Einleitung
Die Christen waren schon immer versucht, dem Evangelium mit menschlichen Mitteln Nachdruck zu verleihen. Sie haben sich dabei in der Regel dem jeweiligen Zeitgeist angepasst. Einige Beispiele:
Im Mittelalter hat die Kirche dem Evangelium mit der Gewalt von Waffen Nachdruck verliehen. Die Verbindung von Kirche und Staat, von Religion und Recht, war sehr eng. Karl der Große führte Krieg gegen die Sachsen. Ihr Widerstand erzürnte ihn so sehr, dass er bei Verden an der Aller gleich mehrere Tausend abschlachtete. Nachdem die übrigen sich ihm unterworfen hatten, wurden sie christianisiert. Der Geist der Gewalt motivierte die Kreuzzüge, die Verfolgung der Waldenser und die Gegenreformation. Militärische Gewalt musste herhalten, um dem angeblich rechten Glauben Geltung zu verschaffen. In Ungarn wurden Protestanten von kaiserlichen Soldaten aus dem Haus geholt und zur katholischen Messe geschleppt. Gewaltsam wurde ihnen der Mund geöffnet und ihnen die mit viel Aberglauben geweihte Hostie eingeschoben, während der katholische Priester vermutlich dachte, dies sei doch für das Heil des armen, irrenden Protestanten das einzig Richtige.
Wir kritisieren solche Maßnahmen mit Recht und lehnen Gewalt in Religionsfragen ab. Wir sind doch aufgeklärt! Aber sind wir deswegen besser? Die Protestanten haben sich in der Aufklärung bemüht, zu zeigen, dass der Glaube an Gott vernünftig ist. Der Vernunftbeweis sollte dem Evangelium Kraft verleihen. Die Pietisten wollten anhand ihrer Erfahrungen den aufgeklärten Skeptikern beweisen, dass Gott wirklich da ist. Hier war es die Erfahrung, die dem Evangelium Überzeugungskraft verleihen sollte. Die Erweckungs- und insbesondere die Heiligungsbewegung surfte auf der Welle des Optimismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als sie meinte, mit der Lehre von der vollkommenen Heiligung durch die Kraft des Heiligen Geistes den neuen Menschen zu verwirklichen, um anhand des neuen Menschen die anderen von der Kraft des Evangeliums zu überzeugen. Jedesmal wurde dem Wort etwas Menschliches und Sichtbares zugeschaltet, um es zu Wirkung zubringen.
Das 20. Jahrhundert war nicht besser. Es hatte schon längst keine irrtumslose heilige Schrift mehr, der man hätte vertrauen können. Also band es das Evangelium an die übersinnliche Erfahrung. Gary Gibbs vom Evangelistic Team von Günter Tesch sang in den Siebziger Jahren: „Ich fühle mich so gut seit ich gläubig bin“. Hier erscheint das Evangelium als Wohlfühl-Droge, gleichsam als Ersatz für den Drogenkonsum, den die 68er propagierten. Das gute Gefühl von Herrn Gibbs sollte die Leute motivieren, dem von Herrn Tesch verkündigen Evangelium zu glauben. John Wimber und seine Vineyard Fellowship meinten in den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, Zeichen und Wunder würden den säkularen Zeitgenossen doch überzeugen. Er war mit diesem Argument genauso aufgeklärt wie Lessing, der bekanntlich den aktuellen, sich vor den Augen des heutigen Betrachters ereignenden Beweis des Geistes und der Kraft forderte. Bis heute ist es so: Wann immer etwas Ungewöhnliches und scheinbar Übersinnliches mit einem christlichen Schein passiert, fahren die Christen hin: In den Siebziger Jahren zu den Veranstaltungen von David Wilkerson, in der Achtzigern zu John Wimbers Vineyard Fellowship, in den Neunzigern noch Toronto, um sich den Toronto-Segen abzuholen. Der Kult des Irrationalen in der Welt fand dort jeweils seine fromme Parallele.
Manche Christen sind vielleicht des Irrationalen müde und wollen wieder etwas Handfestes, etwas, was machbar ist und greift. Was liegt näher, als den Gemeindebau in die Hand zu nehmen, umso mehr, als die Großkirchen verfallen und die Öffentlichkeit säkularisiert und Gemeinde doch ganz im Interesse Gottes liegt. Die Frage lautet dann: Wie kommt man an den ungläubigen Menschen heran? Wie bekommt man ihn in einen Gemeinderaum? In der Tat hat sich eine säkulare Öffentlichkeit breitgemacht, die vom christlichen Glauben nichts mehr weiß. Das merken mittlerweile auch die Großkirchen und sprechen wieder über „Mission“. Doch die Bibel kritisieren sie nach wie vor und die Katechismen der Reformation haben sie in der Schublade verschwinden lassen. Ihre Predigt entspricht den religiösen Erwartungen des gegenwärtigen Menschen, mit ein bisschen Spiritualität dem Leben Tiefgang zu verleihen. Die klassische Seelsorge wird indes durch psychotherapeutische Methoden und Maßnahmen ergänzt oder gleich ganz ersetzt.
Die von der amerikanischen Gemeindebau- und Gemeindewachstumsbewegung motivierten Programme, die sich mit den Namen Willow Creek und Bill Hybels sowie Rick Warren und der Saddleback-Gemeinde verbinden, sagen, man müsse den Gottesdienstbesucher oder Hörer in den Mittelpunkt stellen. Seine Erlebniswelt, seine gefühlsmäßige Disposition, seine Wünsche und Erwartungen müsse man mit dem Evangelium bedienen. Das klang so toll, dass selbst Gemeinschaftsleiter aus dem sächsischen Erzgebirge nach Chicago gejettet sind, um sich bei Willow Creek Anregungen für ihre Gemeindearbeit zu holen. Ein Gemeindeleiter aus Westdeutschland erzählte mir vor einiger Zeit voller Stolz, sie hätten nun für 10.000 Euro eine neue Lichtanlage in ihre Gemeinderäume eingebaut, mit der man die Bühne besser und je nach Szene beleuchten könne, und er drückte seine Hoffnung aus, nun die jüngere Generation besser zu erreichen. Hoffte er, dass die Kraft des Heiligen Geistes aus den neuen Lampen käme? Die Meinung, man könne den Gottesdienstbesucher für das Evangelium empfänglich machen, indem man ihm im sogenannten Prä-Evangelisations-Stadium in einer Form begegne, die seiner Wellenlänge entspreche, ist verschiedentlich geäußert worden. Also doch: die neue Lichtanlage als Herzensöffner?
Ich will nicht einer dem biblischen Wort unangemessenen Primitivität das Wort reden. Wenn es in einem Gemeinderaum zu dunkel ist, dann mag man eine bessere Beleuchtung einbauen, und wenn die Stimme des Pastors zu leise ist, dann mag man mit einer neuen Lautsprecheranlage Abhilfe schaffen. Das eigentliche Problem aber liegt nicht in der Beleuchtung und Beschallung, sondern im Vertrauen auf die Beleuchtung und die Beschallung, oder soll ich sagen: im Aberglauben, mit einer besseren Beleuchtung und Beschallung käme der Mensch leichter zum Glauben. Es ist der gleiche Irrtum, der vorzeiten die Kirche dazu verleitete, militärische Macht einzusetzen, um dem Evangelium Geltung zu verschaffen, und der gleiche Irrtum führte die Christen in der Neuzeit dahin, mit Vernunftgründen oder Erfahrungsbeweisen die Menschen vom Evangelium zu überzeugen. Heute werden ein fernsehreifes Programm oder neue technische Apparaturen zugeschaltet, um dem angeblich kraftlosen Wort die erwünschte Wirkung zu verschaffen. Soweit die Problemanzeige für das, was ich in meinem Vortrag sagen möchte.
Ich habe vor etwa zehn Jahren bei einer Tagung des Bibelbundes Schweiz in Beatenberg schon einmal einen Vortrag über das Thema „Die Kraft des Wortes Gottes“ gehalten. Dieser findet sich auf der Internetseite des Instituts für Reformatorische Theologie, das ich leite, und kann dort heruntergeladen werden. Heute möchte ich darüber sprechen, dass Gott sich mit dem Wort den Hörer selbst schafft. Gott selbst ist der Missionar. Er baut seine Kirche nach seinem gnädigen Ratschluss. Wenn er einen Menschen erwählt hat, dann führt er ihn auch zur Umkehr und zum Glauben an Jesus Christus. Dazu spreche ich im ersten Teil über die Doppelheit von normativer und kausativer Autorität der Schrift. Im zweiten Teil konkretisiere ich dies und spreche über die Doppelheit der Schrift als Gesetz und Evangelium.
1. Die normative und kausative Autorität der Schrift
Sie kennen vielleicht den etwas spöttischen Satz „Rom locuta, causa finita“ („Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt“). So lautet das geflügelte Wort über die Autorität des Papstes. Klar, dass das für uns Protestanten nicht gilt. Wir bekennen Gott und sein Wort als die normative Autorität in allen Fragen des Glaubens und Lebens. Also würden wir sagen: Biblia locuta, causa finita. Das ist für’s Erste auch richtig. Die Bibel ist Gottes Wort und als solches gilt es. Wenn die Schrift etwas sagt, dann ist das, wenn es nicht entsprechend ausgewiesen ist, nicht zeitbedingte Menschenmeinung oder subjektives menschliches Verständnis, sondern dann ist es Gottes Wort. Wenn die Bibel sagt, dass Homosexualität Sünde ist, dann ist das so, unabhängig davon, welche Meinung die Medien, die Politiker oder die Gesellschaft dazu vertreten. Wenn die Bibel sagt, dass eine Frau in der Kirche nicht lehren solle, dann können weder eine Kirchenleitung noch eine Frauenquote noch eine Gleichstellungsbeauftragte diese Anweisung außer Kraft setzen.
Tatsache ist aber auch, dass Gott den Menschen die Freiheit lässt, gegen seine Gebote zu denken, zu reden und zu handeln. Tatsache ist deshalb auch, dass die Menschen am laufenden Band gegen Gottes Gebote verstoßen. Gott kann sogar eine Gesellschaft so dahingeben, dass sie sich mit Christopher-Street-Days und der gesetzlichen Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit der traditionellen Ehe ihrer Liberalität rühmt, obwohl dies im Licht von Römer 1 ein Zeichen der Schande und des Gerichts ist.
Damit stehen wir vor dem Problem: Wie kommt der Mensch dazu, die Autorität Gottes zu erkennen und für sich gelten zu lassen? Wir müssen beim näheren Hinsehen feststellen, dass das Problem noch viel gravierender ist: Wie kommt ein sündiger Mensch dazu, der in seinem Wesen ein Feind Gottes ist, seinen Aufstand gegen Gott aufzugeben? Sein ganzes Wesen ist doch darauf programmiert, sich gegen Gott zu erheben. Das ist die biblische und damit auch die protestantische Sicht des gefallenen Menschen. Es ist nicht so, wie es der Katholizismus lehrt, dass der Mensch in seinem Herzen immer ein – wenn auch manchmal verkappter – Gottsucher sei. Der Satz Augustins vom unruhigen Herzen, das erst dann zur Ruhe komme, wenn es sich Gott zuwende, stimmt zwar formal, aber er darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch seit dem Sündenfall darauf programmiert ist, Sünde zu tun und sich gegen Gott zu erheben. Wenn er meint, Gott zu suchen, und wenn er gute Werke tut, um bei Gott etwas zu verdienen, dann ist er stolz auf seine Religiosität und seine guten Werke und denkt bei sich, Gott müsse ihm doch gnädig sein. Er „rühmt“ sich, wie Paulus sagt, seiner guten Werke, doch indem er seine Werke missbraucht, um bei Gott einen Anspruch zu erheben, sündigt er selbst im guten Werk. Wir sehen hier, dass der Mensch so in sich selbst verkrümmt ist, dass er selbst dann, wenn er gut sein will, es nicht kann. Der Mensch ist, wie Paulus sagt, fleischlich, und fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott (Röm 8,7). Fleischlich heißt nicht „auf den Leib bezogen“, sondern es schließt die menschliche Geistigkeit ein. Paulus gebraucht das Wort „Fleisch“, um das natürliche sündige Wesen des Menschen zu bezeichnen. Der Mensch denkt von Hause aus „fleischlich“. Paulus stellt des weiteren fest, dass das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan sein kann; es vermag es nicht, denn es ist, obwohl es von Gott geschaffen ist, durch den Sündenfall vollständig Gottes entfremdet und gegen Gott gerichtet. Die Tatsache, dass Paulus dies in Röm 8 sagt, also auch an die Adresse von Christen, zeigt, dass er sogar den Christen in der Gefahr sicht, vom „Fleisch“ bestimmt zu werden. Schaut man in die christliche Szene, dann kann man problemlos erkennen, dass er recht hat.
Nach wie vor stehen wir also vor der Frage, wie der Mensch dazu kommt, die Autorität Gottes zu erkennen und für sich gelten zu lassen. Aus der Sicht der römischen Kirche sowie aus der Sicht zahlreicher Protestanten ist dies eine Sache der Entscheidung des Menschen. Der Mensch könne es, wenn er es wolle. Also wird der Mensch aufgefordert: Akzeptiere doch endlich die Autorität der heiligen Schrift! Es steht demzufolge in der Kraft des Menschen, sich selbst bibeltreu zu machen.
Doch dabei bleibt die Bibel ein papierener Papst. Diesen Vorwurf kann ich vielen Darstellungen derAutorität der Heiligen Schrift aus dem bibeltreuen Lager nicht ersparen. Regelmäßig wird betont, dass die Bibel Maßstab für Lehre und Leben sein müsse. So richtig das ist, so falsch ist es in seiner Einseitigkeit. Denn indem nur diese Seite der Autorität der Schrift gelehrt wird, wird es dem sündigen Menschen überlassen, sich bibeltreu zu machen. Dass er das nicht kann, liegt auf der Hand, es sei denn, er produziert eine Bibeltreue nach der Art der Pharisäer und Schriftgelehrten, die Christus verkennt und verachtet.
Die Antwort auf dieses Problem lautet: Die kausative Autorität der Schrift, oder, sagen wir es deutsch: die Wirkmacht der Schrift. Sagt nicht der Hebräerbrief: „Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ Gott sagteschon durch den Propheten Jeremia: „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ (Jer 23,29). Das Wort Gottes hat eine Wirkung, und das gilt erst recht für das geschriebene Wort.
Weil die heilige Schrift von Gott, dem Heiligen Geist, ausgesprochen worden ist, ist sie bei aller Menschlichkeit, die wir nicht übersehen dürfen, doch zu- gleich Gottes Wort. Durch sie wirkt Gott nach seinem Ratschluss. Ich habe in meinem oben erwähnten Aufsatz deutlich gemacht, dass es nicht ein Mangel an Geist und Kraft im Wort ist, wenn das Wort die Menschen nicht zur Umkehr führt, sondern dass es daran liegt, ob Gott es einem Menschen gibt, sein Wort zu verstehen und an ihn zu glauben. Gott wirkt nach seinem Erwählungsratschluss. Martin Luther hat das im Kleinen Katechismus in die Worte gefasst: „Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet und im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“ Er sagt damit ganz im Sinne Jesu: „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater“ (Joh 6,44) und „Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben“ (Joh 6,65). Das Gleiche sehen wir auch in der Missionstätigkeit des Apostels Paulus, wo es heißt: „… und alle wurden gläubig, die zum ewigen Leben gestimmt waren“ (Apg13,48).
Gott aber bekehrt den Menschen mit dem Wort, sei es, dass ein Mensch die Bibel liest, oder sei es, dass er eine Predigt hört, in der Gottes Wort verkündigt wird, oder sei es, dass er ein Buch liest, in dem das Evangelium dargestellt wird. Die Kraft des Heiligen Geistes aber ist im biblischen Wort. Luther war davon überzeugt, dass das Wort Gottes – die heilige Schrift – gepredigt werden müsse. Nicht, dass er der Ansicht gewesen wäre, dass die Predigt, der lebendige Vortrag, dem biblischen Wort erst die Kraft gäbe, sondern er sagt: „Desgleichen, wenn du auch nicht zur Predigt gehst, sagt Paulus: Diese Schrift, die du liest, die ein Buchstabe ist, sie gibt doch das Leben, weil sie ein Gemälde ist von jenem Mann. Das sind die allergrößten Wunder: dass sich Gott so tief herablässt und sich in den Buchstaben senkt und sagt: Hier hat der Mensch ein Gemälde von mir. Dem Teufel zum Trotz sollen diese Buchstaben die Kraft haben, dass sie die Menschen erlösen! Also ist die Schrift ein Wahrzeichen, das Gott dahin setzt. Nimmst du sie an, bist du selig…“1
Das ist die logische Konsequenz aus der Tatsache, dass die Bibel Gottes ureigenstes Wort ist. Wir beschreiben diesen Sachverhalt in der Lehre von der Theopneustie oder der Inspiration der Schrift. Wenn sie also vom Heiligen Geist ausgesprochen worden ist, dann kommt Gott im Heiligen Geist zu uns in der Gestalt des biblischen Wortes. Dann ist auch Gott mit seiner Kraft im biblischen Wort da – oder soll ich sagen: hier, bei uns, bei Ihnen, wo immer Sie Gottes Wort hören oder lesen. Wer dieses Wort hört oder liest, möchte sich dessen bewusst sein, dass das, was er hört oder liest, Gottes Kraft zur Rettung ist. Wer dieses Wort verkündigt, sollte dies tun in der Gewissheit, dass Gott selbst mit seinem Wort wirkt, so es denn rein verkündigt wird.
Damit möchte ich sagen: Wir müssen die Menschen nicht mit allerlei Tricks veranlassen, Christ zu werden. Ein Mensch wird nicht dadurch Christ, dass er sich für Jesus entscheidet, sondern dadurch, dass er zum Glauben an Christus kommt. Christ zu werden liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, son- dern an Gottes Erbarmen, wie die Schrift sagt (Röm 9,16). Läge es jemandes Wollen, dann müsste man alles tun, um dem Menschen willig zu machen. Dann wäre es nötig, dem Evangelium Geschmacksverstärker beizumischen, damit der ungläubige Mensch Appetit bekommt.
2. Gesetz und Evangelium
Im zweiten Hauptteil meines Vortrags möchte ich einige praktische Überlegungen anstellen. Auch dieses tue ich unter der Leitfrage: Wie wirkt Gottes Wort? Wie bringt es einen Menschen zum Glauben an Jesus Christus? Ich muss hier über zwei inhaltliche Kategorien sprechen, die für die Predigt des Wortes Gottes von grundlegender Bedeutung sind. Es geht dabei um das Gegensatzpaar „Gesetz und Evangelium“. Wir müssen uns vor Augen halten, dass Gott auf zweierlei Weise mit uns redet. Im Gesetz sagt er: „Du sollst!“ und „Du sollst nicht!“ Im Evangelium hingegen stellt er keine Forderungen, sondern verheißt seine Heilsgaben ganz frei und umsonst. Hier sagt er zum Beispiel: „Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du und dein Haus selig“ (Apg 16,31). Das Evangelium spricht vom Werk Gottes in Jesus Christus und ruft zum Glauben, dass wir in seiner Person und seinem Werk die Gerechtigkeit haben, die vor Gott gilt und allein gelten kann. Man sollte Gesetz und Evangelium nicht miteinander vermischen. Man darf beides aber auch nicht so voneinander scheiden, dass eine positive Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium nicht mehr erkennbar ist. Man muss sie, wie die Lutheraner richtig gesagt haben,„unterscheiden“.
Wenn ein Mensch zum Glauben an Christus kommen soll, dann muss er verstehen, welche Bedeutung Christus für ihn hat. Er muss erkennen, dass er Jesus Christus braucht. Hier setzt nun die moderne Gemeindebautheologie an und erkundet, was der zeitgenössische Mensch als Problem empfindet, um dann Jesus als die Lösung für seine Probleme zu verkaufen. Braucht er Heilung von inneren Verletzungen, dann ist Jesus der Therapeut. Braucht er eine Verbesserung seiner Gefühlslage, dann ist Jesus der Freudenmeister. Braucht er neue Beziehungen, dann ist Jesus der Makler, der in der Gemeinde die Menschen miteinander in Verbindung bringt. Will er seine Persönlichkeit weiterentwickeln, dann ist Jesus der Coach, der ihm hilft, auf dem Weg der Heiligung dieses Ziel zu erreichen. Ich will nicht verneinen, dass dies alles auch Früchte des Evangeliums sein mögen, aber eben nur Früchte. Sie sind nicht das eigentliche Ziel, das Gott mit der Rettung eines Menschen verfolgt.
Wenn Gott einen Menschen retten will, dann von seinen Sünden und aus der Verlorenheit, die aus der Sünde kommt. Dazu aber ist es nötig, dass ein Mensch seine Bosheit erkennt. Das bringt der Heidelberger Katechismus auf den Punkt mit Frage 3: „Woher erkennst du dein Elend?“ Antwort: „Aus dem Gesetz Gottes.“ Das ist ganz schriftgemäß, denn das Neuen Testaments sagt mehrfach, dass durch das Gesetz Erkenntnis der Sünde kommt (Röm 3,20; 5,20; 7,7; Gal 3,19).
Meistens predigen wir das Gesetz den sogenannten Gläubigen, damit sie nicht über die Stränge schlagen. Das ist an sich nicht verkehrt, denn man muss auch den Christen sagen, dass sie nach dem Willen Gottes leben sollen. Mithin ist Gottes Gesetz die Grundlage der christlichen Ethik. Aber Paulus hat vor Augen, dass das Gesetz besonders dazu dient, Sünde aufzudecken, und sagt: „Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn es jemand recht gebraucht, weil er weiß, dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, sondern den Ungerechten und Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ungeistlichen, den Vatermördern und Muttermördern, den Totschlägern, den Unzüchtigen, den Knabenschändern, den Menschenhändlern, den Lügnern, den Meineidigen und wenn noch etwas anderes der heilsamen Lehre zuwider ist“ (1.Tim 1,8-10). Paulus sagt ferner: „Die Sünde erkannte ich nicht außer durchs Gesetz. Denn ich wusste nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht ge- sagt hätte (2.Mo 20,17): ‚Du sollst nicht begehren!’“.
Der Sünder soll erkennen, dass er verloren ist und dass er unter dem Zorn Gottes steht. Er soll auch erkennen, dass er so sehr verloren ist, dass er sich nicht retten kann und dass er bei sich auch keinen Ansatzpunkt finden kann, von dem aus er sich ins Heil stellen könnte. Damit meine ich: Wenn ein Evangelist sagt: „Das Angebot steht, Jesus will dich retten, er ist auch für dich gestorben; aber nun musst du dieses Angebot annehmen; es liegt an deiner Entscheidung“, dann steht er der heiligen Schrift entgegen, die in großer Klarheit sagt: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ Der Mensch ist so kaputt, so tot, dass er sich nicht mit seiner Entscheidung zum Leben hochhieven kann. Er kann seine Willenskräfte nicht instrumentalisieren, um bei Gott etwas zu beschicken. Es ist vielmehr die Aufgabe des Predigers, zur Geltung zu bringen, was Paulus über das Gesetz sagt: „Der Buchstabe tötet“ (2.Kor 3,6). Man sollte bei dieser Aussage vor Augen haben, dass Paulus mit dem „Buchstaben“ nicht die wörtliche Gestalt der Bibel meint, sondern das mosaische Gesetz..
Der Buchstabe tötet! Damit steht der Prediger vor der undankbaren Aufgabe, dem von sich selbst so überzeugten, hochmütigen und kritikunfähigen modernen Menschen zu zeigen, dass er gesündigt hat und verloren ist. Ich weiß, dass dies eine wirklich schwere Aufgabe ist, weil wir den Menschen den Schmerz, den die niederschmetternde Diagnose des Gesetzes verursacht, ersparen wollen. Wir sprechen lieber von Jesus, von der Erlösung, von der Versöhnung, von den Heilsgaben Gottes. Aber diese Heilsgaben werden wertlos, wenn der Mensch nicht einsieht, wozu er sie braucht. Wir haben vergessen, das Gesetz Gottes zu predigen. Doch wenn wir den Menschen die Vergebung für wirkliche und nicht nur theoretische Sünden vermitteln wollen, dann müssen wir das Leben des Menschen ins Licht des Gesetzes Gottes stellen. Damit treffen wir den Menschen ganz unmittelbar in seiner Existenz. Dazu einige Beispiele:
1) Unsere Kultur ist eine Todeskultur. Den offiziellen Statistiken zufolge treiben wir in Deutschland jedes Jahr mehr als einhunderttausend Menschen ab, während es in der Schweiz etwa zehntausend sind. EU-weit wurden im Jahre 2008 1,2 Millionen Kinder abgetrieben. Wir haben die Abtreibung lega- lisiert und der zeitgenössische Mensch meint, sein Selbstbestimmungsrecht auch gegen einen ungeborenen Menschen durchsetzen zu können. Es ist dies eine geistige Vorstellung, ein angemaßtes Recht, das gegen die leibhafte Lebenswirklichkeit eines Menschen durchgesetzt wird. Damit entschuldigt sich die moderne Frau, und damit entschuldigt die moderne Kultur ihre Tötungspraxis. Ich will noch hinzufügen: Die Kinder im Mutterleib sind Menschen vom Tag der Empfängnis an. Deswegen ist auch die sogenannte „Pille danach“ nicht ein Mittel der Empfängnisverhütung, sondern der Tötung eines bereits gezeugten Menschen. Diese Form der Abtreibung taucht in den Statistiken nicht auf, weil man davon ausgeht, dass erst ein in der Gebärmutter eingenisteter Embryo abgetrieben werden könne. – Wir sehen: Das Gebot Gottes, „Du sollst nicht töten“ trifft zahllose moderne Menschen unmittelbar, auch wenn sie nicht mit der Pistole auf andere schießen.
2) Der moderne junge Mensch hat nach einer Studie des Fernsehsenders arte im Durchschnitt mit etwa achtzehn Jahren zum ersten Mal Sex. In aller Regel geschieht dies, ohne verheiratet zu sein. Wenn ein Pastor ihm deutlich macht, dass er damit Unzucht getrieben hat, dass er die geschöpfliche Gabe der Sexualität missbraucht hat und deshalb vor Gott schuldig ist, dann trifft er ihn unmittelbar in seiner Existenz.
3) Es ist ein Volkssport geworden, im Kaufhaus zu stehlen. Jeder Ladenbesitzer weiß ein Klagelied davon zu singen. In der Tat, wer klaut, spart. Sparsamkeit ist doch eine Tugend, eine christliche zumal, und Geiz soll sogar geil sein. Anscheinend gibt es genügend Gründe, zu stehlen. Doch Gottes Gebot sagt in großer Klarheit: Du sollst nicht stehlen! Es ist die Aufgabe des Predigers, dies dem sich durch Diebstahl bereichernden Zeitgenossen deutlich zu machen.
4) Wir leben in einer Kultur, in der die menschliche Triebhaftigkeit, also das, was die Bibel Begierde nennt, besonders hochgeschätzt wird. Die Achtundsechziger haben gerade diesen Sachverhalt hervorgekehrt und gelehrt, der Mensch sei erst dann richtig Mensch, wenn er seine Triebe frei und verantwortlich ausleben könne. Das ist freilich im Licht der Bibel eine vollkommen falsche Ansicht. Die menschlichen Begierden sind doch, so sehr sie normalen geschöpflichen Bedürfnissen entsprechen, nur zu oft auf eine Befriedigung außerhalb der Schranken der Gebote Gottes gerichtet. Nicht umsonst heißt es im letzten Gebot: „Du sollst nicht begehren!“ Damit zeigt Gott, dass schon die Begierde nach dem, was der Nächste hat, Sünde ist und von ihm trennt.
Es gilt, in der Predigt Gottes Gebote zu verkündigen, um zu zeigen, dass sol- che Taten Sünden sind und Gott erzürnen. Ebenso gilt es, Gottes Urteil über den Menschen zu verkündigen: Das Verdammungsurteil. Es steht nicht in der Macht des Predigers, den Menschen dazu zu bringen, dass er seine Sünde auch erkennt und eingesteht. Wenn ein Mensch mit dem Anspruch des Gesetzes konfrontiert wird, dann wird er im Normalfall seinem natürlichen Wesen folgen und seine Sünde leugnen oder versuchen, sich zu entschuldigen, etwa indem er argumentiert: „Alle tun’s doch“, oder: „Ich bin nun mal ein Mensch und habe Wünsche und Triebe, warum soll ich die nicht ausleben? Es nicht zu tun, wäre doch widernatürlich.“ Wenn Gott es aber gibt, dann wird der Betreffende Gott recht geben, seine Sünden eingestehen und bekennen und Christus um Vergebung bitten.
An dieser Stelle müssen wir innehalten und feststellen: Gottes Gesetz, sofern es eine menschliche Tat fordert, hat keine rettende Kraft. Es kann wohl einen Menschen seiner Sünde überführen, aber es kann ihn nicht ins Heil stellen. Es bietet in sich auch kein Motiv, Christus zu suchen, weil es Christus nicht direkt verkündigt. Es weist wohl indirekt auf ihn, als er es erfüllt hat, aber auch das sagt es nicht. Deshalb darf der Prediger nicht bei dem Gesetz stehenbleiben. Wenn er nur Gesetz predigt, nur anklagt und nur ein schlechtes Gewissen macht, dann tut er im Grunde das Werk des Satans, des Verklägers. Dann ist seine Predigt eine Publikumsbeschimpfung, mit der er die Leute verscheucht.
Der Prediger hat das Evangelium zu predigen. Er soll zeigen, dass Gott in seiner Liebe einen Weg gefunden hat, die Menschen trotzdem zu retten. Es ist ja das Evangelium, das einen Menschen motiviert, an Christus zu glauben. Ausdrücklich sagt Paulus, dass das Evangelium die Kraft Gottes ist zur Seligkeit, dem der daran glaubt. Man beachte: Das Evangelium selbst ist die Kraft Gottes. Es führt die Menschen zur Umkehr, zum Glauben an Christus. Mit ihm kommt der Heilige Geist, der dem betreffenden Menschen Christus zu erkennen gibt. In Gestalt der Erkenntnis Jesu und des Glaubens an ihn hat er den Heiligen Geist. So kann man übrigens erkennen, ob man den Heiligen Geist hat oder nicht: Ob man an Christus glaubt. Dessen aber wird man nicht gewiss, indem man seinen Glauben betrachtet, insofern er subjektive Gläubigkeit ist. Das wäre so, als würde man sich den Puls fühlen um festzustellen, ob man noch lebe. Nein, man weiß, dass man lebt, indem man die Augen auftut, die Welt sieht, mit ihr umgeht. So ist es auch im Glauben. Man muss seine Augen auftun und auf die Zusagen Gottes sehen, und anhand dieser Zusagen sich vergewissern, dass man glaubt.
Die Wirkmacht der Schrift spitzt sich zu in der Aussage, dass das Evangelium, das Wort vom Kreuz, Gottes Kraft zum Heil ist. Logisch, dass der Prediger, der das Evangelium verstanden hat, es gerne und mit Überzeugung verkündigt, weil er weiß: Das Evangelium ist der Wirkstoff, der die Menschen bekehrt, sie zum Glauben führt und sie ins Heil stellt. Deshalb wird der rechte Verkündiger Gottes Wort verkündigen in der Überzeugung, dass Gott mit dem Wort das Herz des Hörers auftut den betreffenden zum Glauben führt. Indem Gott mit dem Wort einen Menschen zur Erkenntnis seiner Sünde führt und indem er ihm Christus vor Augen stellt, indem er ihn erkennen lässt, dass Christus für seine Sünden gestorben ist, auferstanden und zum Himmel aufgefahren ist und in Ewigkeit lebt, indem er ihn auch erkennen lässt, dass Christus stellvertretend für den Christen gehandelt hat, bekehrt Gott den Menschen.
Das gilt auch für den Christen. Wer immer heil werden will, der soll zum Evangelium greifen. Das wirkt! Er soll sich vor Augen führen, was Christus für ihn getan hat. Er kann es in den vier Evangelien lesen und er kann in den Briefen vernehmen, wie das, was Christus getan hat, zu verstehen ist. Er kann im Alten Testament lesen, was Gott getan hat, um das Kommen Jesu Christi vorzubereiten und erfahren, was die Propheten von ihm geweissagt haben. Das hilft ihm, die Person und das Werk Jesu in ihrer Bedeutung recht zu erfassen. Kurz: Er soll hören, was Gott sagt. Dann wird er, wenn Gott es ihm gibt, das Wort verstehen, darauf vertrauen und im Glauben leben.
Nun könnte jemand kommen und sagen: „Mit dem Gesetz und dem Evangelium habe ich das aber anders erlebt! Ich habe zuerst Jesus angenommen und erst im Laufe der Zeit habe ich erkannt, dass ich gesündigt habe und dass Christus für meine Sünden gestorben ist.“ Dem darf ich entgegnen: Ich habe das auch so erlebt! Aber das lag daran, dass uns Jesus nicht als Versöhner undals stellvertretendes Sühnopfer verkündigt wurde, geschweige denn, dass uns anhand des Gesetzes unsere Verlorenheit vor Augen geführt worden wäre. Uns wurde Jesus als Vermittler großer Freude verkündigt. Vor vierzig und mehr Jahren wurden uns Lieder vorgesungen wie „Ich bin so glücklich, ja so sehr glücklich, denn Jesu Liebe macht das Herz so froh!“ Das ist an sich nicht falsch, denn man kann das für den Ausdruck eines schlichten Glaubens halten. Aber indem man uns in Aussicht stellte und wir vom Evangelium erwarteten, dass es „glücklich“ mache, ohne den eigentlichen Grund der Freude zu nennen, nämlich das Versöhnungswerk Christi und die Vergebung der Sünden, ging die Evangelisation an dem, was das Evangelium tatsächlich sagt, vorbei. Dass man erst später zur rechten Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit und die Bedeutung des Werkes Jesu kommt, rechtfertigt nicht den Verzicht auf die Predigt des Gesetzes.
Damit weise ich noch auf ein weiteres Problem hin: Wenn wir schon von der Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes sprechen, dann sollten wir vor Augen haben, dass das Wort auch rein verkündigt wird. Diese Kategorie ist uns schon lange verlorengegangen, denn im Zeitalter des Subjektivismus soll es keine objektiv gültigen Wahrheiten mehr geben, sondern nur noch subjektive Ansichten, die meist begründet werden mit den Worten: „Aber ich habe das so erlebt“, so als wäre das subjektive Erleben Maßstab für die Wahrheit. Das gilt auch für die evangelikale Szene. Der eine sagt: „Ich sehe das mit der Rechtfertigung so.“ Der andere sagt: „Ich sehe das aber anders.“ Und frei nach Hegel meint man dann, beide hätten ein Stück der Wahrheit und erst beide Positionen zusammen ergäben das Ganze der Wahrheit. Das Bemühen, im gemein- samen Hören auf die Schrift zu vernehmen, was vor Gott gilt, ist sehr gering.
Schluss
Es war die stete Versuchung der abendländischen Theologie, dem Menschen in seiner Geistigkeit eine gewisse Fähigkeit zuzuschreiben, sich Gott zuzuwenden. Diese Versuchung ergab sich aus den Menschenbild der griechischen Antike, das ja den Geist des Menschen als das höhere, der unsichtbaren Welt zugewandte Element im Menschen sah, während der Leib als das niedere Teil des Menschen angesehen wurde. So gewann auch der Gedanke, dass der Mensch mit seiner Bekehrung oder Entscheidung sein Heil in die eigene Hand nehmen könne, seine Bedeutung. Der Gedanke, das Wort Gottes für einen selbst in Geltung zu setzen, wenn man ihm denn schon die Autorität nicht nehmen kann, ist fraglos der Versuch der Vernunft, sich gegen die Wirkmacht des Wortes Gottes zu behaupten. So rettet sich der aufgeklärte Mensch vor dem gnädigen Ratschluss Gottes, indem er die Gnade an seine Entscheidung und Zustimmung bindet und damit kompromittiert.
Wir bemerken: Die Betonung der Wirkmacht des Wortes Gottes ist nicht zuletzt eine Kritik am Menschenbild der Antike und der Aufklärung. Sie ist auch eine Kritik an all den Beimischungen, die man in der Vergangenheit und Gegenwart dem Evangelium zugefügt hat, um es zu Wirkung zu bringen, sei es die staatliche Gewalt, oder seien es die Geschmacksverstärker, die gegenwärtig zugesetzt werden. Wer dagegen begriffen hat, dass der Mensch in seiner Sünde so tot ist, dass er sich weder ins Heil stellen noch sich selbst bibeltreu machen kann, der muss dankbar sein, dass Gott es in die Hand genommen hat, die Menschen zu bekehren und dass er seine ganze Kraft und Macht in das Wort gelegt hat, das er durch die Apostel und die Propheten geredet hat. Der Prediger, der dies begriffen hat, wird dankbar sein, dass er weder mit seiner Frömmigkeit und seinem Vorbild dem Evangelium Kraft zuführen muss, noch versuchen muss, den subjektiv empfundenen Bedürfnissen seiner Zeitgenossen entsprechend dem Evangelium Geschmacksverstärker beizumischen. Er wird sich darauf konzentrieren, das Evangelium rein zu verkündigen, und das heißt: sich anhand der Schrift vergewissern, dass das, was er sagt, schriftge- mäß ist, mithin also die normative Autorität der Schrift reklamieren. Nicht zuletzt wird jeder Christ dankbar sein, dass Gott seine rettende Kraft in das Evangelium gelegt hat und es ihm gegeben hat, sein Wort zu verstehen, dass er ihn mit seinem Wort seiner Sünde überführt und zum Glauben an Christus geführt hat, dass Gott ihm gnädig gewesen ist und noch ist. Er kann gewiss sein: Dieses Wort trägt im Leben und im Sterben, in dieser und in der künftigen Welt.
Eduard Ellwein (Hg.): „D. Martin Luthers Epistel-Auslegung“, Bd. 1: „Der Römerbrief“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 324; vgl. WA 34 II,487,10-16. ↩