ThemenBibelverständnis

Widersprüche in der Bibel!?

Der normale Leser, der sich intensiver mit der Bibel beschäftigt, wird auf Widersprüche stoßen, die manchmal Zahlenangaben, manchmal Details, ein anderes Mal Ausdrucksweisen betreffen. Diese Widersprüche sind aber keine formalen Irrtümer, sondern haben mit dem Charakter Gottes und seines Wortes zu tun und ermutigen die Bibel genauer zu betrachten.

Einleitung: Widersprüche in der Bibel sind eine unbestreitbare Tatsache

Jeder aufmerksame Leser wird Widersprüche in der Bibel finden. Ich war mit 13½ Jahren zum Glauben an Jesus Christus gekommen und habe gleich angefangen, in der Bibel zu lesen. Es war die einzige Bibel, die ich in unserem Haushalt finden konnte, die Traubibel meiner Eltern, die ungelesen zwischen einigen Romanen stand. Ich lernte die alte Frakturschrift der Luther 1912 flüssig zu lesen und war bis 1.Chr 21 gekommen, als ich in Vers 1 las: „Und der Satan stand wieder Israel und reizte David, dass er Israel zählen ließe.“ Hatte ich nicht im Zweiten Buch Samuel etwas anderes gelesen? Ich fand die Stelle in Kapitel 24: „Und der Zorn des Herrn ergrimmte abermals wieder Israel, und er reizte David wider sie, dass er sprach: Gehe hin, zähle Israel und Juda!“  Das war offensichtlich ein Widerspruch, und ich konnte nicht einfach darüber hinweg lesen. Ich hatte zwar nie etwas vom Bibelbund gehört und auch hatte mich niemand über die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift aufgeklärt, aber der Wahrheitsanspruch der Bibel war mir auch so beim Lesen deutlich geworden. Und zu diesem Wahrheitsanspruch gehörte für mich selbstverständlich, dass es nicht normal ist, dass auf Seite 346 Gott selber David dazu brachte,  das Volk zu zählen, und 100 Seiten später ist es der Satan gewesen. Gott und Satan das ist schon ein ziemlicher Unterschied. Die Widersprüche in den Romanen, die rechts und links neben der Bibel im Regal meiner Eltern gestanden hatten, interessierten mich nicht. Aber dieser innerbiblische ließ mich nicht los. So besprach ich mich mit meinem Freund und wir ackerten das Verhältnis zwischen Gott und Satan, wie es die Bibel beschreibt, so gründlich durch, dass wir zu einer befriedigenden Antwort kamen, die auch heute noch für mich Gültigkeit besitzt.

Wir fanden nämlich heraus: Bei diesem Widerspruch handelt es sich nicht um einen formalen Irrtum. Der wäre dann gegeben gewesen, wenn sich der Autor der Samuelbücher oder der Autor der Chronika über die Tatsachen geirrt oder versehentlich das Falsche aufgeschrieben hätte und weil sich nun einer geirrt hat, haben wir den Widerspruch. Wir fanden aber auch keinen Widerspruch der Art, dass der Autor der Chronika den Autor von Samuel korrigieren wollte. „Du hast dich geirrt und ich widerspreche dir hiermit“! Der Widerspruch war eindeutig in Gottes wunderbaren Wesen begründet, seiner überragenden Gottheit und dass der Satan kein echter Gegenspieler Gottes ist, sondern in gewisser Hinsicht auch mit seinen bösen Absichten Gott dienen muss.

Auch die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel behandelt das Thema Widersprüche:

Artikel XIV

Wir bekennen die Einheit und innere Übereinstimmung der Bibel.

Wir verwerfen die Auffassung, dass angebliche Fehler und Widersprüche, die bis jetzt noch nicht gelöst worden sind, den Wahrheitsanspruch der Bibel hinfällig machen.

Die Chicago Erklärung behauptet nicht einfach, es gebe keine Widersprüche, sondern sie bekennt zuerst positiv die Einheit und innere Übereinstimmung der Bibel, die für ihren Wahrheitsanspruch wesentlich ist. Wenn es um die Offenbarung Gottes geht und das rettende Evangelium, dann kommt es darauf an, dass nicht das eine Buch der Bibel einen Weg zur Rettung aufzeigt und das andere einen anderen und beide sagen, es sei der einzige. Und selbst wenn man feststellte, dass bestimmte Arten von Widersprüchen die rettende Botschaft nur am Rande berührten, so wäre doch die Glaubwürdigkeit der ganzen Bibel betroffen.

Es können aber sehr wohl „Widersprüche, die bis jetzt noch nicht gelöst worden sind“ vorhanden sein, jedoch machen Sie den „Wahrheitsanspruch der Bibel“ nicht „hinfällig“. Damit weist die Chicago-Erklärung auf zwei Haltungen hin, wie man mit Widersprüchen in der Bibel umgehen kann.

Weil ein Widerspruch, der in einem formalen Irrtum begründet ist, grundsätzlich nicht zum Wahrheitsanspruch der Bibel passt, wird man versuchen, jeden gefundenen Widerspruch zu klären und wenn möglich aufzulösen. Ist das aber nicht möglich, dann biegt man die Bibelverse nicht willkürlich hin und her oder entwirft fantastische Erklärungsmuster,  sondern man lässt den Widerspruch stehen1 und macht sich über das Verhältnis zwischen dem  gefundenen Widerspruch und dem Wahrheitsanspruch der Bibel Gedanken. Wenn nämlich der nicht – oder noch nicht – lösbare Widerspruch den Wahrheitsanspruch der Bibel – wie die Chicago Erklärung sagt – nicht hinfällig macht, dann kann er für uns doch einen anderen Sinn haben.

Dieser Ansatz ist ausgesprochen klug und darum will ich mich in den folgenden Überlegungen auch davon leiten lassen.

Wir wollen uns deswegen im Folgenden sowohl mit der Art von Widersprüchen in der Bibel und ihrem Zustandekommen beschäftigen, als auch fragen, welchen positiven Sinn es für uns haben kann, dass es diese Widersprüche gibt. Wir wollen also wissen, was wir daraus lernen, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen. Diese Haltung gewinnen wir aus der Überzeugung, dass die Bibel so ist, wie sie ist, weil sie Gott so wollte. Er mutet uns also diese Widersprüche zu und will uns auch mit ihnen etwas lehren.

Wer von diesem Beitrag erwartet, dass alle scheinbaren Widersprüche, die man in der Bibel finden kann, erklärt und aufgelöst werden, wird enttäuscht sein. Aber ich kann ihn ermutigen, alte und neue Ausgaben von Bibel und Gemeinde zu lesen, da wird er immer wieder beispielhafte Erklärungen finden. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass solche Erklärungen ihre Grenzen haben. Erstens gibt es in vielen Fällen nur mögliche, wenn auch plausible Erklärungen. Manchmal wirken sie auf mich allerdings etwas willkürlich. Darum versuche ich immer deutlich zwischen nur möglichen und denkbaren Auflösungen von Widersprüchen zu unterscheiden, also solchen, die man mit genug Nebenannahmen für jeden Widerspruch konstruieren kann und solchen, deren Lösung auch wirkliche Anhaltspunkte in der Bibel selbsthaben.

Ich nehme ein bekanntes Beispiel aus dem Koran, dass ein Spiegel sein kann: Wahrscheinlich hat Mohammed Mirjam, die Schwester des Mose, und Maria, die Mutter Jesu, verwechselt, über die er recht ausführlich im Koran schreibt. Für ihn bestand nämlich eine Namensgleichheit. Jedenfalls schreibt er, dass Marias Bruder Aaron war und ihr Vater Amram. Muslime werden in aller Regel einen solchen Fehler im Koran bestreiten und berufen sich auf verschiedene Erklärungen ihrer Gelehrten. Die einen sagen, dass Maria eben einen Bruder hatte, der Aaron hieß und dass ihr Vater eben Amram hieß. Es ist ja auch nichts anderes bekannt und wenn, dann hätte trotzdem der Koran recht. Andere, die  das Problem nicht grundsätzlich leugnen, sagen, dass Maria wie ihre Verwandte Elisabeth eben auch dem Priestergeschlecht angehörte. Damit sei sie im übertragenden Sinn auch eine Schwester Aarons des Bruders von Mose, auch wenn man eher erwarten würde, dass sie eine Tochter Aarons genannt wird. Wenn wir Erklärungen wie diese bei der Deutung des Koran für an den Haaren herbeigezogen halten, dann kann das unter Umständen für manchen Erklärungsversuche im Blick auf die Bibel auch gelten. Ich will Erklärungsversuche damit nicht abwehren, halte es aber für notwendig, dass wir genügend Selbstkritik haben, um ihre jeweilige Wahrscheinlichkeit zu beurteilen.

Zweitens ist und bleibt die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Bibel eine göttliche und von Gott geschenkte Eigenschaft, die zu groß ist, um sie mit einigen Kunstgriffen beweisen zu wollen. Um es deutlich zu sagen: Ich bin fest davon überzeugt, dass es keine solchen Widersprüche in der Bibel gibt, die die Wahrheit und Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift zweifelhaft machen. Ich werde jetzt trotzdem nicht immer von „scheinbaren Widersprüchen“ reden. Ich will auch nicht so lange an dem Wort „Widerspruch“ herumdefinieren, bis die Widersprüche der Bibel keine mehr sind, sondern sie erst einmal so nehmen, wie ich als einfacher Leser auf sie stoße. Diese Haltung finden wir auch schon bei den Kirchenvätern vor. So schreibt Augustinus 354-430n.Chr.:

„Von den biblischen Büchern allein glaube ich fest, dass ihre Autoren völlig frei von Irrtümern waren. Wenn ich auf Widersprüche stoße, zweifle ich nicht daran, dass dann entweder die Kopie fehlerhaft ist oder der Übersetzer die Bedeutung des Ausgesagten nicht verstanden hat oder dass ich selber in meinem Verständnis fehlgehe“ (Epistulae 82,3).

Hauptteil: Verschiedene Arten von Widersprüchen und was wir aus ihnen lernen können.

1. Widersprüche, die darin begründet sind, dass die Bibel ein Buch ist, dass Augenzeugenberichte überliefert

Karl-Heinz Deschner, seit über 50 Jahren ein eifriger Kritiker des Christentums, findet die Widersprüche der Evangelien „ungeheuer“. „Nirgends aber und nicht zufällig sind die Widersprüche so häufig wie ausgerechnet beim größten Wunder des Christentums, bei der Auferstehung“.2 Dann zählt er einige Unterschiede zwischen den Auferstehungsberichten der Evangelien auf und zitiert als Zusammenfassung zustimmend den Theologen Hans von Campenhausen: „Unter allen erhaltenen Berichten stimmen nicht zwei miteinander überein“. Diese Beobachtung ist offensichtlich richtig.

Wem begegnete Jesus zuerst nach seiner Auferstehung?

Matthäus: Da begegnete Jesus ihnen (Maria von Magdala und die andere Maria) und sprach: Seid gegrüßt! (Mt 28,9)

Markus: Jesus erschien zuerst Maria von Magdala, von der er sieben böse Geister ausgetrieben hatte (Mk16,9).

Lukas: Und es geschah, als sie (die zwei Jünger auf dem Weg nach Em- maus) so redeten und sich miteinander besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen (Lk24,15).

Johannes: Und als sie (Maria von Magdala) das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist (Joh 20,40).

Nun kann man in jeder Abweichung im Detail einen Widerspruch erkennen und etwa sagen, dass Johannes und Markus darin übereinstimmen, dass allein Maria von Magdala die erste Zeugin der Auferstehung ist, während Matthäus noch von einer anderen Maria berichtet und bei Lukas die Emmaus Jünger die ersten Zeugen sind. Man kann die Sache aber auch so lesen, dass wir es hier mit Augenzeugenberichten zu tun haben und diese können gar nicht in allen Details übereinstimmen.

Jeder ermittelnde Polizist wird bei völlig übereinstimmenden Aussagen von Zeugen sofort stutzig werden und vermuten, dass sich die Zeugen abgesprochen haben, um eine Lüge zu stützen. Dass verschiedene Zeugen die gleiche Sache unterschiedlich berichten, ist für ihn, wenn sich die Unterschiede weitgehend miteinander in Einklang bringen lassen, ein Beweis für die Tatsache des Ereignisses. Er macht sich aus allen Aussagen ein Gesamtbild und kann dabei auch meist erkennen, wenn unter seinen Zeugen einer unzuverlässiger  ist als die anderen oder bewusst lügt. Aber selbst wenn der gleiche Zeuge das gleiche Ereignis in drei Erzählungen jeweils mit etwas anderen Worten und Abweichungen im Detail wiedergibt, so denkt der Polizist nicht an Lüge, sondern kann aus dem Grad der Abweichungen die Zuverlässigkeit seines Zeugen ermessen. Erzählte aber dieser Zeuge dreimal mit exakt den gleichen Worten den Hergang, dann wäre dies ein sicheres Anzeichen für ihn, dass der Zeuge die Geschichte auswendig gelernt hat, um die Wahrheit zu vertuschen.

Gott leistet sich in der Bibel offenbar an vielen Stellen Zeugenberichte, auf die Gefahr hin, dass es Abweichungen im Detail gibt, sogar solche, die sich nicht auf Anhieb harmonisieren lassen. Dies ist bei dem angeführten Beispiel der Begegnung der ersten Zeugen mit dem auferstandenen Jesus noch recht leicht möglich. Es ist naheliegend zu sagen, die Berichte ergänzen sich und ließen ohne Gewalt in einen zusammenhängenden Ablauf ohne Widerspruch ergänzen.

Am 8. Juli 2008 entgleiste im Bahnhof von Köln ein ICE-Schnellzug. Bei den anschließenden Untersuchungen ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Gefährdung des Bahnverkehrs, denn verschiedene Zeugen hatten widersprüchliche Aussagen gemacht. Einer sagte, er habe nachdem er ein lautes Geräusch gehört habe, den Zugbegleiter gebeten, etwas zu unternehmen, der sei aber einfach weggegangen und hätte ihn nicht ernst genommen. Ein anderer hatte gesehen, dass nachdem alle Bahnangestellten scheinbar nichts unternehmen wollten, endlich ein Fahrgast die Notbremse gezogen hatte. Die Bahn selber sagte, dass einer ihrer Mitarbeiter die Notbremse gezogen habe, nachdem er in Absprache mit Kollegen, die Sache als ernst eingestuft hat. Es war schließlich die Frage, wer denn nun die Notbremse gezogen hatte, ein Fahrgast oder ein Bahnangestellter. Die Bahn wurde der Vertuschung der Unfähigkeit ihrer Mitarbeiter verdächtigt, die vielleicht Hunderte von Fahrgästen in den Tod geschickt hätten, wenn der Zug mit dem Schaden erst einmal beschleunigt hätte. Es dauerte eine Woche, dann stellte sich Folgendes heraus: Alle Zeugen hatten die Wahrheit gesagt. Es waren zwei Personen gewesen, die gleichzeitig die Notbremse gezogen hatten, davon war einer ein Bahnangestellter in Uniform, der andere war ebenfalls Bahnangestellter, aber nicht in diesem Zug eingesetzt und deswegen nicht in Uniform und darum von anderen Fahrgästen als normaler Fahrgast angesehen worden.

Wenn es Widersprüche in Augenzeugenberichten gibt, dann ist das zuerst einmal normal und es ist noch lange kein Beweis, dass sie nicht die Wahrheit sagen. Dass wir genau das in der Bibel vorfinden, das zeigt uns eine besondere Qualität der Bibel. Gott legt Wert darauf, dass wir nicht nur gefiltertes und gut durchgekautes Material über die rettenden Ereignisse und Taten Gottes erhalten, sozusagen theologische Abhandlungen. Sondern, weil wir an die rettende Kraft geschichtlicher Ereignisse glauben, werden uns diese auch von zuverläs- sigen Zeugen überliefert. Dass diese Zeugen zuverlässig sind, zeigt sich auch an der Art der Widersprüche. In den Auferstehungsgeschichten lassen sich die meisten Unterschiede im Detail relativ einfach miteinander verbinden. Jesus ist eben nicht einmal allein gekreuzigt worden und einmal mit zwei Verbrechern, sondern immer mitten zwischen zwei Verbrechern. Dann aber hören  wir bei Matthäus (27,44) und Markus (15,32), dass beide ihn verspotten und bei Lukas, dass nur einer spottet und der andere Jesus verteidigt und bittet (23,39-43). Johannes sagt nichts vom Spotten der Verbrecher (19,18). Jesus wurde übereinstimmend in einem Felsengrab beerdigt und nicht bei einem Evangelisten irgendwo auf dem Acker eingegraben. Nach Johannes wird er aber von Josef von Arimathäa und Nikodemus einbalsamiert, nach Lukas gehen die Frauen am Ostermorgen zum Einbalsamieren zum Grab.

All das zeigt uns gerade die Zuverlässigkeit und damit den zu Recht bestehen- den Wahrheitsanspruch der Bibel, der durch diese Art von Widersprüchen nicht hinfällig wird. Es ist vielmehr so, dass wir aus der Art der Zeugenaussagen und der Ungereimtheiten ablesen, dass der Wahrheitsanspruch der Bibel dadurch vielmehr untermauert wird als fänden wir ein Buch ohne diese Art von Widersprüchen vor. Dann nämlich müssten wir immer mit der Frage und dem Misstrauen leben, dass hier jemand alle echten Widersprüche geglättet hätte, um die Bibel als zuverlässig erscheinen zu lassen. Weil sich aber das Wort Gottes Zeugenberichte leistet, kann uns an der Art und den Grenzen der Widersprüche die Zuverlässigkeit deutlich werden.

2. Widersprüche, die darin begründet sind, dass die Bibel ein historisch entstandenes Buch ist.

Da die meisten Bücher der Bibel ihre Autoren nicht namentlich nennen, kann man aus den  namentlich bekannten, einigen indirekt erschlossenen und den übrigen unbekannten auf  mindestens 40 menschliche Autoren schließen3 , die über einen Zeitraum von ungefähr 1500 Jahren schrieben, was Gott wollte. Zugleich hat die Bibel aufgrund des einen wirkenden Heiligen Geistes Gottes immer nur den einen Gott als Autor. Wenn wir bei einer Entstehungsgeschichte von 1500 Jahren, doch eine so wunderbare Einheit vorfinden, wie sie selbst heute nicht nachträglich herzustellen wäre, wenn wir versuchten Bücher von 40 Autoren der letzten 1500 Jahre zusammenzubinden, dann ist das ein starkes Argument, dass diese Einheit auf den einen Gott als Urheber zurückgeht. Das spricht also gerade für den Wahrheitsanspruch der Bibel. Aber die Entstehungsgeschichte verlangt vom Leser auch eine an der Geschichte Gottes geschulte Wahrnehmung, sonst wird er sich an zahlreichen Widersprüchen stoßen.

Betrachten wir als Beispiel die Einnahme Jerusalems.

Jos 15,63 Die Jebusiter aber wohnten in Jerusalem, und Juda konnte sie nicht vertreiben. So blieben die Jebusiter mit denen von Juda in Jerusa- lem wohnen bis auf diesen Tag.

Ri 1,8 Aber Juda kämpfte gegen Jerusalem und eroberte es und schlug es mit der Schärfe des Schwerts und zündete die Stadt an.

Sam 5,6 Und der König zog mit seinen Männern vor Jerusalem gegen die Jebusiter, die im Lande wohnten. Sie aber sprachen zu David: „Du wirst nicht hier hereinkommen, sondern Blinde und Lahme werden dich abwehren“. Damit meinten sie, dass David nicht dort hineinkommen könnte. 7 David aber eroberte die Burg Zion; das ist Davids

Josua schreibt, Jerusalem sei bis auf den heutigen Tag in der Gewalt der Jebusiter. Ein paar Seiten weiter in der Bibel lesen wir jedoch, dass Juda die Stadt eroberte und rund 70 Seiten später sitzen die Jebusiter doch in Jerusalem und verlachen David bis der die Stadt durch eine Kriegslist einnimmt. Wer hier nicht den historischen Zusammenhang beachtet, kann leicht durcheinander kommen. Jos 15 und Ri 1 stellen die Situation bei der Landnahme um 1350 v.Chr. dar. Die Stadt Jerusalem konnte zuerst nicht, aber dann doch erobert werden, aber wurde nicht dauerhaft besetzt, sondern nur zerstört. Die Israeliten scheinen zu dieser Zeit kein Interesse an der Besetzung und Besiedelung größerer Städte gehabt zu haben, selbst wenn sie sie besiegen konnten. 2.Sam 5 spricht von der Zeit um 950 v.Chr, als nicht nur die Bedeutung der Städte für Israel eine andere war, sondern Jerusalem die Hauptstadt Israels und Standort des Tempels werden sollte.

Auch Entwicklungen in kürzeren Zeiträumen sind wahrnehmbar. So unterliegt die Haltung Marias, der Mutter von Jesus, offensichtlich einer Entwicklung und der Leser der Evangelien kann sie wahrnehmen. Vom Erstaunen auserwählte Dienerin Gottes zu sein (Lk 1,46), um Mutter für den Retter zu werden, über die schmerzhafte Wahrnehmung, dass Jesus seinem himmlischen Vater näher steht als seiner irdischen Mutter (Lk 2,49f; Joh 2,4), über die Sorge, er sei psychisch erkrankt und könne sich zu Hause bei ihr am besten erholen (Mk 3,21), bis zum Schmerz der Mutter über den sterbenden Sohn (Joh 19,25-27) und schließlich dem Glauben an Jesus Christus, den Retter, der für die Sünden der Welt starb (Apg 1,14). Man kann hier Widersprüche oder sogar verschiedene theologische Schulen in den Evangelien finden wollen oder aber sehen, dass uns solche Widersprüche lehren, die Bibel so zu lesen, wie sie gelesen werden will, nämlich als ein Buch, in dem Gott historische Entwicklungen aufzeigt, in denen wir seine Heilsgeschichte erkennen können. Die Rettung durch Jesus Christus findet in der Geschichte statt und hat selber eine Geschichte.

3. Widersprüche, die durch die Erfüllung von Vorhersagen entstehen

Diese Art von Widersprüchen hängt mit der vorigen zusammen, muss aber doch extra behandelt werden, weil sie einige Besonderheiten besitzt. Die Chicago-Erklärung beschäftigt sich deswegen auch besonders damit.

Artikel V

Wir bekennen, dass Gottes Offenbarung in der Heiligen Schrift eine fort- schreitende Offenbarung war.

Wir verwerfen die Auffassung, dass eine spätere Offenbarung, die eine frühere Offenbarung erfüllen mag, diese jemals korrigiere oder ihr widerspräche. Wir verwerfen ferner die Auffassung, dass irgendeine normative Offenbarung seit dem Abschluss des neutestamentlichen Kanons gegeben worden sei.

Ein Beispiel macht uns das Problem sofort klar.

Mo 11,43: „Macht euch selbst nicht zu etwas Abscheulichem durch all das wimmelnde Kleingetier und macht euch nicht unrein durch sie, so dass ihr dadurch unrein würdet!“

Mk 7,18-19: „Und er spricht zu ihnen: Seid auch ihr so unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn nicht verunreinigen kann? Denn es geht nicht in sein Herz hinein, sondern in den Bauch, und es geht heraus in den Abort. Damit erklärte er alle Speisen für rein“.

Im 3.Mo 11 wird uns genau erklärt, welche Tiere rein und welche unrein sind, welche wir essen dürfen und welche nicht. Gott steht mit seiner Heiligkeit dafür ein (V. 44). Aber in Mk 7,19 steht, dass Jesus alle Speisen für rein erklärte. Und Paulus kann schreiben (Röm 14,14): „Ich weiß und bin gewiss in dem Herrn Jesus, dass nichts unrein ist an sich selbst; nur für den, der es für unrein hält, ist es unrein“.

Die Chicago-Erklärung lehrt uns im Einklang mit der Bibel, dass wir hier keine Korrektur eines früheren Irrtums erkennen sollen und auch keinen inneren Widerspruch, so als ob Paulus nicht gewusst hätte, was bei Mose zu lesen ist, als er etwas anderes schrieb. Paulus will offenbar nicht Mose widersprechen, sondern gibt wieder, was durch die Erfüllung der Reinheitsgesetze gilt. Alles andere führt uns zu einer Argumentation wie wir sie heute in anderem Zusammenhang gelegentlich finden. Dann könnte man sagen: Paulus wusste noch nicht so gut über Homosexualität Bescheid wie wir heute. Und weil uns der Heilige Geist durch die Wissenschaft neue Erkenntnisse gegeben hat, deswegen können wir die Aussagen der Schrift in dieser ethischen Frage korrigieren. Aber nicht das ist es, was wir aus dieser Art von Widersprüchen lernen sollen.

Solche Widersprüche lehren uns vielmehr, es mit den Prinzipien der fortschreitenden Offenbarung in der Bibel genau zu nehmen, damit wir ihre Aussagen richtig beurteilen können. Nur so lernen wir auch den bleibenden Wert der Gebote, um deren Einhaltung wir uns als Christen nicht bemühen müssen. Dann können wir an den Reinheitsgesetzen lernen, dass sich einerseits jeder Mensch im Alltagsleben unweigerlich verunreinigen wird und dass andererseits die Forderung Gottes eindeutig heißt: „Darum sollt ihr heilig sein, denn ich bin heilig“ (3.Mo 11,45b). Die von Gott geforderte Heiligkeit kann aber niemals durch menschliches Bemühen um Reinheit erreicht werden, sondern nur durch die Heiligkeit, die Jesus Christus uns durch die Erlösung schenkt. Wenn wir auf solche Widersprüche stoßen, werden wir also auf Jesus Christus gewiesen, in dem alle Verheißungen Gottes Ja und Amen geworden sind.

Jesus selbst hat die Pharisäer einmal auf einen solchen Widerspruch im Alten Testament aufmerksam gemacht.

Mt 22,41-46 41 Als nun die Pharisäer beieinander waren, fragte sie Jesus: 42 Was denkt ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist er? Sie antworteten Davids. 43 Da fragte er sie: Wie kann ihn dann David durch den Geist Herr nennen, wenn er sagt: 44 „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege“ 45 Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist er dann sein Sohn? 46 Und niemand konnte ihm ein Wort antworten, auch wagte niemand von dem Tage an, ihn hinfort zu fragen.

Jesus löst den Widerspruch, dass der Messias der Sohn Davids ist und zugleich sein Herr, für die Pharisäer nicht auf. Er lässt in der Ungewissheit. Aber wir wissen, dass in der Person von Jesus der Widerspruch aufgelöst ist, den Gott in die Bibel eingebaut hat. Jesus ist der Sohn Davids als sein Nachkomme in der menschlichen Abstammung, aber er ist doch als der Sohn Gottes,  der Herr aller Herren und darum auch Davids Herr. Aus der genauen Betrachtung von Verheißung und Erfüllung lernen wir aber das Geheimnis des Evangeliums erst richtig kennen. Dieses Geheimnis besteht ja nicht in einer geheimnisvollen Philosophie oder Geheimwissen, sondern darin, dass Gott bereits vor Grundlegung der Welt die Erlösung durch seinen Sohn beschlossen hatte, diese aber im Laufe der Weltgeschichte wirklich werden sollte.

4. Widersprüche, die durch eine mangelnde Kenntnis der alten Sprachen verursacht sind

In diese Kategorie fallen einige Widersprüche, die dem aufmerksamen Bibel- leser auffallen werden. Zu den offensichtlichen gehören drei Verse aus dem 1Samuel, die ganz nah beieinander stehen.

Sam 15,11 „Es reut mich, dass ich Saul zum König gemacht habe; denn er hat sich von mir abgewandt und meine Befehle nichterfüllt.“

1.Sam 15,29 „Auch lügt der nicht, der Israels Ruhm ist, und es gereut ihn nicht; denn er ist nicht ein Mensch, dass ihn etwas gereuen könnte.“

1.Sam 15,35 „Und Samuel sah Saul fortan nicht mehr bis an den Tag sei- nes Todes. Aber doch trug Samuel Leid um Saul, weil es den HERRN gereut hatte, dass er Saul zum König über Israel gemacht hatte“.

Wie nun? Reut es Gott, dass er Saul zum König gemacht hat oder kann ihn gar nichts reuen, weil er Gott ist und weiß, was er tut und nicht wie ein Mensch, der erst Entscheidungen trifft und wenn er sieht, was dabei raus kommt, dann tut es ihm leid und er ändert seine Meinung.

Nein, Gott ist nicht wankelmütig, er steht zu seinem Wort, aber er ist trotzdem auch der, der obwohl der jedes Unheil im Vorhinein weiß, nicht kalt und unbetroffen davon ist, wenn es eintritt. Das hebräischeWort „reuen“ nicham enthält verschiedene Aspekte, den von „leid tun, betrauern“ und den von „Beschlüsse ändern oder zurücknehmen“. Es heißt übrigens auch noch „trösten“ oder „sich trösten“, weil die Suche nach Trost bzw. die Gabe des Trostesdie Reaktion darauf ist, dass mich Leid betrifft und ich Mitleid empfinde. Der Autor des Buches und auch die frühen Leser wussten das offenbar und hatten kein Problem mit dem, was für uns heutzutage ein Widerspruch zu sein scheint. Das ist für uns späteren Bibelleser auch ein gutes Indiz dafür, dass ein solcher Widerspruch durch mangelnde Kenntnis der Sprache zustande gekommen ist.

Wir müssen uns im Blick auf die alten Sprachen immer wieder bewusst machen, dass ein großer Teil ihrer Kenntnis direkt aus den vorhandenen biblischen Büchern abgeleitet ist. Wörterbücher und Grammatiken der hebräischen Sprache beruhen zu einem nicht geringen Teil auf der Erforschung der Texte, zu deren Erklärung wir sie dann heranziehen. Bei den griechischen Texten sind zwar die Vergleichmöglichkeiten mit außerbiblischen Schriften deutlich größer, aber diese Schriften reden eben zum Teil auch von ganz anderen Dingen. Der Vergleich mit alten Übersetzungen trägt viel zum Verständnis der Sprachen bei, aber letztlich muss man immer wieder die Texte der Bibel selbst studieren und vergleichen und weiß trotzdem im Einzelfall bei manchen Stellen im AT nicht sicher, was einzelne Wörter meinen.

Ein weiterer Widerspruch, der auf dieses Konto geht, findet sich in der Apostelgeschichte. Erst lesen wir mit den Worten des Lukas die Ereignisse bei der Bekehrung von Paulus, dann erzählt Paulus in Kapitel 22 die Geschichte selbst und es ergibt sich ein Widerspruch:

Apg 9,7 Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden.

Apg 22,9 Die aber mit mir waren, sahen zwar das Licht, aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht.

Hörten die Begleiter des Paulus die Stimme von Jesus nun oder hörten sie sie nicht? Wenn wir zuerst fragen, was sie sahen, dann wird uns der Rest auch schnell klar. Sie sahen niemanden, so Kapitel 9, aber sie sahen das Licht, so Kapitel 22. Sie sahen also nicht die Person Jesus, die Paulus erschien, sondern nahmen nur das begleitende Licht wahr. Und so ist es auch mit dem, was sie hörten: sie hörten zwar das Geräusch der Stimme, so dass sie sagen konnte

„Da hat jemand geredet“, aber sie hörten nicht, was die Stimme sagte. Es erging ihnen wie uns in einer Gaststätte, wenn überall geredet wird, wir hören zwar die Stimmen, aber wir hören doch nicht, was gesagt wird. Ganz in diesem Sinn kann griechisch phone wie Apg 2,6 zeigt auch Getöse oder Geräusch heißen.4

Wenn man sich intensiver mit Sprachen im Allgemeinen und besonders den biblischen Sprachen beschäftigt, dann kann klar werden, dass das gleiche Wort, verschiedene Aspekte ansprechen kann und dass dies offensichtlich in diesem Fall auch geschehen ist. Auf den ersten Blick sehen wir einen Widerspruch, der aber soll uns dazu anreizen, genauer hinzuschauen und insbesondere uns auch intensiv mit Sprache zu beschäftigen, weil Gott Sprache mit Wörtern und Grammatik benutzt hat, um sein rettendes Evangelium zu offenbaren.

5. Widersprüche, die in mangelnder Kenntnis von Sachzusammenhängen begründet sind

Ich rede hier nicht von mangelnder Sachkenntnis bei den Autoren der biblischen Texte, sie wußten sehr genau, was sie schrieben. Sie waren auch näher dran an den Ereignissen und was uns manchmal spanisch vorkommt, das war ihnen sonnenklar. Uns aber fehlt an manchen Stellen die Sachkenntnis, um einen Widerspruch sicher erklären zu können.

So könnte uns die richtige Sachkenntnis helfen zu erkennen, dass folgender Widerspruch keiner sein muss. Über den Tod von Judas Iskariot berichtet Matthäus, dass er sich erhängte (Mt 27,5), nachdem er seinen Verräterlohn gespendet hatte. In der Apostelgeschichte lesen wir aber, er sei gestürzt, auseinandergeborsten und seine Eingeweide hätten sich verteilt (Apg 1,18+19). Ist hier nun von zwei verschiedenen Todesarten die Rede?

Es hat zu diesem Widerspruch schon zahlreiche Erklärungen gegeben, ich ziehe diese wegen ihrer Einfachheit vor. Der Baum am Rand des Ackers, an dem Judas sich außerhalb Jerusalems erhängte, lag wahrscheinlich nicht im Blickfeld, so dass er einige Zeit dort hing. Wer sich einmal sachkundig machen will, was mit einem Selbstmörder geschieht, der einige Zeit aufgehängt bleibt, der möge die Berichte des Tatortreinigers Peter Anders5 lesen, der schildert, welche Arbeit er in Wohnungen hat, wenn er in mühevoller Arbeit die Reste der aufgeplatzten Körper entfernen muss, die nicht gleich nach ihrem Tod gefunden werden. Nicht sehr appetitlich, aber lehrreich. Wer das gelesen hat, dem wird bei Judas Tod in Zukunft kein Widerspruch mehr auffallen. Wahrscheinlich ist der Körper des Judas nach einiger Zeit entweder noch hängend oder als man ihn abschnitt, aufgeplatzt. So stürzte er zu Boden und seine Eingeweide verteilten sich auf dem Blutacker, der seinen Namen aus den beiden Tatsachen ableitete, dass er mit Blutgeld gekauft wurde und das Blut des Judas in ihn einsickerte. Man bekommt in diesem Buch auch genug Schilderungen, um die Formulierung des Apostel Paulus aus dem 2.Korintherbrief „ein Geruch des Todes zum Tode“ besser zu verstehen.

In diese Kategorie gehören auch fast alle Widersprüche, die im Zusammenhang mit Zeitangaben oder Zahlenangaben stehen. Die Bibel hat die Angewohnheit ziemlich viele, teilweise sehr genaue Angaben zu machen. Sie ordnet bestimmte Ereignisse so genau ein, dass wenn die Schreiber heute geschrieben hätten, sie das genaue Datum mit Jahreszahl dazugesetzt hätten.  Nun sind aber sämtliche Kalendersysteme willkürliche Setzungen, was uns immer dann klar werden kann, wenn wir zum Beispiel die jüdischen Jahreszahlen, mit den muslimischen und unseren vergleichen. Wir haben das Jahr 2011, in Saudi-Arabien ist aber 1432 und in Israel 5771. Beim islamischen Kalender weicht außerdem noch die Länge des Jahres ab, es hat nur 354 Tage. Das Jahr beginnt zu anderen Zeiten usw.

Solche Zusammenhänge führen dazu, dass etwa die Zahlenangaben über die Regierungszeiten der Könige in Israel und Juda während der Reichsteilung widersprüchlich erscheinen. Wenn man einfach nur liest, fällt es einem gar nicht auf, wenn man aber nachrechnet, will es einfach nicht passen. Und weil nicht einfach nur ein Zahlendreher durch falsches Abschreiben vorliegt, sondern das ganze widersprüchlich erscheint, gehört die Sache in diese Kategorie. Nun haben in den vergangenen rund 40 Jahren Forscher diese Zahlen verglichen und berechnet und ein sinnvolles System entwickelt, wie alle Angaben der Bibel ohne Korrektur stehen bleiben können und trotzdem die Rechnung am Ende aufgeht. Das beeindruckende ist, dass sich das System sogar weitgehend mit Angaben aus der orientalischen Umwelt Israels synchronisieren lässt. Wenn man dann so eine Zeittafel in Händen hält und mit ihr die Bibel liest, dann sieht das so aus, als wären alle Widersprüche gelöst. Aber wir sollten uns daran erinnern, dass dies auf Zusatzwissen und zahlreichen Zusatzannahmen beruht und die widersprüchlichen Regierungszeiten nun einmal in der Bibel stehen.6

Auch bei anderen Zahlen kann man sich nicht immer sicher sein. Vielleicht bedeutet die Zahl 1000 im Alten Testament nicht immer 1000, sondern im Zusammenhang militärischer Zählung eher Tausendschaft, und bezeichnet damit eine Einheit, wie Regiment oder Bataillon, die nicht 1000 Personen umfassen mußte. Bei widersprüchlichen Zahlenangaben könnte es auch so sein, dass ein altes System in ein neueres umgerechnet wurde. So ließen sich vielleicht Abweichungen zwischen den Königebücher und den Chroniken erklären. So sind auch die Ergebnisse der Volkszählung Davids unterschiedlich. Hätten wir genug Sachkenntnis über die Volkszählung sähen wir sicher keinen Widerspruch.

2.Sam 24,9 Und Joab gab dem König das Ergebnis der Musterung an. Und zwar gab es in Israel 800000 Wehrfähige, die das Schwert zogen, und die Männer von Juda waren 500000 Mann.

Chr 21,5 Und Joab gab David das Ergebnis der Volkszählung an. Und zwar gab es in ganz Israel 1110000 Mann, die das Schwert zogen, und in Juda 470000 Mann, die das Schwert

Fragen wir nach dem aktuellen Zensus 2011, der im Frühjahr durchgeführt wurde, wie viele Einwohner Deutschland hat, dann sind viele Zahlen möglich. So könnten sich die Zahlen auf den Zeitpunkt der Zählung beziehen oder aber, weil ihre Auswertung sich Monate hinziehen wird, auf den Zeitpunkt der Frage, so dass man in der Antwort eine ungefähre Fortschreibung vornimmt. Aber auch, wen wir zu den Einwohnern zählen, kann unterschiedlich beantwortet werden, etwa wenn man alle Deutschen zählte und dazu sagen muss, ob man nur solche mit deutschen Eltern meint oder auch alle Eingebürgerten oder alle zur Zeit legal oder illegal in Deutschland Lebenden und will man dabei auch die ausländischen Studenten mitrechnen, die nur für 2 Jahre im Land bleiben. Es wird uns schnell klar, dass eine einfache Frage, auf die wir eine einzelne Zahl als Antwort erwarten, sehr unterschiedlich beantwortet werden kann.

Bei manchen dieser Fragen und Antworten in der Bibel tappen wir einigermaßen im Dunkeln, weil wir nicht genug Kenntnisse haben. Wir werden sie vielleicht einmal haben, aber bis dahin bleibt uns nur die Zuversicht, dass tatsächlich kein bisher ungelöster Widerspruch den Wahrheitsanspruch der Bibel hinfällig macht.7

Vielleicht liegt in abweichenden Systemen zur Darstellung der Tageszeit auch die Lösung für den Widerspruch, dass bei Markus (15,25) Jesus bereits zur 3. Stunde (anscheinend gegen 9 Uhr, wenn man davon ausgeht, dass von 6 Uhr früh an die Stunden gezählt wurden) gekreuzigt wird, bei Johannes (18,14) aber erst in der 6. Stunde (nach 12 Uhr), die Synoptiker (Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44) aber übereinstimmend berichten, dass es von der 6. bis zur 9. Stunde während Jesus schon am Kreuz hing dunkel war und Jesus dann starb (also gegen 15 Uhr). Ich gehe davon aus, dass mit genauer Kenntnis der benutzten Systeme zur Angabe der Zeiten uns die Sache völlig klar wäre und wir keinen Widerspruch sehen würden. Leider haben wir sie nicht.8

Gott hätte, um all dem zu entgehen, auf genaue Angaben verzichten können. Er hat es nicht getan und so die Gefahr von widersprüchlichen Aussagen auf sich genommen. Warum? Ich glaube, es ist ihm wichtig, uns zu sagen, dass alle geschichtlichen Ereignisse in Raum und Zeit zu lokalisieren sind. Die Rettung kommt nicht durch einen Akt der Erkenntnis, die Erlösung ist keine Philosophie, sondern von Gottes Willen her vom Anfang der Schöpfung gewollter und geplanter Akt Gottes, der in Christus in Raum und Zeit wahr wurde.

6. Widersprüche, die in der wunderbaren Person Gottes begründet sind

Sobald wir uns mit der Offenbarung unseres Gottes, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Vaters unseres Herrn Jesus Christus beschäftigen, stoßen wir auf Widersprüche unserer menschlichen Logik. Das Wesen, die Gottheit und Person unseres Gottes sind nicht in einer geschlossenen Systematik fassbar. Jeder Versuch eine solche Systematik zu schaffen, führt unweigerlich zu Widersprüchen. Schon zugleich von einem ewigen Gott zu sprechen, der alles in allem ist (1.Kor 15,28) und zugleich ein Person, die notwendig klare Grenzen haben muss, entweder so oder so ist. Aber damit nicht genug. Von dem einen Gott hören wir, dass er einen Sohn von Ewigkeit geboren hat, der als Mensch geboren den Namen Jesus der Christus trägt und ebenso alles in allem erfüllt (Eph 1,23). Und sogar in seiner Körperlichkeit soll er die ganze Fülle der Gottheit in sich tragen (Kol 2,9). Sobald wir über die einzelnen Aussagen näher nachdenken, stoßen wir darauf, dass sie unsere Logik sprengen. Allerdings erscheint uns das Wesen Gottes – anders als man es erwarten würde – doch nicht widersprüchlich. Der Gott Abrahams und der Vater Jesu Christi ist der gleiche Gott. Wesen und Handeln passen zusammen, ohne dass ein widerspruchsfreies System das fassen könnte.

So zählt man zwar auch das Christentum zu den großen monotheistischen Religionen, aber der Islam hat es leichter seinem strengen Monotheismus zu fassen und lehnt konsequent und ausdrücklich die christliche Rede von Gottes Sohn ab. Allerdings wird auch deutlich, dass der Koran das Zeugnis der Christen von dem einen Gott als Vater, Sohn und Heiligem Geist völlig missverstanden hat, nämlich als ein Verhältnis zwischen Gott und Maria, aus dem Jesus als Sohn hervorging. Christen haben ein Problem, wenn sie sagen, dass sie nur an einen einzigen Gott glauben und nicht an drei und dass doch der Vater Gott ist und Jesus ebenso und sogar der Heilige Geist.

Die für unsere gewohnte Logik in sich widersprüchliche Lehre der Dreieinigkeit ist zweifellos eine wunderbare Beschreibung des ewigen Gottes. Aber die Christenheit selbst hat sich mit dieser Beschreibung schwer getan und musste sich erst unter der Macht der biblischen Aussagen darunter beugen. Es ist keineswegs so gewesen, dass theologische Zirkel oder kirchliche Gremien sich hinsetzten, um so eine Gottesbeschreibung zu entwerfen. Vielmehr drängte sich die Trinitätslehre einer widerstrebenden Christenheit auf, die lieber ein einfacheres Gottesbild entworfen hätte. Treffend formuliert Otto Weber in seinen Grundlagen der Dogmatik (Bd. 1, S. 403):

„Das Problem, dass die kirchliche Trinitätslehre interpretierend zu lösen unternahm, ist durch das Schriftzeugnis gestellt. […] Sie ist Interpretation des gesamten Zeugnisses des Neuen Testaments in seinem eigentlichen Kern.“

Betrachten wir eine Reihe von biblischen Aussagen, dann steht das Problem der Widersprüchlichkeit schnell vor Augen.

2.Mo 20,3 Du sollst keine andern Götter neben mir haben!

Jes 46,9: Gedenket der Anfänge von Ewigkeit her, dass Ich Gott bin und keiner sonst, ein Gott, dem keiner zu vergleichen ist.

Joh 10,30: Ich und der Vater sind eins.

Joh 20,28: Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Kol 2,9: Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.

2.Kor 13,13 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Got- tes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen!

Es gab in der Zeit der theologischen Klärung der biblischen Aussagen auch einfachere Vorschläge, die aber nicht das Gesamtzeugnis des Neuen Testament fassen konnten: ein Gott, der sich nur in unterschiedlichen Situationen in unterschiedlichen Erscheinungsweisen zeigt, sich quasi hinter verschiedenen Masken oder Verkleidungen verbirgt oder auch ein Gott, Jesus als besonderer Mensch, Gottes Prophet und Lehrer und der Heilige Geist als göttliche Kraft. Solche Entwürfe wären viel einfacher gewesen und dem menschlichen Verstand angenehmer. Nicht nur in der frühen Zeit der Christenheit, sondern auch später sind Sekten den Weg gegangen, ein vernünftigeres Gottesbild zu entwerfen. Ein modernes Beispiel dafür sind die Zeugen Jehovas.

Wendet man sich in diesem Zusammenhang nur dem Wesen von Jesus Christus zu, dann merkt man schnell, dass auch eine solche Einschränkung keine Entlastung mit sich bringt. Wie kann Jesus vollkommener Mensch sein und auch ganz Gott? 100% Mensch und zugleich 100% Gott, das entzieht sich menschlicher Logik. Das ist für uns Widerspruch, im Wesen Gottes aber nicht. Bereits in ihm, der vor aller Schöpfung war, ist alles geschaffen. Er ist ungeschaffen und einziggeborener Sohn von Ewigkeit her. „Geboren von Ewigkeit“, das ist für uns ein Widerspruch, im Wesen Gottes aber nicht.

Joh 1,18 Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.

1.Tim 2,5 Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus.

Hebr 1,8-12: 8Aber von dem Sohn [wird gesagt]: „Gott, dein Thron währt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und das Zepter der Gerechtigkeit ist das 9 Zepter deines Reiches. Du hast geliebt die Gerechtigkeit und gehasst die Ungerechtigkeit; darum hat dich, o Gott, dein Gott gesalbt mit Freudenöl wie keinen deinesgleichen.“ 10 Und: „Du, Herr, hast am Anfang die Erde 11 gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. Sie werden vergehen, du aber bleibst. Sie werden alle veralten wie ein Gewand; 12 und wie einen Mantel wirst du sie zusammenrollen, wie ein Gewand werden sie gewechselt werden. Du aber bist derselbe, und deine Jahre werden nicht aufhören.“

Hebr 13,18: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.

Und wollten wir uns weiter einschränken und nur einen Bereich unserer Frömmigkeit betrachten, weil uns das Wesen Gottes zu groß erscheint, so können wir auch hier nicht den Widersprüchen entkommen, die sich uns bei jeder Begegnung mit dem wahren Gott in den Weg zu stellen scheinen. Wie kann man zu einem Gott beten und ihn etwas bitten, wenn er doch tut, was er will? So lehrt uns die Bibel, dass Gott nicht ein Götze ist, den wir mit Opfern und Gebeten zu irgendetwas bewegen müssen, sondern der Gott, der doch schon weiß, was wir brauchen, bevor wir ihn bitten. Aber trotzdem sollen wir bitten. Denn wer bittet, der empfängt, von einem Gott, der dann doch über alles Bitten und Verstehen hinausgibt.

Mt 6,7-8: Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört um ihrer vielen Worte willen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen! Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, ehe ihr ihn bittet.

Mt 7,7: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan!

Eph 3,20-21: Dem aber, der weit mehr zu tun vermag, als wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, ihm sei die Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus, auf alle Geschlechter der Ewigkeit der Ewigkeiten! Amen.

Wenn wir in der Bibel auf solche Widersprüche stoßen, dann zeigen sie uns, dass wir es im Wort Gottes mit einem persönlichen und lebendigen Gott zu  tun haben. Diese Widersprüche unterstreichen, dass in der Bibel kein menschliches Gottesbild entworfen wurde. Der Gott der Bibel ist nicht einfach eine Projektion menschlicher Idealvorstellungen in den Himmel. Er ist lebendige Person, die sich uns in seinem Wort vorstellt. Es kann uns dabei helfen, wenn wir wahrnehmen, dass wir nicht in der Lage sind auch nur einen einzigen Menschen in einem widerspruchsfreien System von Wörtern vollständig zu beschreiben. Der lebendige Mensch ist schon zu komplex dazu. Wenn mir also ein widerspruchsfreier Gott dargestellt wird, dann muss ich sagen, das der nur eine Erfindung eines Menschen sein kann. Insofern ist der Gott, den wir in der Bibel kennen lernen, nicht so widersprüchlich, dass wir ihn für einen Betrug halten oder sein Wesen für lügenhaft, sondern die Widersprüche sind so, dass wir ihn lieben können und ihm vertrauen und ihn als eine lebendige Person wahrnehmen, die zugleich unvorstellbar über uns erhaben ist und doch ganz bei uns, dass wir wie Kinder „Papa“ zu ihmsagen.

7. Widersprüche, die sich aus dem Verlust der Einheit der Bibel ergeben

Das Problem, dem wir uns am Schluss der Betrachtungen nähern, birgt eine eigene Widersprüchlichkeit in sich, die uns fragen lassen könnte, ob das überhaupt etwas mit unserer Frage zu tun hat. Da es aber die Behauptung von Widersprüchen in sich trägt und auch mit einer eigenen Plausibilität verteidigt wird, kann man die Augen nicht davor verschließen. Am Besten betrachten wir zuerst Beispiele.

Die Erkenntnis, dass das 1. Buch Mose auf ältere Quellen zurückgehen muss, führte zuerst im 18. und dann verstärkt im 19. Jahrhundert verschiedene Theologen dazu eine Scheidung der Quellen vorzunehmen. Das weitete sich dann auf den gesamten Pentateuch (5 Bücher Mose) aus und führte zu einer „Rekonstruktion“, in der der Pentateuch ein Zusammenschnitt verschiedener theologischer Schulen darstellt und abschließend von einer Priesterschicht erst im Exil in Babylon redaktionell abgeschlossen wurde. Nun fand man in den angenommen Quellen Doppelungen und theologische Widersprüche zwischen einem so genannten Jahwisten, der den Gottesnamen Jahwe in seinen Erzählungen benutzt habe, und dem Elohisten und weiteren Quellen, wie der Priesterschrift, mit ihren Gesetzestexten. So machte man sich daran eine Quellenscheidung ins Werk zu setzen, die schließlich in einer Hexateuch-Synopse ihren Ausdruck fand, in der die angenommen Quellen auch optisch in eigenen Spalten dargestellt wurden.9

Damit  erschien  die Thora  nicht mehr als ein Werk, das letztlich in dem einen Autor Gott seinen Ursprung hatte, sondern  als eine Zusammenstellung von unterschiedlichen theologischen Schulen in Israel, die auch unterschiedliche Gottesvorstellungen vertraten und teilweise widersprüchlich Ansichten vertraten, die die Endredaktion nicht völlig beseitigt habe.10

Was war passiert: Aus verschiedenen Beobachtungen etwa am so genannten ersten und zweiten Schöpfungsbericht meinte man scheinbar widersprüchliche Aussagen oder Darstellungen ableiten zu müssen. Daraus wurde eine Theorie gebildet, die die Einheit der Mosebücher verneint und dann wiederum dazu führt, dass man Widersprüche geradezu zu suchen scheint oder doch in den kleinsten Abweichungen in Formulierung oder Darstellung nicht Ergänzung oder Variation desselben entdeckt, sondern eben Widersprüche.

Allerdings war bereits ab Mitte der 1970er Jahre die Sache auch in der historisch-kritischen Theologie zunehmend umstritten, weil keine Einigkeit über belastbare Ergebnisse der Quellenscheidung erzielt werden konnte. Heute gilt: „Während weithin an der vielfach modifizierten klassischen Pentateuchhypothese trotz Meinungsvielfalt über die Quellen festgehalten wird […], verlegen einige den Gesamtentwurf in die spätvorexilische, andere in die spätnachexilische Zeit“.11

Ähnliches lässt sich im Blick auf die Deutung des Jesajabuches erkennen. Weil man einen Widerspruch darin entdeckt, dass Jesaja von König Kyros (Jes 44,28-45,8) als dem redet, der Israel aus der Gefangenschaft befreien wird, obwohl der doch mindestens 150 Jahre nach Jesaja lebte. Außerdem schreibt Jesaja von dem Gericht über Babylon (Jes 47,1; 48,14), obwohl doch zu seiner Zeit Assyrien die Macht hatte und das Neubabylonische Reich noch unbedeutend war. Israel soll aus Babel fortziehen (Jes 48,20), wohin es zur Zeit Jesaja noch gar nicht weggeführt war. Warum auch sollte ein Prophet, der lange vor der Wegführung nach Babylon lebte, ein „Trostbuch“ für die Verbannten verfassen? Auf  der Grundlage dieser  durchaus berechtigen  Fragen,  entstanden „Widersprüche“, die man versuchte dadurch zu lösen, dass man behauptete, das Buch Jesaja sei von zwei oder drei Autoren geschrieben, von denen zwei später lebten und „Schüler“ des ersten Jesaja gewesen seien. Ist diese Vorentscheidung erst einmal getroffen, dann vermehren sich die Widersprüche schlagartig. Nun passten etwa geographische, botanische und zoologische Bezüge, die sich bei Jesaja zahlreich finden, einerseits nicht nach Babylon, eher in den Libanon, andererseits nach Jerusalem in die Zeit Esras. Dann meinte man auch sich widersprechende, theologische Konzepte vorzufinden. So schien der eine Jesaja in den Kapiteln 1-39 eher einen herrlichen Gott Jahwe Zebaoth vor Augen zu haben, während ein anderer Jesaja die Vorstellung von einem leidenden Knecht Gottes in den Vordergrund stellte.12

Es gehört in der kritischen Theologie heute weitgehend zum System, die Einheit der Bibel völlig abzustreiten und die Einheit einzelner Bücher regelmäßig in Zweifel zu ziehen. Das hat einerseits seinen Ausgang in einem Widerspruch, den man zu entdecken meinte und führt andererseits dazu, dass auch jeder noch so kleine Unterschied in Nuancen zu einem Widerspruch stilisiert wird. Jeder gefundene Widerspruch wird dann zu einem Ankerpunkt für eine kritische Theorie, „sodass darüber der Blick für die Einheit und umfassende Aussagen der Heiligen Schrift verloren gehen. Dann zerbröckelt der Pentateuch und jedes andere biblische Buch zu einem Konglomerat beziehungsloser Texte. Die alles verbindende Einheit wird nicht mehr gesehen, die Botschaft des Ganzen nicht mehr gehört…“.13

Was die Chicago-Erklärung bekennt, dass es nämlich eine Einheit der Heiligen Schrift gibt, wird so prinzipiell verneint.

Die Beispiele für dieses Vorgehen finden sich genauso im Blick auf das Neue Testament und die Sache folgt wieder dem gleichen Muster. Der Epheserbrief vertrete eine andere Vorstellung von der Gemeinde als Leib Christi als der 1.Korintherbrief und deswegen ist er nicht von Paulus geschrieben, sondern von einer Paulusschule, die seine Gedanken weiterführen wollte, dabei aber von Paulus abgewichen ist. Die Rede von den verschiedenen, sich widersprechenden Ekklesiologien (Lehre von der Gemeinde) oder Christologien (Lehre von Christus) ist mittlerweile ganz normal geworden. Überall finden sich angeblich verschiedene Theologien, die miteinander im Widerstreit stehen. Die kritische Theologie erkennt in der Bibel weithin einen Sprechsaal religiöser Meinungen und religiöser, individueller oder kollektiver Erfahrungshorizonte. Es kommt dem Beobachter dabei so vor, als wolle man den Pluralismus der theologischen Meinungen, der heute üblich ist und der es anscheinend verbietet, eine Meinung als falsch abzuwehren, auch in der Bibel finden.

Leider hat dies auch in die evangelikale Betrachtung der Bibel Eingang gefunden, wenn man etwa unterschiedliche Ekklesiologien im NT findet. Oder man entdeckt Unterschiede zwischen Jesus und Paulus, etwa in der Frage nach dem Dienst der Frau in der Gemeinde. Und immer dann, wenn Unterschiede zu Widersprüchen werden, dann ist eine Tür geöffnet für die Möglichkeit, mehrere sich widersprechende Meinungen nebeneinander stehen zu lassen. Die in die Bibel hineingelesenen Widersprüche erlauben es somit, theologischen Meinungen einen Platz einzuräumen, die man sonst ablehnen müsste.

Nach der Aufgabe des Glaubens an die Einheit der Heiligen Schrift aufgrund ihres einen Autors und Urhebers Gott, waren alle Versuche, die Einheit anders zu begründen und aus der methodischen Widersprüchlichkeit zu entkommen, zu schwach, um das Verlorene zu ersetzen. Weder die so genannte „Biblische Theologie“ noch der „Canonical Approach“ oder die „Synthetische Interpretation“ sowie die „Narrativ-Theologien“ sind ein allgemein akzeptierter Ausweg.14

Das Ergebnis dieser Krise lässt sich treffend so beschreiben:

„Die Spezialisten für Detailfragen von Halb- und Viertelversen, die außerhalb des Faches sowieso niemand mehr zur Kenntnis nehmen kann, stören nicht diejenigen, die an einer neu aufgelegten biblischen Theologie basteln. Gekrönt wird dieser exegetische Betrieb der Folgenlosigkeit durch die Bemühungen, die Bedeutung des Hellenismus […] zurückzu- drängen. […] Überdies  tragen  diese Versuche dazu bei, das einstmals kritisch-aufgeklärte Profil protestantischer Exegese im Gemenge einer neuen Unübersichtlichkeit untergehen zu lassen.15

Was sollten Christen daraus lernen, die der Heiligen Schrift treu bleiben wollen? Zuerst einmal so viel, dass Widersprüchlichkeit und Ablehnung der inneren Einheit der Heiligen Schrift Hand in Hand gehen. Wer die Einheit aufgibt, der wird schließlich vor einer heillos widersprüchlichen Bibel stehen und zwar letztlich deswegen, weil er seine eigene Widersprüchlichkeit in sie hineinträgt.

Darum sollten uns die Differenzen, die offenbar in der Bibel zu entdecken sind, zum Forschen nach ihrer inneren Einheit anregen, statt dass wir sie verneinen. Wir dürfen die Differenzen und Disharmonien nicht einfach ignorieren, sondern sie sollen uns Anlass sein, unseren Gott und seinen Willen besser kennen zu lernen. Die Stolpersteine in der Bibel können uns davor bewahren, uns eine allzu leichte oder glatte Theologie zurechtzumachen, die uns am Ende hindert, Gott so zu erkennen, wie er erkannt werden will.

Darum bleibt es überaus wichtig, genau zwischen biblischer Aussage und darauf aufgebauter menschlicher Meinung zu unterscheiden. Es ist nicht verboten, aufgrund biblischer Aussagen Ableitungen und Schlussfolgerungen für Lehre und Leben zu bilden. Die Bibel fordert uns gerade dazu heraus. Aber es darf nur das unumstößlich sein, was wirklich da steht. Alles andere muss sich wie Martin Luther einmal sagte – der Heiligen Schrift als Königin beugen. Wenn wir anfangen mit unseren lieb gewonnenen Meinungen die Schrift regieren zu wollen und uns dazu auf ihre Widersprüche berufen, dann sind wir Herren des Wahrheitsanspruchs der Bibel geworden. Im Ergebnis aber werden wir uns in unserer eigenen Widersprüchlichkeit verfangen.

Fazit

Wenn wir auch als aufmerksame Leser der Bibel immer wieder auf Widersprüche stoßen werden, so erkennen wir doch, dass die Art der Widersprüche sämtlich nicht den Wahrheitsanspruch der Heiligen Schrift zunichte machen. Er bleibt bestehen: Keiner der gefundenen Widersprüche ist zwangsläufig ein Widerspruch, der auf einem formalen Irrtum beruht.16 Ein solcher Widerspruch würde den Wahrheitsanspruch und die Irrtumslosigkeit der Schrift hinfällig machen.

Die Arten von Widersprüchen aber, die wir gefunden haben, sollen uns vielmehr Anlass werden, den Charakter der biblischen Offenbarung besser zu verstehen. Sie besteht in Zeugenberichten, nicht in einem theologischen Lehrbuch. Sie ist in der Geschichte geschehen und selber Heilsgeschichte mit Verheißung und Erfüllung. Und sie bringt uns zu dem Gott, der uns unbegreiflich bleibt und den wir dennoch lieben. Sie schafft bei uns den Glauben an den Gott, der Mensch werden konnte und dessen Name „Jesus“ über alle Namen ist. Sie bringt den Heiligen Geist mit sich, der uns die Gewissheit gibt, dass wir in Jesus Christus gerettet sind. Wer aber Christus nicht findet, der wird sich in einer Widersprüchlichkeit gefangen sehen, die seine eigene Widersprüchlichkeit ist, aber nicht die der Heiligen Schrift.


  1. Ich nenne zum Beispiel die Artikel von Richard Schultz, „Die sogenannten Widersprüche im Alten Testament“, in: Bibel und Gemeinde 4/1999 und 1/2000. Abgedruckt auch in: Die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel, Nürnberg: VTR, 2001, S. 101-126. Auch der Beitrag von Wolfgang Nestvogel gibt gute Hinweise. „Widerspruch? Einspruch! Vom Umgang mit sogenannten Widersprüchen in der Bibel“, Bibel und Gemeinde 2/2003, S. 21-37. 

  2. Karl-Heinz Deschner: „Der gefälschte Glaube: eine krit. Betrachtung kirchl. Lehren und ihrer hist. Hintergründe“, München: Knesebeck, 2004, S. 28. 

  3. Dass diese Autoren auch älteres Material verarbeiten oder andere Autoren zitieren, erhöht nach normalem Verständnis nicht die Zahl der Autoren, denn auch heute hat ein Buch nicht deswegen mehrere Autoren, weil Zitate darin enthalten sind. Erst wenn ein Buch gemeinsam verfasst wurde, hat es auch zwei oder mehr Autoren. So könnte man davon sprechen, dass der Kolosserbrief zwei Autoren hat, weil Paulus und Timotheus genannt werden (1,1), aber nicht deswegen mehr, weil vielleicht ein Lied zitiert wird (1,15-18). 

  4. Der Versuch von W. Nestvogel aus der grammatischen Struktur einen Unterschied zu belegen, scheitert aber. Hören mit phone im Akkusativ (wie in Apg 22,9) bedeutet offenbar nicht immer, dass man das Gesagte nicht versteht, wie etwa Apg 22,22 oder 2.Petr 1,18 zeigen (Nestvogel, Widerspruch, S. 32). 

  5. Peter Anders: „Was vom Tode übrig bleibt: Ein Tatortreiniger berichtet“, München: Heyne, 2011. 

  6. Eine gute Einführung in das Thema findet sich bei Wolfgang Bluedorn und Hans-Georg Wünch: „Chronologie im Alten Vorderen Orient und im Alten Testament“, in: H. Pehlke (Hg.), Zur Umwelt des Alten Testaments, Holzgerlingen: Hänssler, 2002: S. 264-289. 

  7. In seinen Aufsätzen „102 Antworten auf 101 Fragen“ hat K.-H. Vanheiden Vorschläge zu etlichen dieser Probleme gemacht. Vgl.: Bibel und Gemeinde 1, 3 und 4/2010. 

  8. Eine große Hilfe zum Verständnis ist immer noch Oswald Gerhard: „Das Datum der Kreuzigung Jesu Christi: Geschichtlich-astronomisch berechnet“, Berlin: Wiegandt, 1914. 

  9. Otto Eissfeld: „Hexateuch-Synopse. Die Erzählung der fünf Bücher Mose und des Buches Josua mit dem Anfange des Richterbuches“, Leipzig, 1922. 

  10. Ich stelle die Sache hier zugegebenermaßen sehr vereinfacht dar. Die verschiedenen Hypothesen, wie die Quellen zusammengestellt sein sollen, und selbst aus wie vielen Quellen überhaupt geschöpft wurde, sind alle nicht überzeugend. Trotzdem war die Sache dem Grunde nach zu einer Art Allgemeinwissen der Theologie geworden. Schon vor 50 Jahren hat sich der Bibelbund besonders in der Person von Samuel Külling kritisch mit diesen Fragen beschäftigt. Siehe seinen Aufsatz: „Was lehren uns 250 Jahre Quellenforschung in den Mosebüchern, 1711-1961?“, in: Bibel und Gemeinde 4/1962: S. 166-175. 

  11. Helmuth Egelkrauth u.a.: „Das Alte Testament: Entstehung – Geschichte – Botschaft“, Gießen: Brunnen, 5. völlig neu bearbeitete Aufl. 2012. S. 110. 

  12. Einen guten Überblick über die Argumente bietet Claus-Dieter Stoll: „Umstrittene Verfasserschaft am Beispiel des Jesaja-Buches“, in: E. Hahn (u.a. Hg.), Dein Wort ist die Wahrheit: Festschrift für Gerhard Maier, Wuppertal: R.Brockhaus, 1997: S. 165-187. 

  13. Egelkrauth, a.a.O. S. 112. 

  14. „Dabei hat sich gezeigt, dass an vielen Stellen, wo man Brüche, Spannungen, Dubletten usw. sah, in Wirklichkeit eine kunstvolle literarische Gestaltung vorliegt – nur auf ganz andere Art, als wir durch unsere eigene Kultur und Literatur geprägten Leser es erwarten. […] So betrachtet ist die Genesis kein redaktioneller ‚Flickenteppich‘, sondern ein bewusst konzipiertes literarisches Ganzes“. Egelkrauth, a.a.O. S. 113. 

  15. F. Wagner: „Auch der Teufel zitiert die Bibel: Das Christentum zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips“, in: R. Ziegert (Hg.), Die Zukunft des Schriftprinzips, , Stuttgart: Kohlhammer, 1994: S. 251. 

  16. In diesem Aufsatz wurde die massive Kritik am Wahrheitsanspruch der Bibel in Blick auf Sachaussagen nicht behandelt. Irrtümer auf diesem Feld werden in der Regel ‚materialer Irrtum’ genannt im Unterschied zu ‚formalen Irrtümern’, die hier besprochen wurden. Zu solchen angeblichen sachlichen „Falschaussagen“ zählt man beispielsweise die Schöpfungsaussagen oder biblische Wunderbehauptungen, aber auch immer wieder bestimmte geschichtliche Aussagen.