Warum lässt du in deiner Übersetzung die Sonne nicht stillstehen und den Tag verlängern wie alle anderen das tun?”, so werde ich gelegentlich von Lesern der Neuen Evangelistischen Übersetzung gefragt, wenn sie Josua 10 studiert haben.
Das Kapitel berichtet von der Schlacht bei der Stadt Gibeon. Die Einwohner, die vorher ein Bündnis mit den Israeliten erschlichen hatten, wurden jetzt von den Amoritern, ihren ehemaligen Koalitionspartnern, wegen dieses Verrats angegriffen. Damit war für Israel der Bündnisfall eingetreten und sie mussten den Einwohnern von Gibeon helfen. Nach einem 24 km langen Nachtmarsch in steilem Berggelände und einem Anstieg von mehr als 900 Höhenmetern stand Josua mit seiner Armee noch vor Tagesanbruch bei Gibeon.
Hier der fragliche Abschnitt Josua 10, 9-14 nach der NeÜ bibel.heute:
9 Als Josua die Amoriter nun plötzlich überfiel – die ganze Nacht hindurch waren sie von Gilgal aus marschiert –, 10 ließ Jahwe unter ihnen einen Schrecken vor Israel entstehen, und Josua konnte ihnen bei Gibeon eine schwere Niederlage beibringen. Er verfolgte sie bis zur Steige von Bet-Horon und noch weiter bis nach Aseka und Makkeda. 11 Als sie vor Israel flohen, geschah es am Abhang von Bet-Horon, dass Jahwe große Steine vom Himmel auf sie herabfallen ließ, bis nach Aseka. Es kamen mehr durch die Hagelsteine um, als die Israeliten mit dem Schwert töteten. 12 Damals hatte Josua nämlich zu Jahwe gebetet – es war an dem Tag, als Jahwe ihnen die Amoriter auslieferte – und hatte vor den Israeliten gesagt: „Hör auf, Sonne über Gibeon / und Mond im Tal von Ajalon!” 13 Da verloren Sonne und Mond ihren Schein, bis das Volk sich an seinen Feinden gerächt hatte. So wird es auch im Buch der Heldenlieder beschrieben. Die Sonne blieb mitten am Himmel unsichtbar und drängte nicht weiter zum Sonnenuntergang wie an einem normalen Tag. 14 Weder vorher noch nachher hat es solch einen Tag gegeben, dass Jahwe auf das Gebet eines Menschen hin so etwas gewirkt hätte. Doch damals kämpfte Jahwe selbst für Israel.
Fragen, die geklärt werden müssen
Um die unterstrichenen Textstellen angemessen verstehen zu können, müssen zuvor folgende Entscheidungen getroffen werden:
Hat Josua darum gebetet, dass die Sonne sich nicht mehr bewegt, oder darum, dass sie zu scheinen aufhörte? Brauchten seine Truppen mehr Zeit oder mehr Schatten?
Wenn sie mehr Zeit brauchten, dann war der Grund wohl die Bitte, die Amalekiter völlig besiegen zu können. Wenn die Truppen aber mehr Schatten brauchten, war der Grund wohl die zunehmende Erschöpfung der Soldaten nach dem anstrengenden Nachtmarsch, dem Kampf und der nun beginnenden Verfolgung.
Wo sprach Josua seine Bitte aus? War es da, wo der Kampf begann oder da, wo er endete?
Wenn Josua gegen Ende des Kampfes gebetet hätte, dann wäre es nur darum gegangen, auch den Rest der Feinde noch besiegen zu können, was nicht sehr einleuchtet. Der Textzusammenhang macht es viel wahrscheinlicher, dass Josua in der Nähe von Gibeon gebetet hat. Außerdem müsste es so früh gewesen sein, dass er den Mond noch über dem Tal Ajalon, also westlich, gesehen hätte und die Sonne über Gibeon schon östlich im Rücken hatte.
Wann sprach Josua seine Bitte aus, vor oder nach dem Hagelsturm mit Steinen?
Wenn es nach dem Hagelsturm war, hätte Josua kaum noch eine Bitte an Gott richten müssen, denn die meisten Feinde starben ja schon durch den Hagel. Wenn er vor dem Hagelsturm gebetet hatte, betrachtete er den kommenden heißen Tag mit Sorge und bat um Gottes Beistand.
Aus diesem Grund müsste der Anfang von V. 12 übersetzt werden: „Damals hatte Josua nämlich zu Jahwe gebetet“, also noch vor dem Hagelsturm, der schon eine erste überraschende Antwort auf sein Gebet war.
Was hatte Josua nun gesagt?
Das hebräische Verb (damam), das in Josua 10,12-13 häufig mit „stehenbleiben” übersetzt wird, heißt wörtlich „still sein” oder „still bleiben, schweigen”. Es kann aber auch mit „ablassen” oder „aufhören” wiedergegeben werden, sogar mit „umkommen” oder „enden” wie in 1Sam 2,9.
Josua hatte also darum gebetet, dass Sonne und Mond ihren Schein verlieren sollten, um den Israeliten in der Verfolgung der Feinde Erleichterung zu verschaffen. Und Gott hatte mit dem schweren Hagelsturm sein Gebet viel auffälliger und dramatischer beantwortet, als Josua annehmen konnte. Außerdem stellte der Hagelsturm von Anfang an die dringend benötigte Wolkendecke zur Verfügung.
Der Eintrag im Buch der Heldenlieder (Jaschar) kann dann so verstanden werden, wie oben übersetzt: „Die Sonne blieb mitten am Himmel unsichtbar und drängte nicht weiter zum Sonnenuntergang wie an einem normalen Tag.”
Was ich mit „unsichtbar” übersetzt habe, ist ein anderes hebräisches Wort (amad) und hat ebenfalls viele Bedeutungen, unter anderem „stehenbleiben”, „stillstehen” oder auch „aufhören etwas zu tun”. Wenn wir uns aber hier vorstellen sollen, dass die Sonne in ihrem scheinbaren Lauf tatsächlich stehen geblieben wäre, dann müsste die Erdrotation einen Tag lang plötzlich aufgehört und dann wieder begonnen haben. Das allerdings wäre ein dramatischer Eingriff in die Schöpfung gewesen, der zu katastrophalen Folgen auf der ganzen Erde geführt hätte. Natürlich hätte Gott das alles beherrschen können, aber er hat sich innerhalb der Geschichte Israels gewöhnlich „einfacherer“ Mittel bedient, um seinem Volk zur Hilfe zu kommen.
Der letzte Teil des Satzes ist noch wichtig. Gewöhnlich wird er übersetzt: „Ungefähr einen ganzen Tag lang.“ Wörtlich steht aber hier „Wie an einem normalen Tag“, Hebräisch (ke jom tamim). Offenbar war es so, dass der Himmel nach dem Hagelsturm den ganzen Tag bedeckt blieb, sodass man auch keinen Sonnenuntergang beobachten konnte, weil der Himmel bedeckt und neblig blieb. Dadurch hat Gott Israel den wunderbaren und vollständigen Sieg über die Amoriter möglich gemacht.
Natürlich bleiben auch bei dieser Erklärung Fragen offen. Aber wie man es auch verstehen will: Dieses Ereignis war ein Wunder, weil die Kräfte der Natur einem Diener Gottes gehorchten. Das wiederum erinnert unwillkürlich an das Geschehen auf dem See Gennesaret, als Jesus Christus zum Erstaunen seiner Jünger durch ein Befehlswort Wind und Wellen beruhigt (Mt 8,23-27).
Verwendete Literatur: Chaim Herzog, Mordechai Gichon: Mit Gottes Hilfe. Die biblischen Kriege. F.A. Herbig, Verlagsbuchhandlung München / Barry J. Beizel: Großer Atlas zur Bibel, SCM Brockhaus / Huge J. Blair: Josua im Kommentar zur Bibel. SCM Brockhaus.