Ist die westliche Zivilisation mit ihren Vorzügen wie individuelle Freiheit und materieller Wohlstand den Aufklärern und ihren Schriften zu verdanken? Eine Analyse des Verlaufs der Geschichte stellt dies massiv in Frage. Dies zeigt Professor Daniel von Wachter in seinem Aufsatz „Die Aufklärung existiert nicht“, der im folgenden Text von Boris Schmidtgall kurz zusammengefasst ist.
Eine wichtige Grundlage für das Selbstverständnis der Menschen stellt ihr Geschichtsbewusstsein dar. Für die Geistesgeschichte der westlichen Zivilisation gab es kaum eine wichtigere Zäsur als die „Epoche der Aufklärung“ – so lautet zumindest die üblicherweise verbreitete Darstellung. Ob im Schulunterricht, in Lexika oder in den Massenmedien, überall wird den Menschen beigebracht, dass es vor der „Epoche der Aufklärung“, d.h. vor der Zeit um ca. 1680, in Europa eine finstere, von Aberglaube, Wissenschaftsfeindlichkeit und blindem Gehorsam geprägte Gesellschaft gab, die dank der mutigen und intelligenten „Aufklärer“ überwunden werden konnte. Die „Aufklärer“, so heißt es oft, hätten ein neues Zeitalter der Vernunft eingeläutet, die Menschen von ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit und Privilegien wie die Meinungs- und Religionsfreiheit errungen. Damit seien die Ereignisse dieser Epoche grundlegend für die heutige Demokratie und den Wohlstand der westlichen Zivilisation.
Bei näherer Betrachtung des genauen historischen Verlaufs ergibt sich allerdings ein Bild, das mit dem gewohnten Narrativ über die „Aufklärung“ kaum in Einklang zu bringen ist. Schon der Begriff „Aufklärung“ tauchte im deutschsprachigen Raum erst nach 1770 auf und wurde von denjenigen verwendet, die sich selbst als „Lichtbringer“ verstanden, also Immanuel Kant oder Ephraim Lessing. Etwas früher bezeichneten sich einige französische „Aufklärer“ wie Jean-Jacques Rousseau oder François Voltaire als „Les Lumières“, die Lichter. Die meisten derjenigen, die ein solches „Aufklärer-Selbstverständnis“ hatten, waren Schriftsteller oder Journalisten, die die göttliche Offenbarung ablehnten. Sie bedienten sich einer Aufklärungsrhetorik („Wir bringen Licht in die Dunkelheit“) und stützten sich auf Philosophen, die sich selbst jedoch nicht als „Aufklärer“ verstanden. Zu diesen Philosophen gehörten Christian Thomasius, Christian von Wolff und Gottfried Wilhelm Leibniz (ca. 1680-1750). Sie bekannten sich zum christlichen Glauben, auch wenn sie sich gelegentlich kritisch äußerten. Was sie von den früheren Gelehrten im Wesentlichen unterschied, war der Glaube an einen Determinismus, d. h. die Auffassung, dass jedes Ereignis durch vorangehende vorherbestimmt ist. Die „Aufklärer“ vereinnahmten diese namhaften Philosophen, um ihren eigenen Schriften Geltung zu verschaffen.
Doch waren die „Aufklärer“ und diejenigen, auf die sie sich stützten, die ersten, die nach Vernunft strebten, wie gegenwärtig häufig suggeriert wird? Verhalfen sie der Wissenschaft gegen den Widerstand der Kirche zum Aufschwung? Wohl kaum. Denn bereits gut hundert Jahre früher (ca. 1600–1650) gab es Philosophen, die beachtliche Werke verfasst hatten, in welchen sie zu einem rechten Gebrauch der Vernunft aufriefen, nach Klarheit und Präzision in ihren Ausführungen strebten und sich intensiv mit Gegenpositionen auseinandersetzten. Diese Philosophen werden zur „Protestantischen Scholastik“ gezählt und waren als Universitätsprofessoren tätig. Dazu zählten u. a. Jakob Martini, der Verfasser des Vernunftsspiegels, oder Christoph Scheibler, dem eine besondere Gedankenschärfe attestiert wurde. Ihre Arbeiten wurden von den populärphilosophisch schreibenden „Aufklärern“ für ihre „Haarspalterei“ verspottet.
Auch die Naturwissenschaft ist keineswegs eine Errungenschaft der „Aufklärung“, denn die Naturphilosophen, die zur Förderung der Erforschung der Natur maßgeblich beitrugen, waren größtenteils entschiedene Christen. Ein bedeutendes Beispiel hierfür ist Isaac Newton, der wiederholt seine Freude darüber bezeugte, dass seine Forschung dazu beiträgt, dass die Menschen an einen „Herrn aller Dinge“ glauben. Aber auch die Auffassung, Newton und seine Zeitgenossen hätten die Naturwissenschaft entwickelt, erweist sich als falsch. Denn Newton selbst brachte zum Ausdruck, dass er seine Erkenntnisse der guten Vorarbeit seiner Vorgänger verdanke.
Die die Aufklärung verkündenden Autoren strebten gerade keine Wissenschaftlichkeit an, sondern sie waren Journalisten, Schriftsteller oder Popularphilosophen, die gerne über die „Haarspaltereien“ oder „Pedanterie“ der nichtaufgeklärten Philosophen spotteten.
Schließlich geht auch die Meinungs- und Religionsfreiheit keineswegs auf die Epoche der Aufklärung zurück. Es waren vielmehr Christen, die ihren Glauben konsequent auslebten, die sich für das Prinzip der Religionsfreiheit engagierten. Bereits 1614 forderte der Baptist Leonard Busher völlige Religionsfreiheit.
Es wird also insgesamt deutlich, dass die „Aufklärer“ ungerechtfertigterweise sich selbst zuschrieben, Vernunft in eine vernunftlose Zeit zu bringen, einen kirchlichen Widerstand gegen die Entwicklung der Naturwissenschaft erfanden und auch die Errungenschaft der Meinungs- und Religionsfreiheit fälschlich für sich beanspruchten. Ihre Tätigkeit war also kein Fortschritt, wie landläufig behauptet wird, sondern vielmehr ein Rückschritt. Sie richteten die gesellschaftliche Entwicklung weg vom christlichen Glauben und hin zum Materialismus, was sie rhetorisch als Fortschritt darstellten. Bis heute wird diese Entwicklung mit leeren Phrasen wie „Wir können nicht hinter die Aufklärung zurück“ oder „Man kann das Rad nicht zurückdrehen“ als alternativlos hingestellt.
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aus Wort und Wissen Info vom November 2018