Die meisten Menschen haben Schwierigkeiten mit den Bibelstellen, die sie nicht verstehen. Ich für meinen Teil muss zugeben, dass mich gerade diejenigen Bibelstellen beunruhigen, die ich verstehe“, soll der amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) einmal gesagt haben. In seinem Eingeständnis steckt viel Wahres. Wenn ich selbst die Bibel lese, verstehe ich allerlei Botschaften bemerkenswert klar. Bei der Anwendung im alltäglichen Leben hapert es hingegen immer wieder.
Dass das Studium der Heiligen Schrift mitunter eine mühevolle Angelegenheit ist, leugnet Mark Twain freilich nicht. Die meisten Bibelleser kennen die Erfahrung, dass sie mit einzelnen Wörtern, Versen oder Erzählungen nicht klarkommen. Sie lesen einmal, zweimal. Doch sie verstehen beim besten Willen nicht, was die Stellen vor ihren Augen bedeuten. Schon oft habe ich Leute schwärmen hören, die Bibel sei im Grunde leichte Lektüre. Ich verkneife mir dann meist das Lächeln und denke im Stillen: „Warum habe ich nur ganze Regale voller Bibelkommentare zu Hause herumstehen? Gab nicht schon der Apostel Petrus zu, dass in den Briefen seines Mitstreiters Paulus ‚einige Dinge schwer zu verstehen sind‘ (vgl. 2. Petrus 3,16)?“
Damit mich niemand falsch versteht: Ich glaube an das, was die Reformatoren „Klarheit der Schrift“ genannt haben. Wie sie bin ich davon überzeugt, dass die Bibel in den entscheidenden Punkten eindeutig und lauter verkündigt (vgl. Psalm 19,9; 119,105) und der Wille Gottes erkennbar ist. Zugleich weiß ich aber, dass der Prozess des richtigen Verstehens vielschichtig ist und dem Leser mitunter einiges abverlangt.
1. Vom Verstehen eines außergewöhnlichen Buches
Dies hängt gewiss damit zusammen, dass unsere menschlichen Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sind und die Sünde unser Herz von einem ungetrübten Verstehen göttlicher Rede abzieht. Doch sollten wir auch daran denken, dass die Bibel ein außergewöhnliches Buch ist. Sie ist einerseits Gottes inspiriertes Wort und hat allen Leuten in jedem Kulturkreis etwas zu sagen. Andererseits ist sie von Menschen geschriebenes Wort und enthält mancherlei historische und kulturelle Eigenarten, die beim Lesen zu beachten sind. Gott hat sich ja innerhalb der Geschichte offenbart. Die Bibel ist kein überzeitliches, abstraktes Buch mit Formeln für jedermann, sondern setzt sich – genau genommen – aus 66 Dokumenten zusammen, die alle in konkreten historischen Situationen „geboren“ worden sind.
Die biblischen Bücher sind in konkreten historischen Situationen „geboren“ worden. Das sollte der Ausleger beachten.
Ein besonnener Bibelausleger wird folglich der Verlockung widerstehen, sich zu früh um die aktuelle Tragweite seines auszulegenden Abschnitts zu kümmern. Er arbeitet sich Schritt für Schritt an den Text heran. Zunächst taucht er hinab in die Zeit, in der sein Text „geboren“ wurde. Er wird sich etwa mit der antiken Kultur oder den damaligen geografischen Verhältnissen beschäftigen (Geschichte). Ohne Kenntnisse der vergangenen Epochen kann dieses Überschreiten des „kulturellen Grabens“ zwischen damals und heute nur eingeschränkt gelingen. Der Ausleger wird sich zudem mit den literarischen Aspekten der Texte auseinandersetzen (Literatur). Die Bibel enthält verschiedene literarische Gattungen wie Erzählungen, Lieder, Gebete, Gleichnisse, Visionen usw. Das Ernstnehmen dieser Gattungen und der antiken Sprachen (Grammatik, Syntax, Wortbedeutungen) ist für eine ertragreiche Lektüre von großer Bedeutung. Schließlich arbeitet ein solider Ausleger auch theologisch. Jede Passage der Bibel steht in einer Beziehung zur Gesamtbotschaft der Heiligen Schrift. Die Bibel spricht von Jesus Christus und ist von ihm her und auf ihn hin zu lesen (vgl. Johannes 5,39). Nur von dieser Mitte her kann später der Ertrag für die Gegenwart hörbar gemacht werden.
Wir merken, dass die Bibelauslegung um Geschichte, Literatur und Theologie kreist (vgl. die Abb. Hermeneutische Triade) und damit sehr facettenreich ausfallen kann. Jenen, die wegen ihres Dienstes, also etwa Prediger oder Lehrer, die Bedeutung von biblischen Texten besonders genau herausarbeiten müssen, wird viel abverlangt. Von uns, die wir die Bibel zunächst nur besser verstehen wollen, hilft es schon weiter, einige vergleichsweise einfache Tipps zu beherzigen. Wir wollen uns nachfolgend einige anschauen.
2. Die Bibel als einheitliches Gesamtwerk studieren
Was eine einzelne biblische Schrift sagt, kann nur im Rahmen der ganzen Bibel richtig verstanden werden.
Obwohl die Heilige Schrift 66 Bücher enthält (39 im AT und 27 im NT), die von zahlreichen Autoren zu verschiedenen Zeiten verfasst worden sind, dürfen wir nie aus den Augen verlieren, dass es sich um ein einheitliches Gesamtwerk handelt. Die Bibel hat in gewisser Hinsicht nur einen Urheber (die Theologen sprechen davon, dass Gott der erste Autor ist [lat. auctor primarius]). Der richtige Gebrauch der Bibel erschöpft sich also nicht darin, einen Detailabschnitt zu verstehen. Sie ist viel mehr als eine Sammlung antiker Texte, die möglichst präzise historisch verstanden werden wollen. Die Bibel ist Gottes Wort! Sie weist uns den Weg zu unserem Erlöser Jesus Christus und lehrt, wie wir unter seiner Herrschaft das Leben hoffnungsvoll und zielstrebig gestalten. „Denn was zuvor geschrieben ist“, sagt Paulus, „das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben“ (Römer 15,4, vgl. auch 1. Petrus 1,9-12). In einem Schreiben an seinen Mitarbeiter Timotheus erklärte der Apostel Paulus später:
„Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt“ (2. Timotheus 3,16-17).
Wir sollten also immer im Kopf behalten, dass die Bibel ein einheitliches Gesamtwerk ist, und einzelne Teile zu diesem in Beziehung setzen. Was eine einzelne biblische Schrift sagen will, kann nur im Rahmen der ganzen Schrift verstanden werden.
3. Treibe Exegese, nicht Eisegese
Immer wieder ist im Zusammenhang mit der Bibelauslegung das merkwürdige Wort Exegese zu hören. Das Fremdwort kommt von dem altgriechischen Begriff exegesis mit den Bedeutungen „Auslegung“ oder „Erläuterung“. Exegese meint das sorgfältige, systematische Studium der Bibel mit dem Ziel, die ursprünglich beabsichtigte Bedeutung der Texte zu entdecken. Es ist der Versuch, die Botschaft zu hören, welche die authentischen Empfänger hörten.
Wir stehen immer in der Gefahr, dass wir im Bibeltext nur das finden, was wir vorher da hineingelesen haben. Der Ausleger soll aber sein Herz füllen mit dem, was im Bibeltext steht.
Ich erwähne den Begriff nur, weil ein nützlicher Kontrastbegriff existiert, nämlich eisegesis. Dieses Wort stammt ebenfalls aus dem Griechischen und heißt so viel wie „hineinlegen“. Er bezeichnet damit das Gegenteil von „herausholen“ oder „auslegen“. Wir betreiben Eisegese, wenn wir etwas in den biblischen Text hineintragen, was da gar nicht steht, wie etwa unsere eigenen Vorurteile, Erfahrungen oder Sehnsüchte. Durch dieses „Hineinlegen“ verformen wir die Ursprungsbotschaft. Wir stehen in der Gefahr, in einem Bibeltext das zu finden, was wir suchen. Wir schütten ihn quasi mit dem zu, was in unserem Herzen wohnt. Die Interpretation ist dann eine Art Selbstprojektion auf einen uns vorgegebenen Text. Die Aufgabe eines Auslegers besteht jedoch darin, einen vorliegenden Bibeltext auszulegen und mit dem Ertrag dieses Vorgangs sein Herz zu füllen. Wir treiben also Exegese, lassen uns vom Text überraschen, auch dann, wenn das, was da steht, so gar nicht unseren Erwartungen entspricht.
4. Lesen, lesen, nochmals lesen
Eine gute Auslegung beginnt mit dem Lesen einzelner Abschnitte. Während wir unter Tipp 2 gesehen haben, dass jeder Text in seiner Beziehung zum Gesamtwerk studiert werden soll, geht es hier darum, alle einzelnen Elemente eines kleinen Sinnabschnitts gebührend wahrzunehmen. Wir sollten unsere Texte mehrmals aufmerksam lesen. Sind wir an einer fundierten Auslegung interessiert, welche die Basis für eine Andacht, Predigt oder Bibelarbeit bilden soll, kommen wir um das Lesen der angrenzenden Texte nicht herum. Noch besser ist es, dann das ganze Buch oder den vollständigen Brief zu lesen, aus dem der Textabschnitt stammt.
5. Beschäftige dich mit dem historischen Kontext
Sind wir durch die Einstiegslektüre mit den Grundthemen unseres Abschnittes vertraut, können wir uns dem historischen Kontext zuwenden. Der historische Kontext betrifft Zeit und Kultur des Autors und seiner Leser, einschließlich geografischer, politischer und sogar topografischer Gegebenheiten. Wir bemühen uns um das Verstehen der Welt, aus der dieser Text stammt.
Der historische Kontext ist bei den meisten der 66 biblischen Bücher bzw. Briefe jeweils ein anderer. Die Dokumente stammen von unterschiedlichen Autoren und gelten verschiedenen Empfängern. So war Lukas ein Arzt, der in einer anspruchsvollen Sprache schrieb und sich sehr um historische Genauigkeit bemühte (vgl. Lukas 1,14). Amos war ein Hirte und Beerenzüchter ohne Prophetenausbildung, obwohl Gott ihn in den Prophetendienst berief (Amos 7,14f.). Das Johannesevangelium wurde am Ende des 1. Jhs. hauptsächlich für Christen in Kleinasien geschrieben. Matthäus schrieb sein Evangelium ca. um 60 n. Chr. für Juden. Es setzt die Vertrautheit mit dem Alten Testament voraus. Hebräische Ausdrücke, jüdische Sitten und geografische Namen werden nicht erklärt.
Zwingend für ein Verstehen des historischen Kontextes ist das Erfassen von Anlass und Zweck des Textes. Es gilt zu fragen, welchen Anlass es für das Schreiben unseres Dokumentes gab und was der Autor damit beabsichtigte.
Beim Lesen des 1. Korintherbriefes wird beispielsweise deutlich, dass seine Abfassung durch briefliche Anfragen und mündliche Überlieferungen veranlasst wurde. Paulus beabsichtigte mit seinem Brief, diese Anfragen zu beantworten (z. B. 1. Korinther 7,1). Dies erklärt, warum der Brief keinen einheitlichen Gedanken entwickelt, sondern fast zusammenhanglos verschiedene Fragen des Gemeindelebens beantwortet.
Je besser wir als Leser die Absender und Adressaten sowie ihre Lebensbedingungen kennen, desto besser verstehen wir die Botschaft selbst.
6. Studiere den literarischen Kontext
Neben dem Betrachten des historischen Kontextes verlangt die Auslegung das Studium des literarischen Kontextes. Literarischer Kontext bedeutet, dass einzelne Worte nur im vollständigen Satz Aussagekraft haben und die Bedeutung der Sätze sich meist nur im Zusammenhang mit den angrenzenden Sätzen ergibt. In vielen Fällen gilt es zudem, charakteristischen Formen der literarischen Ausdrucksweise Rechnung zu tragen. Die Bibel kennt den einfachen Erzählstil, Dichtung, Lieder, Weisheitssprüche, Gleichnisse und andere Gattungen. Verständlicherweise hat jede Gattung ihre Besonderheiten.
Zum Erfassen des literarischen Kontextes erweist es sich als sehr hilfreich, den Bibeltext in sogenannte Sinnabschnitte einzuteilen. Viele Bibelausgaben haben uns diese Arbeit schon abgenommen. Inhaltlich zusammengehörige Verse wurden dort in Abschnitte gegliedert und mit Überschriften versehen. Diese Einteilungen müssen nicht immer richtig sein, und manchmal lohnt es sich, sie zu hinterfragen. Oft aber helfen sie uns, die Gedankengänge der Autoren zu verfolgen. Unter Umständen ist es nützlich, die Abschnitte nochmals feiner zu gliedern.
Unser Anliegen muss es sein, den Gedankengang des Autors nachzuvollziehen.
Unser Anliegen muss es sein, den Gedankengang des Autors nachzuvollziehen. Wir sollten neugierig fragen: „Was will der Autor hier deutlich machen, und warum macht er es gerade hier?“
Große Beachtung gilt dabei etwa den Bindewörtern (Konjunktionen). Sie liefern oft ganz hervorragende Hinweise zum Verständnis biblischer Gedanken und ihrer logischen Verknüpfungen. Paulus macht von ihnen immer wieder Gebrauch. Ein gutes Beispiel finden wir in Römer 12,1-2. Die Konjunktion „damit“ im Vers 2 hat finale Funktion und erklärt, dass die Erneuerung unseres Sinnes (im Gegensatz zur Anpassung an die Muster der Welt) notwendige Voraussetzung dafür ist, den Willen Gottes zu erkennen.
Die literarischen Konjunktionen wurden natürlich von Übersetzern gewählt, und wir sollten immer im Hinterkopf behalten, dass an dieser oder jener Stelle möglicherweise auch eine andere Konjunktion stehen könnte. Dennoch liefern sie hilfreiches Material zum Verstehen von Argumenten.
7. Die Worte des Verfassers haben in der Regel nur einen Sinn
Der Heilige Geist, der die Autoren beim Schreiben der biblischen Texte leitete, wollte den Lesern nicht durch Doppeldeutigkeiten Rätsel aufgeben, sodass jeder hineinlesen kann, was ihm passt. Wir setzen voraus, dass die Autoren einen objektiven Textsinn transportieren wollten. Die ursprüngliche Textbedeutung ermöglicht es uns, unsere Deutungen zu prüfen. Fehlt die objektive und von verschiedenen Menschen nachvollziehbare Erkenntnis (Intersubjektivität), öffnen wir uns einer subjektiven Bibelauslegung. Dann können wir mit der Bibel alles rechtfertigen.
Ein kurzes Beispiel zur Illustration: In 1. Thessalonicher 4,4 verwendet Paulus den griechischen Begriff skeuos, der normalerweise „Gefäß“ bedeutet (z. B. in Johannes 19,29; Römer 9,21). Der Zusammenhang macht jedoch deutlich, dass skeuos hier übertragen entweder für den eigenen Leib oder für die Ehefrau steht (vgl. 1. Petrus 3,7). Paulus hatte nicht die Absicht, beides zugleich sagen zu wollen. Wir müssen uns für eine Lösung entscheiden oder aber zugeben, dass dieses oder jenes richtig sein kann. Paulus wusste jedenfalls genau, was er sagen wollte (mehrere Bedeutungsebenen kann es mitunter in prophetischen Texten geben).
Wenn wir heute die Bibel lesen, dann wird uns der Heilige Geist niemals zu einer Erkenntnis führen, die dem ursprünglichen Sinn der Worte widerspricht.
Die Aktualisierung der ursprünglichen Bedeutung ist oft kniffelig. Natürlich müssen wir den Sinngehalt so übertragen, dass wir heute damit etwas anfangen können. Wir sollten uns aber darüber klar sein, dass der Heilige Geist die Autoren zur ursprünglichen Aussage inspirierte und wir unsere Übertragungen und Anwendungen vor genau dieser ursprünglichen Aussage zu rechtfertigen haben. Wenn wir die Bibel heute lesen, wird der Heilige Geist uns niemals zu einer Erkenntnis führen, die dem ursprünglichen Sinn der Worte widerspricht. Er wird uns im Gegenteil dabei helfen, die ursprüngliche Aussage zu verstehen und auf unser Leben zu übertragen.
8. Beleuchte dunkle Bibelstellen durch helle
Es gibt in der Bibel Begriffe oder Verse, deren Bedeutung wir nicht sicher zu erschließen vermögen und die deshalb immer wieder Anlass für Diskussionen geben. Zu diesen Versen gehört beispielsweise 1. Korinther 15,29, wo – so jedenfalls gewisse Übersetzungen – davon die Rede ist, dass sich in Korinth einige „für Tote taufen“ ließen.
Der Vers stammt aus einer längeren Abhandlung über die Auferstehung der Toten. Anlass gab die Behauptung einiger Leute aus der Gemeinde zu Korinth, dass es keine Auferstehung der Toten gäbe (1. Korinther 15,12). Es ist die Absicht des Paulus, diese Auffassung zu widerlegen. Denn für ihn ist klar, dass die Christen die elendesten aller Menschen wären, wenn der Glaube sich zeitlich auf das irdische Leben beschränkte (1. Korinther 15,19). Schon viele Ausleger sind an diesem Vers verzweifelt.
Ich neige zu der Auffassung, dass Paulus „taufen“ im übertragenen Sinne nutzt und es hier „sich aufopfern“ bedeutet. Demnach spielt er nicht auf eine spezielle Taufpraxis an, sondern auf die Tatsache, dass manche Menschen durch ihren Einsatz für Verstorbene völlig in Beschlag genommen werden. Ihre Fürsorge, etwa bei der Pflege des Grabes, wäre umsonst, gäbe es keine Ewigkeitshoffnung.
Nun kann ich gut damit leben, dass viele Ausleger mit dieser Interpretation unzufrieden sind. Es mag bessere Deutungen geben. Sicher kann ich mir jedoch sein, dass die Mormonen, die auf der Grundlage von 1. Korinther 15,19 eine stellvertretende Taufe für Verstorbene eingeführt haben, falsch liegen. Kein sonstiger „Tauftext“ stützt die Auffassung, wir könnten Verstorbene nachträglich retten, indem wir uns in ihrem Namen taufen lassen. Es gibt im Gegenteil viele Bibelstellen, die betonen, dass nur der persönliche Glaube an Jesus Christus zum ewigen Leben führt (vgl. Johannes 6,47; 1. Johannes 5,13). Anstatt jetzt diesen stabilen „Taufbefund“ durch einen dunklen Vers über den Haufen zu werfen, sollten wir genau diesen dunklen Vers vom Licht der hellen Stellen her interpretieren.
9. Unterscheide zwischen historischer und ethischer Autorität
Gott ist unwandelbar, und sein Wort bleibt in Ewigkeit bestehen. Was Gott vor knapp 2000 Jahren durch einen paulinischen Brief seiner Gemeinde sagte, gilt uns heute auch noch. Wenn Paulus etwa den Christen zuruft:
„Lass uns Gutes tun an jedermann, allermeist an des Glaubens Genossen“ (Galater 6,10), ist das für uns nicht schwer zu verstehen (zu tun schon eher, vgl. das Zitat von Mark Twain oben).
Trotzdem werden wir beim Studium der Bibel immer wieder Aussagen finden, die uns fragen lassen: „Was sollen wir heute damit anfangen?“
Bleiben wir bei Paulus. In 1. Korinther 10,23-33 behandelt der Apostel den Verzehr von Götzenopferfleisch. Für ihn selbst ist der Verzehr von Fleisch, das erst Götzen geopfert und später auf dem Markt verkauft wurde, kein ethisches Problem. Man darf es essen. Es wird keinen Schaden anrichten. Stehe ich jedoch in der Gefahr, durch den Genuss von Götzenopferfleisch das Gewissen eines anderen zu belasten, sollte ich lieber darauf verzichten.
Auf unseren Märkten wird gewöhnlich kein Götzenopferfleisch mehr angeboten. Wir finden also in unserem Kulturkreis keine direkte Parallele. Dennoch lässt sich das Prinzip auf vergleichbare Umstände übertragen: Jeder Christ soll dazu bereit sein, Dinge zu lassen, die zwar in sich nicht falsch sind, aber das Gewissen eines anderen belasten könnten. Und für dieses Prinzip gibt es viele Anwendungsbeispiele!
Wenn ein Problem, das eine Bibelstelle behandelt, heute nicht mehr genauso vorhanden ist, dann wird dort meistens ein Prinzip genannt, das sich auf vergleichbare Umstände übertragen lässt.
Was machen wir also mit jenen Versen, die eng mit den Besonderheiten antiker Kulturen verknüpft sind? Wir unterscheiden den kulturellen Modus vom Grundprinzip. Anders ausgedrückt: Normativ ist nicht die historische, sondern die ethische Autorität. Zum kulturellen Modus gehören all die Eigentümlichkeiten der Welt von damals, Angelegenheiten, die sich von Kultur zu Kultur unterscheiden. Aspekte, welche die historischen Eigenarten übersteigen, binden uns ethisch noch heute.
Aber Achtung: Wir Menschen sind ziemlich findige Wesen. Insofern ist es nicht überraschend, dass wir dazu neigen, genau solche Aussagen als kulturell bedingt einzustufen, die uns nicht passen. Doch das ist ein anderes Thema.
10. Vergiss das Beten nicht
Auch in bibeltreuen Kreisen kann der Umgang mit der Heiligen Schrift sehr auf uns Menschen ausgerichtet sein. Bei aller legitimen Betonung der Menschlichkeit der Schrift sollten wir nicht übersehen, dass Gott durch sie selbst „seinen heiligen Mund“ öffnet. Trotz der erforderlichen Konzentration auf Prinzipien der Auslegung sollten wir im Auge behalten, wie sehr wir als Hörer, Ausleger und Verkündiger der Schrift auf das Wirken des Heiligen Geistes angewiesen sind. Ich will hier nicht das Überspringen des Wortsinns der Bibel empfehlen. Ich glaube, es ist deutlich geworden, wie wichtig es mir ist, zu verstehen, was der Autor den authentischen Lesern sagen wollte. Es geht mir vielmehr darum, dass unsere Studienmethoden „auf den Geist eingestellt“ sind und der „Ausleger ein mit Heiligem Geist Beschenkter ist, der um die Realität des Geistes weiß“ (so H. Stadelmann, Grundlinien eines bibeltreuen Schriftverständnisses, 1985, S. 118). Die Schrift muss unter der Leitung des Heiligen Geistes gelesen werden. Wir Menschen neigen innerlich nämlich so sehr zur Eitelkeit, dass wir Gottes Wahrheit ohne Hilfe weder finden noch festhalten. Deshalb sollte es uns zur Gewohnheit werden, bei der Bibelauslegung Gott zu bitten, uns durch seinen Geist das richtige Verstehen zu schenken.
Go(o)d News – Die Bibel ist Gottes Wort
Der Beitrag von Ron Kubsch ist ein Kapitel aus dem neuen Buch des Bibelbundes, das zum 125jährigen Jubiläum erschienen ist.
Go(o)d News: die Bibel ist Gottes Wort fasst in 10 Beiträgen jeweils 10 Grundaussagen zu Fragen rund um die Bibel zusammen. Zehn Aussagen zur Zuverlässigkeit der Bibel stehen neben zehn Beispielen aus der Wirkungsgeschichte der Bibel. Das Buch bietet genauso zehn praktische Tipps zum Bibellesen mit Freude, wie zehn Grundsätze, die für das Verstehen und die Auslegung der Bibel wichtig sind. Zehn Prinzipien der biblischen Ethik gesellen sich zu zehn wichtigen Funden der Archäologie, die die Glaubwürdigkeit der Bibel untermauern. Zwischen den Aufsätzen finden sich zehn Berichte von Christen, die die aktuelle Kraft der Bibel verdeutlichen. Alle Beiträge sind kurz gefasst und eignen sich auch gut, um jungen Christen das Anliegen der Bibeltreue zu verdeutlichen und sie zu ermutigen, sich das Vertrauen auf Gottes Wort nicht nehmen zu lassen, wenn sie mit Zweifeln oder Angriffen konfrontiert sind.
Go(o)d News: die Bibel ist Gottes Wort. hg. Hartmut Jaeger u. Michael Kotsch. Dillenburg: CVG, 2019. 128 S. 4,95 €. ISBN: 978-386353-640-4