Das Evangelium ist nur wirklich unsere Grundlage, wenn es von A bis Z unseren Glauben und unser Leben bestimmt. Neigen wir zum Moralisieren, überbetonen wir die Gebote. Es wird aber nicht besser, wenn das durch Relativieren ersetzt wird. Der Moralist und der Relativist verlieren beide Jesus auf unterschiedlichen Wegen als Erlöser. Eine Erneuerung durch die Gnade Gottes ist aber möglich, wenn auch oft mühevoll.
Ein Leser meines Blogs beschwerte sich, dass beim Lesen meiner „Lernerlebnisse mit Kindern“ die Interpretation fehle. Man wisse nicht, worauf ich hinaus wolle. Diese Rückmeldung fand ich überaus interessant. Meine Absicht bestand gerade darin, eine Auswahl an Beobachtungen zu schildern und sie dem Leser zum Nachdenken mitzugeben. Es fehlte ihm aber die Einordnung. Er merkte, dass die nackten Erlebnisse ohne Erklärung zur Bedeutungslosigkeit verkommen müssen. „Anything goes.“
In diesem Beitrag1 beschreibe ich die zwei Grundkategorien, in denen ich Erziehung denke und lebe. Vorsicht: Dies ist kein Griff in die „How to“-Kiste. Erwarten Sie also kein Fünf-Schritte-Programm zur Entlastung des Erziehungsalltags. Das Nach- und Umdenken ist ein Veränderungsprozess, für den wir vor allem Gottes Gnade benötigen. Er wird andauern, so lange wir leben.
Wie gehe ich vor? Zuerst zeige ich einen Denkfehler bezüglich des Verständnisses des Evangeliums auf. Dann beschreibe ich die beiden Diebe des Evangeliums. Den einen nenne ich „Moralisieren“ und den anderen „Relativieren“. Dann versuche ich aufzuzeigen, warum beide Wege an denselben Ort führen. Schließlich wende ich die Erkenntnisse auf die Erziehung an, um die Frage zu beantworten, wie sich Denken und Handeln verändern können.
Das Evangelium: A–Z des Glaubens
Zunächst gilt es einen Denkfehler zu korrigieren: Das Evangelium ist nicht der erste Tritt auf einer Treppe der Wahrheiten. Es ist der Dreh- und Angelpunkt der Wahrheit. Das Evangelium ist nicht das ABC, sondern das A – Z des christlichen Glaubens. Das Evangelium ist nicht die minimal nötige Portion „Lehre“, um in Gottes Reich zu gelangen. Wie sollen wir das Evangelium dann verstehen?
Das Evangelium ist der Weg, um zu wachsen (Gal 3,1-3) und erneuert zu werden (Kol 1,6). Es ist die Lösung für sämtliche Probleme unseres Lebens; der Schlüssel, um jede Türe zu öffnen; die Kraft, jede Barriere zu durchbrechen (Röm 1,16).
Es ist in der Kirche gebräuchlich zu denken: „Das Evangelium ist für Nichtchristen. Man muss gerettet werden. Einmal gerettet, wächst man durch harte Arbeit und Gehorsam.“ Doch Kol 1,6 zeigt, dass dies ein Fehler ist. Bloßes Bekenntnis oder harte Arbeit, die nicht dem „geraden Weg des Evangeliums“ (Gal 2,14) entspringen, werden uns zu Fall bringen. Ja, um es noch deutlicher zu sagen: sämtliche Probleme entstehen gerade durch das Versagen, das Evangelium anzuwenden. Paulus befahl die Gemeinde in Ephesus „dem Wort seiner Gnade“ an, das die Kraft hat aufzubauen (Apg 20,32).
Deshalb ist der Schlüssel zu tiefer geistlicher Erneuerung und Erweckung die kontinuierliche Wiederentdeckung des Evangeliums. Die Wiederbelebung bedeutet jedes Mal die Entdeckung einer neuen Anwendung des Evangeliums.
Zwei Diebe des Evangeliums
Die beiden Diebe des Evangeliums heißen „Moralismus“ bzw. „Relativismus“.
Die Auswirkungen der beiden Wege
Ich habe die beiden Diebe zuvor einander gegenüber gestellt. Ich glaube, dass Menschen je nach Charakter und Lebensweg zu einer Seite hin tendieren. Dazu beobachte ich, dass sich je nach Lebensphase einmal mehr der eine, dann wieder der andere Weg anbietet. Überlegen wir uns jetzt, was die Auswirkungen beider Wege sind.
- Beides sind Wege, um zu verhindern, dass Jesus Erlöser ist und die Kontrolle über das Leben übernimmt. Relativisten sind ihre eigenen Retter und Herren: „Niemand braucht mir zu sagen, wie ich leben soll. Gott schuldet es mir, auf meine Gebete zu hören und mich in den Himmel zu bringen. Gott schuldet mir ein glückliches Leben. Ich habe es schließlich verdient.“ Die Moralisten sehen Jesus nicht als Erlöser, sondern als Vorbild und Helfer. Beides sind Wege mit demselben Ziel, nämlich die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten. Moralisten sind am Ende ebenfalls selbstzentriert und individualistisch, weil sie sich selber als Erlöser aufspielen; Relativisten sind in letzter Konsequenz moralistisch, weil sie nach ihren eigenen Maßstäben leben. Oftmals sind sie sehr stolz auf ihren offenen Geist und verurteilen andere, die es nicht sind.
- Beide haben irrige Bilder über Gott verinnerlicht. Der Relativist verliert den Blick für das Gesetz und die Heiligkeit Gottes. Der Moralist verliert den Blick für die Liebe und Gnade Gottes. Jesus erfüllte am Kreuz das Gesetz Gottes aus Liebe zu uns. Ohne volles Verständnis des Werkes Christi wird entweder die Realität der Heiligkeit Gottes oder der Liebe Gottes entstellt und somit der Blick auf seine Gnade verdunkelt. Nur das Evangelium erlaubt es, Gott so zu sehen, wie er ist. Das Evangelium zeigt uns einen Gott, der heiliger ist, als es die Moralisten ertragen können, und gnädiger, als es ein Relativist annehmen kann.
- Beide Sichtweisen verleugnen unsere Sünde und gehen so der Freude und Kraft der Gnade verlustig. Es mag einsichtiger sein, dass Relativisten die Tiefe der Sünde leugnen und dadurch die Botschaft „Gott liebt dich“ ihrer Kraft berauben. Moralisten scheinen ihre Sünde sehr zu bedauern. Wenn sie jedoch Jesus um Vergebung bitten, dann meinen sie „Lücken im Projekt der Selbst-Erlösung“ zu stopfen. Wenn solche Menschen sagen: „Ich weiß, dass Gott vergibt, aber ich kann mir selbst nicht vergeben“, dann drücken sie damit die Ablehnung von Gottes Gnade aus und bestehen darauf, dass sie seiner Gunst würdig sind.
Die beiden Diebe rauben der Erziehung die Kraft des Evangeliums
Im Alten Testament warnte Gott davor, etwas zu seinem Gesetz hinzuzufügen oder davon wegzunehmen (5Mose 4). Ich denke, dass dies durch die Formulierung ausgedrückt wird, weder zur Linken noch zur Rechten abzuweichen. Dieselbe Warnung wird am Ende der Bibel wiederholt (Offb 22,18+19). Dass gleichzeitig beide Gefahren lauern, wird im Brief an die Galater deutlich. In der gleichen Gemeinde befanden sich zwei Gruppen von Menschen. Während die eine jüdische Vorschriften wieder einführen wollte, beanspruchten die anderen völlige Unabhängigkeit von Geboten.
Diese beiden Gruppen gibt es auch in der Erziehung. Die einen lehren ihre Kinder, sich einen eigenen Maßstab anzulegen, den es zu erreichen gilt. Andere gewähren mit dem Argument, dass sich das Kind aus sich selbst entwickle, bedenkenlos Raum.
Die Kraft des Evangeliums anwenden
Sie werden mich jetzt wahrscheinlich fragen, wie der Prozess einer Erneuerung aussehen könnte. Ich formuliere mit Bedacht einige Schritte. Die Reihenfolge der Überlegungen stellt keine Vorgabe dar. Gottes Geist kann uns an ganz unterschiedlichen Stellen „packen“.
- Eine neue Deutung geben: Wer das Licht des Evangeliums in einen Lebensbereich hineinscheinen lässt, der erkennt eigene Gedanken, Worte und Handlungen in einem anderen Licht. Etwas, das bisher gar nicht bedacht worden ist – zum Beispiel dass eine bestimmte Charaktereigenschaft einfach vorausgesetzt wurde oder eine Reaktion nicht als Sünde erkannt wird –, bekommt mit einem Mal eine andere Bedeutung. Noch wahrscheinlicher geschieht dies nicht von einem Moment auf den anderen, sondern im Lauf der Jahre. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass die Bestürzung zunimmt. Was dann?
- Mit dem Gesetz Gottes übereinstimmen: Buße beinhaltet in erster Linie das Umkehren zur Übereinstimmung mit Gottes Sichtweise. Ich stimme dem Urteil von Gottes Gesetz zu. Zum Beispiel beginne ich zu realisieren, dass die Art und Weise, die eigene Ehe zu führen, zur Entfremdung vom Ehepartner beiträgt.
- Motive und nicht nur Resultate bedenken: Ein ganz wesentlicher Teil ist das Aufdecken von sündigen Beweggründen. Was nach außen problemlos erscheint (modern, zeitgemäß, selbstbewusst, uneigennützig, erfinderisch, kreativ), entpuppt sich beim näheren Betrachten als sündig.
- Weiterdenken: Was gebe ich dadurch der nächsten Generation weiter? Als besonders hilfreiche Frage im Hinblick auf den weiteren Umgang erweist sich die Frage, welche Haltung und Verhaltensweisen dadurch auf die nächste Generation übergehen. Erschreckt musste ich schon feststellen, dass die zutage geförderte Absicht oder das Verhalten meines Kindes mir mein eigenes Versagen spiegelte!
- Die Sünde bekennen: Es führt kein Weg am Aussprechen der Sünde vor Gott und der eigenen Familie vorbei. Ich muss nicht besonders betonen, dass sich dieses Eingeständnis sehr entlastend auswirkt. Man sehe sich zum Beispiel das Bußgebet Davids in Psalm 51 an.
- Die eigene Sünde verabscheuen: Beim Lesen des Kinderkatechismus ist mir aufgefallen, dass das Verabscheuen der Sünde betont wird. Was soll das heißen? Wie schnell schleicht sich in unserem Hinterkopf eine Rechtfertigung, ein Herabwürdigen der Sünde ein! Das ist doch nicht so tragisch. Machen wir uns nichts vor: Unser Herz ist trügerisch. Bitten wir also unseren Herrn darum, uns Abscheu über unsere Sünde zu schenken.
- Den fröhlichen Tausch vollziehen: Angelehnt an einen Vergleich des Reformators Martin Luther geht es dann darum, dass wir unser schmutziges Gewand ablegen und das neue, reine Gewand der Gerechtigkeit von Jesus überziehen. Wir müssen keine Abbitte leisten. Wir müssen weder Gott noch unserer Familie beweisen, dass wir schon dazu in der Lage sind, uns zu bessern. Wir müssen weder andere noch uns selbst mit einer Gegenleistung überzeugen.
- Durch Gottes Gnade Veränderung erfahren: Unsere alte „Programmierung“ verschwindet nicht auf Knopfdruck. Das ist kein Zufall, sondern von Gott so gewollt. Unser Gehirn muss neu „programmiert“ werden. Neue Handlungsabläufe, vor allem aber auch neue Bewertungen, müssen „installiert“ werden. Das ist eine mühevolle, aber lohnende Arbeit. Sie wirft uns stündlich auf Gottes Gnade zurück.
Damit sind wir zurück am Anfang: Das Evangelium ist nicht das A-B-C, sondern das A-Z des Glaubens. Von Moment zu Moment erkenne ich meine eigene Ohnmacht und strecke meine leeren Hände nach ihm aus, der über alle Macht verfügt. Ich glaube, dass diese Bewegung uns erst dazu führt, Gott die Ehre zu erweisen, die ihm zukommt.
Diese Überlegungen sind angelehnt an: Timothy Keller, The Centrality of the Gospel, http://www.redeemer2.com/resources/papers/centrality.pdf (10.02.2012) ↩