Die Bibel ist nicht nur Wort Gottes und Grundlagenwerk der Kirche, sie spielt auch eine nicht unerhebliche Rolle im Leben und Arbeiten unzähliger Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart. In einer Reihe von Interviews sollen verschiedene Personen des öffentlichen Lebens zu Wort kommen, um über ihre Erfahrungen mit der Bibel zu berichten.
Die heutige Gesprächspartnerin ist Prof. Dr. Edith Düsing (geb. 1951), Dozentin für Philosophie an der Universität Köln und an der Freien Theologischen Hochschule Gießen (FTH). Düsing gilt als Kennerin von Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Nietzsche und Søren Kierkegaard. In Deutschland ist sie eine der wenigen Geisteswissenschaftler, die eine gründliche Kenntnis der Philosophie mit einem persönlichen Glauben verbinden, ohne das rationale Denken oder die Bibel unsachgemäß herabzuwürdigen. Bisher hatte sie verschiedene Lehraufträge an den Universitäten von Köln, Dortmund, Marburg, Mannheim, Duisburg und Siegen. 2009 wurde sie massiv in der Öffentlichkeit attackiert, weil sie die Marburger Erklärung „Für Freiheit und Selbstbestimmung – gegen totalitäre Bestrebungen der Lesben- und Schwulenverbände“ unterschrieben hatte. Diese Petition plädierte für die freie Meinungsäußerung auch in Fragen der Sexualethik.
Michael Kotsch: Welche Bedeutung hat die Bibel für Sie persönlich?
Edith Düsing: Sie ist als göttliche Selbstoffenbarung die unendlich reiche Schatzkammer guter Gedanken, die dem Herzen Gottes, unsres himmlischen Vaters, entspringen, der seinen Treuebund mit uns Menschen, ebenso wie seinen Schmerz über unser Ihn-nicht -Suchen, ergreifend klar bekundet. – Am Leitfaden der Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde ist das biblische Wort des Morgens und des Abends für mich seelen-stärkendes Lebensbrot und klärendes Licht für manche mir aufgetragene Wege. Als ich im Herbst 2009 überraschend erfuhr, meine Kölner Gastvorlesung solle gesprengt werden (durch von der Homolobby aufgestachelte Demonstranten), und der Rektor verweigere seine Schutzpflicht, las ich das trostreiche Wort zu Daniel in der Löwengrube (Dan 6,24), das meine hoffnungsarme Lage durchsichtig machte, auf Gottes ewige Welt hin. Da umfing mich ein Strom des Friedens, der anhielt bis hin zum Stehen am Rednerpult und zum dennoch Halten meines angekündigten und durch Tumult nur eine Stunde verzögerten Vortrags „Tyrannei der Triebe oder der Ideale? – Schillers Konzept des ‚höheren Selbst’ in Nietzsches Umdeutung“.
Michael Kotsch: Inwiefern hat die Philosophie zur Entstehung der gegenwärtigen Bibelkritik beigetragen?
Edith Düsing: Das Losungswort der Philosophie der Aufklärung (enlightenment, siècle de lumière, secolo illuminato), die „Kritik“, hat erste Ursprünge in der historisch-philologischen Kritik am Text der Bibel (R. Simon: Histoire critique du vieux testament, 1678). Kritik zielt auf strenge Wahrheitsfindung ab und vorurteilsfreie Prüfung der Beweise. Als Wissen gilt allein aus Gründen geschöpftes Wissen. Thomasius (Vernunftlehre, 1691) hebt vom übernatürlichen Licht, das uns Gottes Offenbarung schenkt, die Vernunft als natürliches Licht ab. Der Begriff „Aufklärung“ selbst verdankt sich der Selbstunterscheidung säkularer Vernunft von der christlichen Theologie.
Nietzsche verlor nicht durch Philosophie, sondern durch die Bibelkritik des D. F. Strauß seinen christlichen Jugendglauben, in welchen Strauß’ Begriff der Fabel ein Kraterloch an Skepsis schlug; dem Heil in Christi Kreuz wird durch die Leugnung, Jesus sei Gottes Sohn, die Basis geraubt. Im Tod-Gottes-Thema verdichtet Nietzsches Denken das Ende christlicher Auferstehungshoffnung.
Für viele Menschen sieht er, so wie er selbst das erfuhr, eine „unendliche Gedankenverwirrung“ und Melancholie als „trostloses Resultat“ voraus, wo Bibelkritik das Evangelium kraftlos macht. Durch Gott-Vergessenheit und Verrat an Christi Kreuz ist das 21. Jahrhundert anti-aufklärerisch. Wahrheit und Freiheit, Segensfolgen des Christentums, verschwinden. Nicht mehr solide Forschung, sittliche Vervollkommnung und freie Meinungsäußerung sind Kardinalwerte. Das freie Selbst wird stranguliert durch ein naturalistisches Menschenbild. Das vorige Tribunal Vernunft ist dem Diktat politischer Korrektheit und deren Neusprechwahn gewichen; die Sprache aber ist des Geistes Leib.
Alle Institutionen und Autoritäten des christlichen Abendlandes wurden seit der 1968er Revolte erfolgreich abgeschliffen, nun bis hin zum Aus von Vater und Mutter.1 Das Verbot zu verbieten und die Parole: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, schlägt selbstmörderisch auf den familialen Ursprung zurück. Jegliches Hierarchische, Grenzen Setzende, ungehemmten Spaß Verderbende wird Hassinhalt. Das Heilige wird durch postmoderne Respektlosigkeit abgeschafft; stattdessen wurden neue Tabus und Inquisitionsbühnen errichtet.
Ein überbordender ‚sozialer’ Fürsorgestaat – „kein Hirt und eine Herde“, zürnt Nietzsche, – wird zu einem die Privatsphäre vernichtenden und Gesinnung ausschnüffelnden illegitimen Überwachungsmonster. Manche suchen nach einem Orientierung schenkenden Fixstern außerhalb menschlicher Machenschaften.
Zutiefst altgläubig und daher Zeitgeist-ungläubig zu sein ist der einzig tragfähige Weg, Widerstand zu leisten wider die wachsende Frivolität des Schamlosen und Bösen, die W. Solowjew in seiner Vision vom Antichrist prophezeit hat.2 Und Werner Elert forderte hellsichtig, „das Christentum aus den Verschlingungen mit einer untergehenden Kultur zu lösen, damit es nicht mit in den Strudel hinabgerissen werde“.3
Michael Kotsch: Gab es auch Philosophen, die positiv zur Bibel standen? Wenn ja, welche?
Edith Düsing: Sören Kierkegaard vergleicht in der Rede „Selbstbetrachtung im Spiegel der Bibel“4 die Heilige Schrift mit einem Liebesbrief, der, als solcher von mir im Lesen verstanden, mich augenblicklich gefangen nimmt mit der ersten besten Stelle, da hier Gott selbst mich fragt: „Hast du getan, was du hier liest?“ Und dann bin ich ganz persönlich aufgerufen zu handeln oder ein demütigendes Geständnis abzulegen. Erfülltes Erdendasein liegt darin: „In dem gleichen Maße liegt etwas Bedeutungsvolles in eines Menschen Entwicklung, in dem seine Bildung unter den Begriff göttlicher Erziehung fällt“ (Tg I, 205).
Der moderne Mensch erliegt aber der Versuchung, den Spiegel Bibel unbrauchbar, stumpf zu machen, indem er lieber den Spiegel seziert, statt in ihm sich selbst zu erblicken und durchleuchten zu lassen.
Michael Kotsch: Was halten Sie von der ‚philosophischen’ Religionskritik der neuen Atheisten?
Die Religionskritik der neuen Atheisten ist viel seichtes Geschwätz aus der Klamottenkiste der Antiklerikalen seit drei Jahrhunderten. Der Gott dieser Welt scheint ihnen das Denkvermögen vernebelt zu haben.
Edith Düsing: Nichts, – es ist viel seichtes Geschwätz aus der Klamottenkiste der Antiklerikalen seit drei Jahrhunderten. Der Gott dieser Welt scheint ihnen das Denkvermögen vernebelt zu haben; Voltaire aber war klüger.
Michael Kotsch: Ist es möglich, die ‚Wahrheit’ der Bibel philosophisch zu begründen?
Edith Düsing: Nimmt man mit Augustin eine trinitarische Ontologie an, der gemäß jedes Seiende in der Welt ein einzigartiges Abbild der heiligen Dreifaltigkeit ist, so lässt sich eine Philosophie des Dialogischen entwickeln, die immer alles Wesentliche im Geschehen zwischen Personen erblickt.5 Gott ist in sich selbst ewige Liebesbeziehung. Er ruft Menschen mit Namen: „Adam, wo bist du?“ Der Mensch ist als Mann und Frau erschaffen, Ehe stiftet er als den Bund innigster Hingebung; wahrer Eros ist Abbild der Agape.
Michael Kotsch: Welche Bibelstelle ist für Sie von besonderer Bedeutung?
Edith Düsing: Röm 8,28: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Guten mitwirken.“ Warum? In diesem Wort liegt eine teleologische Weltansicht wider die anonyme Chaos-Hypothese und das kindliche Vertrauen auf eine ganz persönliche Planung meines Lebens durch einen guten Vatergott (providentia specialissima).
Vacquin, Monette/ Winter, Jean-Pierre: Pour en finir avec père et mère, in: Le Débat 174, März/ April 2013, 84-89. ↩
E. Düsing, „Nietzsches Nihilismus-Diagnose im Horizont von Solowjews Antichrist-Vision. Europa am Scheideweg zwischen Christus und Anti-Christus“, in: Europa ohne Gott? Auf der Suche nach unserer kulturellen Identität, hg. von L. Simon / H.-J. Hahn, Stuttgart-Neuhausen 2007, 87-113. ↩
Werner Elert: Der Kampf um das Christentum, 1921, 489 ↩
Kierkegaard: Die Leidenschaft des Religiösen. Auswahl, übers. von H. Küpper, eingeleitet von L. Richter, Stuttgart (Reclam) 1964, 25-33; Sören Kierkegaard: Die Tagebücher (: Tg), übers. von H. Gerdes, Köln 1962. ↩
Zur trinitarischen Vollmacht Jesu über den ganzen Kosmos, wie es die Evangelien bezeugen, siehe: Horst W. Beck: Biblische Universalität und Wissenschaft. Interdisziplinäre Theologie im Horizont trinitarischer Schöpfungslehre, 2. Aufl. Weilheim-Bierbronnen 1994, 189-226. ↩