Lebensgefühl des Angenommenseins zu sein, aber nicht zu dem Erlöser Jesus Christus, der für uns sterben musste, um uns mit Gott zu versöhnen.

3. Die Evangelikalen werden gebraucht

Die evangelikale Bewegung in Deutschland hat bei allen Schwächen für konservative, bibelorientierte Christen, Gemeinden und Werke Orientierung und Befruchtung, gegenseitige Korrektur und eine Plattform für christliche Gemeinschaft geboten, die auch weiter gebraucht wird. Wenn sie sich allerdings nicht auf ihr Fundament besinnt und auf dieser Grundlage die aktuellen Herausforderungen annimmt, wird sie zerbrechen oder so verkümmern, dass sie ihre geistliche Aufgabe nicht erfüllt, sondern eher als politische Vertretung im öffentlichen Konzert fungiert. Meines Erachtens kann ein Umschwung nicht mehr durch das Drehen an ein paar Stellschrauben erreicht werden, sondern nur durch eine echte innere Umkehr, die mindestens die folgenden Bereiche betreffen muss.

a. Zurück zur Bibelbewegung

Es ist eine Umkehr notwendig vom ständigen Problema­tisieren des Satzes „Die Bibel ist Gottes Wort“, wenn wir wieder zu echter Freude an der Bibel und am Bibelstudium zurückkommen wollen.

Längst haben auch viele Leiter in der evangelikalen Bewegung erkannt, dass sie keiner Bibelbewegung mehr vorstehen, sondern die schlichte Bibelkenntnis genauso abgenommen hat wie eine gesunde Auslegung. Geblieben ist nur der Hang, alles Mögliche und Unmögliche ziemlich willkürlich mit der Bibel begründen zu wollen. Dass es auf breiter Basis zu einem Zurück zur Bibel kommt, kann nur erreicht werden, wenn die Zuverlässigkeit, Schönheit und Bedeutung der Bibel wieder in den Vordergrund gestellt wird. Es ist eine Umkehr notwendig vom ständigen Problematisieren des Satzes „Die Bibel ist Gottes Wort.“, von den Warnungen davor, der Bibel treu sein zu wollen, von den unnötigen Kompromissen mit historisch-kritischer Bibelauslegung. Wir brauchen eine Hinkehr zu echter Freude an der Bibel, die sich in genauer Bibellese und Bibelauslegung aus­drückt.

Es wird allerdings m.E. nicht einfach ein allgemeines Zurück zu „naiver“ Bibelbegeisterung geben können. Es besteht ein großer Bedarf an einer biblischen Hermeneutik, also einer Lehre vom Verstehen der Bibel. Dabei geht es vor allem darum, wie die Bibel selber verstanden werden will. Eine evangelikale Hermeneutik darf sich nicht in komplizierten Kunstgriffen ergehen, die am Ende behauptet, dass das Gegenteil dessen dastünde, was jeder lesen kann. Sie muss vielmehr vor allem auf die Funktion der Sprache verweisen, die Gott erwählt hat, um seinen Willen und sein Herz mitzuteilen. Eine Auslegungskunst, die letztlich das einfache Lesen der Bibel problematisch macht, muss abgelöst werden vom Achten auf die inneren Regeln der Bibel zu ihrem gewissen Verstehen. Das aber könnte nicht nur eine neue Freude an der Klarheit der Schrift hervorbringen, sondern auch die deprimierende Willkürlichkeit der Auslegung begrenzen.

b. Mut zum Zeugnis von Gesetz und Evangelium

Wir brauchen eine Abkehr davon, dass das feste Überzeugt­sein von der Botschaft Gottes schlecht oder unchristlich sein soll. Gewissheit gehört zum Wesen des Glaubens und der Christ steht nicht für eine unsichere Botschaft.

Unsere Zeit braucht eine evangelistische Offensive. Allerdings haben sich viele alte Wege überholt und bis neue gefunden sind, braucht es vor allem das persönliche Zeugnis von Mensch zu Mensch. Dazu aber muss das ganze Evangelium in seiner Tiefe in den Herzen der Glaubenden wohnen. Denn nur wovon das Herz voll ist, geht der Mund über. Wir brauchen eine Abkehr davon, dass das feste Überzeugtsein von der Botschaft Gottes schlecht sein soll. Gewissheit gehört zum Wesen des Glaubens. Ein Christ kann selbstverständlich auch in Zweifel geraten, aber er steht nicht für eine zweifelhafte Botschaft.

Wir brauchen eine Abkehr von jedem Evangelium light, von den vielen Versuchen, es dem Nächsten schmackhaft zu machen und eine Hinkehr zu den Tiefen und dem Reichtum des biblischen Evangeliums. Das ist herausfordernd und geht nicht ohne eine Rückkehr zu anspruchsvoller Glaubenslehre in der Gemeinde. Das würde aber auch die Freude am Evangelium fördern, denn jeder menschengemachte Abklatsch kann nicht überzeugen und wirkt bald fade und abstoßend.

c. Trennung von Politik und Kirche

Dass Christen Gutes für ihre Gesellschaft bewirken wollen und sich in politische Diskussionen einschalten, ist heute naheliegend und m.E. auch biblisch nicht abzulehnen. Das macht es aber umso wichtiger, politisches Engagement und christlich-biblischen Auftrag der Christen zu unterscheiden. Wir brauchen eine klare Abkehr von allen Formen der Vermischung. Das Evangelium wird nicht durch politische Maßnahmen verbreitet, sondern durch lebendiges Zeugnis. Gottes Reich kann nicht mit menschlichen Mitteln gebaut werden.

Die Christenheit kann auch nicht aus (politischer) Rücksichtnahme auf die Benennung von Irrlehre verzichten. Wenn sie allerdings etwas Sünde nennt, muss sie auf die theologische Dimension verweisen: Sünde ist Feindschaft gegen Gott. Etwas anderes ist, dass das gleiche Verhalten auch gesellschaftlich schädlich sein kann. Diebstahl, Mord, Ehebruch sind Sünde und schaden der Gesellschaft.

Der Auftrag der Kirche ist, zur Umkehr zu Gott zu rufen und zu zeigen, wie diese durch den Glauben an Christus möglich ist. Die Gesellschaft zu verbessern, ist nicht der Auftrag der Kirche, auch wenn manche Christen eine Berufung zu politischem Engagement haben. Die Umkehr zu Jesus wird sicher auch positive Folgen haben, aber die sind für die Kirche in gewisser Weise zweitrangig, weil sie als Frucht ein Geschenk Gottes sind und nichts, was die Christen hervorbringen könnten. Nur die klare Hinkehr zum Auftrag, den Gott seiner Kirche gegeben hat, wird dem christlichen Leben Erfüllung und neue Freude am Glauben schenken, selbst wenn es von Unbequemlichkeit oder sogar Widerstand der Welt begleitet ist.