In der Mitte des 19. Jahrhunderts gelangen dem englischen Archäologen Sir Austen Henry Layard (1817-1894) einige sensationelle Entdeckungen. So stieß er bei seinen Ausgrabungen in Ninive unter anderem auf die Palastbibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal, der von 668-626 v.Chr. regierte.1 In der Kammer lagen etwa 22.000 kleine Tontafeln mit Keilschrift. Unter ihnen fand sich sogar der Bücherkatalog, der den gesamten Bestand der Bibliothek aufführte.
Im Jahr 1872 entzifferte George Smith einige dieser Tontafeln und entdeckte dabei das sogenannte Gilgamesch-Epos. Auf der elften Tafel dieses Epos wird die Geschichte einer Flutkatstrophe erzählt. Weil sie nicht mehr vollständig erhalten ist, musste die Handlung aus sumerischen, babylonischen, akkadischen, hurritischen und hethitischen Überlieferungsfragmenten rekonstruiert werden.
Das vorherrschende Thema des gesamten Epos ist das immerwährende hoffnungslose Streben der Menschheit nach der Unsterblichkeit. Aus diesem Grund sind diese Gedichte für viele ein deprimierendes Beispiel trostloser Hoffnungslosigkeit.
Einer dieser Texte beginnt mit der Erschaffung der Menschen, die den Göttern die Arbeit abnehmen sollen. Sie gehen ihnen aber bald mit ihrem Lärm so auf die Nerven, dass sie zunächst durch andere Plagen die Menschen dezimieren und sie schließlich durch eine Flut ganz ausrotten wollen.
Später erzählt Utnapischtim, der babylonische „Noah“, einem gewissen Gilgamesch, der rastlos nach dem Geheimnis des ewigen Lebens suchte, wie er als einziger die Sintflut überlebt hatte. „Gilgamesch, ich werde dir ein Geheimnis offenbaren, und zwar werde ich dir ein Geheimnis der Götter erzählen.“ Dann berichtete Utnapischtim, wie die Götter beschlossen hätten, eine Sintflut über die Menschen kommen zu lassen, und wie Ea, der Gott der Weisheit, ihm das verraten habe. Utnapischtim baut auf Rat des Gottes ein „Schiff“, lädt seine Habe, auch wilde Tiere, Handwerker und schließlich seine Familie ein. Den Bürgern erzählt er, er wolle hier nicht mehr wohnen und zu seinem Freund Ea in den unterirdischen Ozean fahren.
In dieser Erzählung, die noch weiter geht, entdeckte man etliche Parallelen zum biblischen Bericht über die Sintflut. Dadurch entstand sofort die Frage, welcher Bericht denn nun der ursprüngliche sei. Liberale Theologen hatten schon länger behauptet, dass die biblische Urgeschichte letztlich aus altorientalischen Quellen stamme und von jüdischen Schriftgelehrten in oder nach der Zeit der babylonischen Gefangenschaft (606-536 v.Chr.) weiterentwickelt wurde.
Am 13. Januar 1902 hielt der deutsche Assyriologe Friedrich Delitzsch in Gegenwart von Kaiser Wilhelm II. vor der Deutschen Orientgesellschaft in Berlin einen Vortrag, in dem er die These verfocht, die jüdische Religion und das Alte Testament gingen auf babylonische Wurzeln zurück. Babel habe als Erklärer und Illustrator der Bibel zu gelten.
Damit begann der sogenannte Babel-Bibel-Streit2, der vor allem im evangelischen Raum Deutschlands geführt wurde. Neu war, dass diese Gedanken erstmals zum Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte bis hinab an die Basis der Kirchen- und Synagogengemeinden wurden. Bibelkritiker jubelten: Was in der Bibel steht, wurde lange zuvor in Babylon erzählt. Endlich sei es erwiesen, dass der Bibel doch nur ein mesopotamischer Mythos zugrunde liegt.
Es schien völlig klar zu sein, dass der babylonische Text älter als der Bibeltext sein müsse, wenn – ja wenn – die biblische Urgeschichte tatsächlich erst im 6. Jahrhundert v.Chr. entstand. Das ist aber längst nicht bewiesen. Nach biblischer Datierung ist das erste Buch Mose spätestens um 1400 v.Chr. von Mose aufgeschrieben worden. Gewiss konnte Mose sich auf noch viel ältere Überlieferungen stützen, vielleicht sogar auf schriftliche Quellen. Er stellte sie dann unter Inspiration des göttlichen Geistes in der uns heute vorliegenden Form zusammen. Auf diese Weise sorgte Gott dafür, dass wir einen unverfälschten Bericht über die Ereignisse in der Bibel haben. Denn normalerweise wurden die Geschehnisse durch den Götzendienst und natürlich durch die mündliche Überlieferung verfälscht.
Dass es Ähnlichkeiten zwischen der Bibel und nichtbiblischen alten Texten und Gebräuchen von Israels Nachbarn gibt, sollte uns nicht verwundern. Die Bibel selbst beschreibt vielfältige Beziehungen zwischen Israel und seinen Nachbarn – und nicht alle waren positiv. Selbstverständlich dürfen wir Texte des Alten Testaments mit Texten des alten Nahen Ostens vergleichen, aber wir müssen uns vor denen in Acht nehmen, die die Ähnlichkeiten benutzen, um die Einzigartigkeit der Bibel in Frage zu stellen. Dafür gibt es gewichtige Gründe:
Eine parallele oder ähnliche Aussage weist keineswegs automatisch darauf hin, dass biblische Texte von außerbiblischen Quellen übernommen worden sind.
Was die Urgeschichte betrifft, ist es viel wahrscheinlicher, dass biblische und außerbiblische Texte auf Überlieferungen desselben Geschehens zurückgreifen, auf Urerinnerungen der Menschheit wie zum Beispiel bei der Sintflut.
Falls man eine Entlehnung vermutet, müsste eindeutig bewiesen werden, wer von wem etwas übernommen hat. Das wiederum hängt stark von den angenommenen Entstehungszeiten der Texte ab.3
Neuere Untersuchungen gehen übrigens davon aus, dass die Diskussionen, die von der Behauptung ausgehen, „dass sich der biblische Bericht von dem babylonischen ableitet, recht ergebnislos waren“.4 Andererseits kommen sorgfältige Untersuchungen zu dem Schluss, dass sich alle Versionen der Sintflut auf ein gemeinsames Ereignis beziehen.5
Wenn man den biblischen und den babylonischen Flutbericht vergleicht, werden außerdem erhebliche Unterschiede deutlich, die gewöhnlich nicht beachtet werden, wie die folgende Tabelle zeigt:
Die sogenannten Beweise, die genutzt werden, um die Bibel abzulehnen, sind nie so unwiderlegbar, wie sie oft den Anschein erwecken!
Dieser König wird in Esra 4,10 erwähnt. ↩
Bis Ende März 2020 wurde im Berliner Pergamonmuseum eine Ausstellung über den Bibel-Babel-Streit gezeigt, die versuchte auch die öffentliche Diskussion, die entstanden war, widerzuspiegeln. Aufsehen hatte die Sache dadurch gewonnen, dass der Assyriologe Friedrich Delitzsch seinen ersten Vortrag zur Sache vor den Ohren des deutschen Kaisers hielt, der Ausgrabungen unterstützt hatte. Der Kaiser hatte erst seine Zustimmung signalisiert, dann aber nach öffentlicher Kritik einen Rückzieher gemacht. Obwohl die Thesen damals wissenschaftlich abgelehnt wurden und von Delitzsch auch mehr durch seine eigenen ideologischen Vorstellungen gestützt wurden, haben sie sich später als theologische Standardtheorie durchgesetzt. ↩
vgl. Thomas B. Tribelhorn. Die Bibel ist ein Mythos – Muss ich das glauben. Fakten bewerten statt Gott begraben. SCM Hänssler, 2016. ↩
Alexander Heidel: The Gilgamesch Epic and Old Testament Parallels. Ziziert nach Tribelhorn S. 183. ↩
Charles Martin: Flood Legends: Global Clues of a Common Event. Zitiert nach Tribelhorn S. 184. ↩