ThemenGemeinde und Mission, Orientierung

Die „Emerging Church“ und ihr Umgang mit der Bibel

Aufmerksam lebenden Christen begegnet heute im Gespräch oder bei der Lektüre vermehrt die rätselhafte Rede von der „Emerging Church“.1 Gute Englischkenntnisse oder ein Wörterbuch helfen beim Entschlüsseln dieses Namens kaum weiter. Das Substantiv „church“ steht für „Kirche“ oder „Gemeinde“ und das Verb „emerge“ kann mit „auftauchen“ oder „zum Vorschein kommen“ übersetzt werden. „Emerging Church“ heißt deshalb wörtlich so viel wie „auftauchende, neu entstehende“ oder „sichtbar werdende Kirche“. Aber was ist damit gemeint?

Der Begriff „Emergenz“ (von lat. „emergo“) bedeutet im „klassischen“ Sinn die Entstehung neuer Seinsschichten, die nicht aus den Eigenschaften einer darunter liegenden Ebene ableitbar, erklärbar oder voraussagbar sind. Die Emerging Church (EmCh) überträgt diesen Emergenzgedanken auf den gemeindlichen Bereich und hofft, dass auf der Grundlage des schon Vorhandenen eine neue Art des Christseins entsteht. Dieses Christsein nimmt verschiedenste Stränge und Impulse aus der Kirchengeschichte auf, entwickelt Neues, bleibt dabei aber dynamisch, unabgeschlossen und meidet scharfe Konturen. Die Emerging Church möchte keine klar strukturierte und zielstrebige Bewegung, sondern ein dezentrales, flaches Netzwerk von Menschen, Ge­mein­den und Or­ga­ni­­­sationen sein, das sich den Heraus­forderungen einer sich verändernden Gesell­schaft stellt.

Das Anliegen der Bewegung

Dabei geht die Bewegung davon aus, dass die westlichen Gesellschaften in ein postmodernes und postchristliches Den­ken2 eingetreten seien und diese Entwicklung von den christlichen Gemeinden verarbeitet werden müsse, wenn sie nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wollten.

Für viele Repräsentanten der Emerging Church ist der sogenannte „Evangelikalismus“,3 der inzwischen über 100 Jahre alt ist, unauflösbar mit dem Weltbild der Neuzeit verknüpft. Die Neuzeit (ca. 15. Jh. bis Mitte des 20. Jh.) wird dabei als ein Zeitalter interpretiert, in dem Kirchen und christlicher Glaube eine dominante Stellung innegehabt hätten. Die Vorherrschaft des Christentums sei jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Eintritt in die „Postmoderne“ verlorengegangen.

Diese Entwicklung erfordere ein neues Selbstverständnis der christlichen Gemeinde. Sie müsse sich vom fundamentalistischen Weltbild der Neuzeit lösen und sich den neu aufkommenden Denkweisen und Erwartungen öffnen. Das Streben nach Gewissheit, Ordnung, Einheit und Perfektion sei den Menschen von heute fremd. Die Gemeinden seien herausgefordert, die Verkündigung des Evangeliums mit dieser Wirklichkeit zu versöhnen.

Die informellen Ursprünge dieses Ansatzes reichen in die Mitte der 90er Jahre zurück. Die eigentliche Emerging Church entstand um die Jahrtausendwende in Nordamerika im Umkreis des Young Leader Networks, das sich 2001 verselbständigte und in Emergent Village umbenannt wurde. Heute ist die Emerging Church in vielen Ländern der Welt präsent. Ihre Aktivisten sind für zahlreiche Buchveröffentlichungen verantwortlich und nutzen bevorzugt das Internet und Konferenzen für die Verbreitung und Diskussion ihrer Standpunkte. Auch in Deutschland hat sich inzwischen ein Netzwerk herausgebildet, deren Mitarbeiter bereits mehrere deutschsprachige Publikationen und Studientage organisiert haben.4 

Zu beachten ist die Unterscheidung zwischen „emergent“ und „emerging“. „Emergent“ verweist auf das Emergent Village, die organisatorische Anlaufstelle für die Gespräche derer, die zum harten Kern des Netzwerkes gehören. „Emerging“ ist dagegen ein umfassender Begriff für alle, die sich zur Emerging Church zählen. In der ihr finden sich liberale Vertreter ebenso wie theologisch eher konservative Evangelikale.5 Darüber hinaus gibt es noch Kreise von Freunden und Sympathisanten, die in der Regel formal nicht an die Emerging Church gekoppelt sind, aber ähnliche Anliegen teilen.6 

Das im Jahr 2003 erschienene Buch Stories of Emergence erzählt die Geschichte von fünfzehn Leuten, die zur EmCh gehören oder ihr zumindest nahestehen.7 Die Autoren, überwiegend aus evangelikalen Kreisen stammend, beschreiben darin ihre Reise vom absoluten zum authentischen Glauben. Die Frustrationen mit dem programmatischen Evangelikalismus sind dabei meist eine geteilte Erfahrung. In dem Buch werden Vorbehalte gegenüber den Megakirchen, der verbreiteten Autoritätsgläubigkeit und den allgegenwärtigen 10-Schritte-Jüngerschaftsprogrammen oder dogmatischen 3-Punkte-Predigten geäußert. Auch hierarchische Leitungsstrukturen und die Benachteiligung von Frauen und sexuellen Minder­heiten werden problematisiert.

Das Buch macht so deutlich, dass die Unzufriedenheit mit den etablierten Frömmigkeitsstilen bei der Entstehung der Bewegung eine gewisse Rolle gespielt habe. Man habe weggewollt von einem moralisierenden Christentum mit seinen feststehenden Überzeugungen und Programmen hin zu einem Glauben, der von Echtheit und Ganzheitlichkeit geprägt sei. Die Emerging Church kann daher als Bezeichnung für die Sehnsucht nach Veränderung verstanden werden. Aber was soll sich verändern?

Ein Spruch, der oft zu hören ist, bringt das Hauptanliegen der Emergenten recht gut auf den Punkt:

„Es geht Jesus nicht so sehr darum, wie der Mensch in den Himmel kommt, sondern darum, wie man den Himmel auf die Erde bringt.“

Nicht die Absonderung von der Welt, sondern die Gestaltung, Transformation und Verbesserung der Gesellschaft sei das Anliegen von Jesus. Christen sollten nicht weltabgewandt leben, sondern durch das, was sie sind und was sie tun, an der Herrschaft Gottes in dieser Welt teilhaben.

Während das traditionelle evangelikale Christentum eher das Jenseits betont („Wie wird ein Mensch errettet?“), liegt der Emerging Church mehr (nicht nur!) das Diesseits am Herzen („Wie breitet sich Gottes Herrschaft hier und heute aus?“). Das Reich Gottes sei unter uns und beschränke sich nicht auf die an Jesus Christus gläubigen Menschen. Gott interessiere sich keineswegs nur für die Gemeinde, sondern für die ganze Welt.8 Christen seien deshalb berufen, sich von Gott bei seinem heilsamen Wirken in der Welt einbinden zu lassen.

Diese Grundhaltung verschiebt natürlich allerlei Proportionen. Der Gegensatz von „gefährlicher Welt“ einerseits und „sicherer Gemeinde“ andererseits löst sich mehr oder weniger auf. Gern wird in diesem Zusammenhang von einem inkarnatorischen Gemeinde- oder Missionsverständnis gesprochen. So wie sich Jesus bei seiner Menschwerdung auf diese Welt eingelassen habe, seien Christen heute gefordert, in diese Welt „einzutauchen“. Es könne nicht mehr nur darum gehen, Christsein für die Menschen von draußen attraktiv zu machen. Eine missionarische Gemeinde müsse sich mit den Menschen, die sie erreichen wolle, identifizieren und dort leben, wo diese Menschen zu Hause seien. Eine in diesem Sinne missionarische Gemeinde verlegt ihre Aktivitäten gern mitten in die Gesellschaft, um nah bei den Menschen zu sein.9 

Da die in konservativen Kreisen allgegenwärtigen Streitigkeiten um die richtige Lehre, absolute ethische Standpunkte oder akzeptable Evangelisationsstile einem inkarnatorischen Christsein eher überflüssig oder hinderlich seien, rücken andere Fragen in den Vordergrund. Die Emerging Church bemüht sich um authentische Gemeinschaft, gelebte Kreativität und integrierende Denkstile. Sie sucht nach Ausdrucksformen für den Glauben, die auch für den „postmodernen“ Menschen verstehbar und erlebbar sind. Indem sie die Kommunikations­stile und -kanäle der jüngeren Menschen nutzt, gelingt ihr das „Connecting“ (Verbindung schaffen) mit den Menschen, die in einer von den elektronischen Medien dominierten Lebenskultur aufgewachsen sind. Erzählende Predigtformen erleichtern Jugendlichen den Zugang zu den biblischen Geschichten. Die Symbiose mit der Gegenwartskultur, der Einsatz für soziale Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Armut und das Engagement für einen ökologischen Lebensstil erfahren so eine deutliche Aufwertung.

Doch wäre es falsch, die Emergenten als eine Bewegung anzusehen, die – ähnlich wie Gemeindewachstumsbewegungen – einfach neue Formen für den Glauben fruchtbar machen möchten. Sie schürften tiefer und wollen das Christsein selbst reformieren. Aber genau hier, bei dem Versuch, den Glauben umzugestalten, enttäuschen weite Teile der Bewegung.

Ich möchte deshalb nachfolgend vier bedenkliche „Baustellen“ benennen, wobei ich der „Bibelfrage“ etwas mehr Raum widme.

1. Pluralistischer Denkstil

Ein geistlicher Leiter kann unterschiedliche Persönlichkeiten sowie kontroverse Positionen kreativ aufnehmen und in Entscheidungsprozesse einbinden. Christen müssen nicht in allen Punkten gleicher Meinung sein. Die Vielfalt in der Einheit ist eine Gabe Gottes. Jedoch wird Leiterschaft uneindeutig, wenn sie Gegensätze und Widersprüche ausblendet und einen pluralistischen Denkstil verabsolutiert.

Vor einigen Jahren las ich, wie eine christliche Jugendzeitschrift damit warb, klar evangelikal-charismatisch-katholisch-protestantisch zu sein. Nun kenne ich katholisch-charismatische Christen. Aber kann es ein klares katholisch-protestantisches Christentum geben? Ein protestantischer Glaube, der zugleich katholisch ist, wäre jedenfalls kein eindeutiger Glaube (im Sinne von „klar“).

Im Rahmen eines emergenten Ansatzes bereiten solche Gegensätze weniger Schwierigkeiten. Brian McLaren, eine Vaterfigur innerhalb der emergenten Bewegung, spricht davon, dass er ein liberaler und konservativer, ein wiedertäuferischer und anglikanischer Christ zugleich sei (die Anglikanische Kirche praktiziert die Taufe von Kindern)10 und gegensätzliche Positionen aufnehmen und in einer übergeordneten „Orthodoxie“ zusammenfassen möchte. Orthodoxie wird nicht mehr als die „wahre Lehre“, sondern als ein „wahrhaftiger Prozess“, verstanden. Gegensätze wirken so nicht mehr befremdend, sondern sind willkommen.

Dwight Friesen plädiert sogar für eine Theologie, in der Widersprüche als Indikatoren für göttliche Wahrheit wahrgenommen werden: „Hier ist meine Arbeitsmaxime für eine orthoparadoxe Theologie: Je mehr unversöhnliche, verschiedenartige theologische Positionen auftauchen, desto mehr erfahren wir die Wahrheit“.11 Denkt man diesen Ansatz zu Ende, wäre der Glaube an einen Gott, der existiert und zugleich nicht existiert, eine der höchsten Wahrheitserfahrungen, die ein Mensch machen könnte. Tatsächlich kombiniert Spencer Burke eine panentheistische Sichtweise, welche meint, Gott sei in allem, mit der Sicht der alten Glaubensbekenntnisse, nach der Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist ist, der unsere Welt geschaffen hat. Für Burke ist Gott zugleich persönlich und unpersönlich.12 

Natürlich finden wir in der Bibel Dinge, die wir nicht erschöpfend verstehen können. Würden wir uns jedoch diesen pluralistischen Denkstil zu eigen machen, könnten wir gar nicht mehr verstehen, was Gott von uns möchte. Die Bibel fordert ein unterscheidendes Denken, das nach dem Wahren und Guten fragt. Die Aussagen „Gott lügt nicht“ und „Gott lügt“ können beispielsweise nicht beide wahr sein (vgl. Hebr 6,18).

2. Sünde und Sühne

Während die Apostel, viele Kirchenväter und die Reformatoren unter Berufung auf das Alte und Neue Testament die Sündhaftigkeit aller Menschen von Jugend an lehrten (vgl. 1Mose 6,5; 8,21 und Röm 3,12), betont man in emergenten Kreisen gern, dass diese Auffassung zu pessimistisch sei. Anstatt sich auf die Sündhaftigkeit des menschlichen Herzens oder die Erbsündenlehre zu stützen, sollten die gesellschaftlichen Bezüge, die den Menschen zum Sündigen verführen oder zwingen, in den Blick genommen und aufgebrochen werden.

So schreibt zum Beispiel Steve Chalke:

„Während wir Jahrhunderte mit dem Nachdenken über die Lehre der Erbsünde verbracht und dabei über die Bibel einen riesigen Berg theologischer Wälzer gekippt haben, um die der gesamten Menschheit innewohnende Sündhaftigkeit zu beweisen, haben wir einen erstaunlichen Aspekt vergessen: Jesus glaubte an das ursprüngliche Gute im Menschen! Gott erklärte, dass seine ganze Schöpfung, einschließlich aller Menschen, sehr gut war. Damit möchte ich nicht sagen, dass Jesus verleugnet, dass unser Verhältnis zu Gott der Versöhnung bedarf. Er weist jedoch jeden Gedanken weit von sich, dass wir uns nicht zivilisiert benehmen könnten.“13 

Nun hat Chalke zweifellos Recht, wenn er sagt, dass der Mensch von Gott „gut“ geschaffen wurde. Was er allerdings ausblendet, ist der Sündenfall (vgl. 1Mose 3). Jesus spricht davon, dass das Böse aus dem menschlichen Herzen kommt, da wir seit diesem Fall korrumpiert sind und gegen Gott rebellieren (vgl. Mt 15,19 u. Mk 7,21).

Diese optimistische Sicht des Menschen, die sowohl von der katholischen Kirche wie auch den protestantischen Kirchen und Freikirchen verworfen wurde, korrespondiert mit einer verkürzten Lehre vom Sühneopfer Jesu. Dass Jesus stellvertretend für unsere Sünden starb, ist für namhafte Emergente ein Gedanke, der nur im Zusammenhang mit dem Glauben an einen blutrünstigen und rachsüchtigen Gott nachvollziehbar ist (vgl. dazu aber Jes 53,12; Röm 2,25 und 2Kor 5,12).14 

3. Religionsvermischung

Schließlich sind bei vielen Repräsentanten der Emerging Church Formen der Religionsvermischung zu entdecken. So gesteht man zum Beispiel östlichen Religionen besondere Kompetenzen im Bereich der ekstatischen Erfahrung zu, von denen Christen lernen könnten. Manche emergenten Gemeinden in Nordamerika bieten deshalb Yoga- oder Meditationskurse an. Nanette Sawyer, eine Künstlerin und Pastorin aus Chicago, berichtet, dass sie durch die Anleitung einer Hinduistin Christ geworden sei. Die Meisterin habe ihr durch Handauflegung eine Berührung mit Gott vermittelt und durch die Einführung in meditative Techniken dabei geholfen, Gottes bedingungslose Liebe zu erfahren.15 

Die Frage, ob Menschen auch in anderen Religionen zum Heil finden können, bleibt leider oft ungeklärt. Ein Beispiel: McLaren ringt sich nach einer mehrseitigen Erörterung der Frage, ob Christen evangelisieren sollen, zu der erfreulichen Stellungnahme durch, dass das Gespräch mit anderen Religionen „die Evangelisation nicht ausschließt, sondern erst möglich macht“. Wenige Zeilen später lesen wir jedoch:

„Ich muss hinzufügen, dass ich nicht der Auffassung bin, Jünger machen sei gleichbedeutend damit, jemanden an die christliche Religion zu binden. Es mag unter vielen (nicht allen!) Umständen ratsam sein, Menschen zu helfen, Nachfolger Jesu zu werden und [Hervorhebung im Original, R. K.] sie dabei in ihrem buddhistischen, hinduistischen oder jüdischen Kontext zu belassen.“16 

Wenn er dann noch schreibt: „…, JA, du kannst Jesus nachfolgen, ohne dich selbst als Christ zu verstehen“17 oder „Ich hoffe nicht, dass alle Juden oder Hindus Glieder der christlichen Religion werden. Ich hoffe aber, dass alle, die sich dazu berufen fühlen, jüdische oder hinduistische Nachfolger Jesu werden“,18 ruft das beim Leser seltsame Assoziationen hervor.

Was heißt das denn? Sollen Christen im Kontext anderer Religionen leben und sich den dortigen Riten anpassen? Das wäre mit dem Anspruch auf Echtheit und Authentizität schwer zu vereinbaren. Oder sollen Menschen Jünger Jesu sein, indem sie buddhistische, hinduistische oder jüdische Religion praktizieren? Dies würde das neutestamentliche Verständnis auf merkwürdige Weise verzerren (vgl. 1Thess 1,9). Was ist mit der Taufe? Was ist mit einem öffentlichen Bekenntnis zu Jesus Christus (vgl. Röm 10,9)?

McLaren will darüber nicht schreiben und unterschlägt, dass die Bibel für die Anbetung von Götzen deutliche Worte findet (vgl. zum Beispiel 1Sam 15,23; 1Kor 10,14; 1Petr 4,3 u. Apg 17,29–31).

4. Relative Schriftautorität

Die Kirche des Mittelalters verdeckte und verdrängte das Wort Gottes immer mehr durch eine von der Bibel entfremdete Lehr- und Lebenspraxis. Martin Luther (1483–1546) und mit ihm andere Reformatoren entdeckten deshalb das „sola scriptura“-Prinzip, nach dem die Bibel allein letzte Norm des Glaubens ist. Nicht mehr kirchliche Tradition oder private Einsichten sollten für die Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen maßgebend sein, sondern allein die Heilige Schrift. Die Bibel, und zwar nur die Bibel, war für die Reformatoren heiliges, göttliches Wort.

Leider haben weite Teile der Emerging Church mit dem „sola scriptura“ der Reformation gebrochen. McLaren findet für die „solas“19 verachtende Worte. Für ihn sind sie „fraglich, wenn nicht sogar eine große Gefahr“.20 

Gegenüber Begriffen wie „Autorität der Schrift“, „Unfehlbarkeit“, „Irrtumslosigkeit“, „Wahrheits­gehalt“ oder „Offenbarung“ äußert er größte Vorbehalte. Solche Begriffe seien der Schrift selbst fremd.21 Obwohl sich die Exegeten weitestgehend einig darüber sind, dass sich der Begriff theopneustos in 2Tim 3,16 auf das Einhauchen von Schriftaussagen bezieht,22 begreift McLaren „Inspiration“ im Sinne von „schöpferisch gegeben“. Die Schrift sei von Gott inspiriert, aber nicht wörtlich eingegeben. Gott und dutzende Menschen und Kulturen hätten die Schrift geschaffen.

„Oft haben wir die Bibel so behandelt, als hätte Gott sie diktiert, ohne jede organische Beteiligung [von Menschen, R. K.] (ohne Personalität, ohne Gemeinschaft, ohne Kultur, ohne kulturellen Kontext)“.23 

McLaren bekämpft hier ein Phantom, auf das gern verwiesen wird, das aber (in der Gegenwartsliteratur) kaum belegbar ist. Natürlich hat Gott die Persönlichkeit der Schreiber gerbaucht, um zu sagen, was er sagen möchte.

In ihrem Buch Emerging Church verstehen24 distanzieren sich die Autoren davon, den Inhalt der Bibel mit dem Willen Gottes gleichzusetzen.25 Trotzdem helfe uns die Bibel dabei, „ein treffenderes Bild von uns, von der Welt und von Gott zu bekommen.“26 Wie geschieht das? Sie setzen auf eine narrative Theologie mit ihrem existentialistischen Wahrheitsverständnis.27 

„Gesucht wird also eine andere Herangehensweise an die Bibel, die sowohl die Bibel sehr ernst nimmt, aber auch die Probleme, die es mit und in der Bibel gibt, nicht wegdiskutiert. Hier gehen erste Überlegungen in Richtung einer narrativen Theologie, in der die Bibel implizit durch viele kleine Geschichten die große Geschichte Gottes mit den Menschen und der Welt erzählt. Die Wahrheit der Bibel liegt nun nicht mehr allein darin, dass einzelne Sätze und Aussagen zutreffend sind, sondern dass sie Wirklichkeit neu erschließt und somit auch neue Wirklichkeit erschafft.“28 

Karen Ward, eine Leiterin des Emergent Village, behauptet sogar, Gott könne durch ein Gedicht von Rainer Maria Rilke genauso deutlich zu uns reden wie durch die Bibel.29 Es leuchtet ein, dass mit so einem Bibelverständnis die Heilige Schrift nicht mehr letzter Prüfstein für Lehre und Leben eines Christen sein kann.30 

Es läuft darauf hinaus, dass die Bibel nicht reiche, um den Willen Gottes zu verstehen. Während im katholischen Kontext noch die kirchliche Tradition hinzukommen muss, sind für zahlreiche Emergente die Interessen Gottes nur dann erkennbar, wenn wir lernen, in den Dialog mit der Bibel und der Kultur einzutreten. Stanley Grenz, bedeutender Impulsgeber für die emergente Bewegung und Mentor von Brian McLaren,31 formuliert das postmoderne Offenbarungsmodell so:

„Aus der Pflicht zur Kontextualisierung [des Evangeliums, R. K.] folgt implizit die Absage an die ältere evangelikale Vorstellung von Theologie als Wahrheit, die allein auf der Grundlage der Bibel hergestellt wird. Der Theologe kann sich nicht länger auf die Schrift als die eine vollständige theologische Norm konzentrieren. Stattdessen erfordert der Prozess der Kontextualisierung eine Bewegung zwischen zwei Polen, der Bibel als Quelle für die Wahrheit und der Kultur als Quelle für die Kategorien, mit denen der Theologe die biblische Wahrheit ausdrückt.“32 

Gianni Vattimo, ein italienischer Philosoph der Postmoderne, bringt es gut auf den Punkt: „Mit anderen Worten, die Bibel ist nur ein Kern, der für sich allein, im Gegensatz zur lebendigen Tradition und zum Glauben der Gemeinde, nicht als die authentische Offenbarung gelten kann.“33 

Solch ein Offenbarungsverständnis hat enorme Konsequenzen. Die Unterscheidung zwischen der Schrift und ihrer Auslegung, die bei den Reformatoren eine so große Rolle spielte, verwischt. Es gibt nicht mehr die Schrift, sondern nur noch konkurrierende Auslegungen. Es kann nicht mehr zwischen Wahrheit (Bibel) einerseits und Wahrheitsansprüchen (Bibelauslegungen) andererseits unterschieden werden. Die Verlagerung des Offenbarungsgeschehens in die Gemeinschaft fördert den Subjektivismus. Esoterische Erfahrungen im Raum der Gemeinden werden aufgewertet, da nicht mehr die Bibel letztes Kriterium der Gotteserkenntnis ist, sondern das Gruppenerlebnis und die Selbsterfahrung (mit der Bibel). In der Folge wird sich auch die Situationsethik etablieren, da exegetische Befunde als Entscheidungsgrundlage nicht mehr ausreichen.34 

Ich glaube, an diesen Beispielen wird deutlich, wo die Defizite der Emerging Church liegen. Sie wirft dem Evangelikalismus (nicht zu Unrecht) vor, dass er enge Bündnisse mit dem Denken der Neuzeit eingegangen ist. Doch anstatt jetzt selbst auf das zu hören, was die Bibel sagt, begeht die emergente Bewegung einen ähnlichen Fehler wie manche „moderne Gemeinden“. Sie greift auf derzeit populäre Konzepte, Stile und Meinungen zurück und versucht diese mit dem christlichen Glauben zusammenzuführen.

Sie fragt, wie es möglich sein kann, als Christ zu glauben und gleichzeitig in einer postmodernen Kultur zu leben, ohne dass Glaube und Kultur sich gegenseitig „ausbremsen“. Und sie meint diese Spannung mit einem Prinzip auflösen zu können, dem der Theologe Paul Tillich (1886–1965) die Bezeichnung „Korrelation“ gegeben hat. Korrelationsprinzip heißt hier, dass die Antworten des Evangeliums mit den Fragen des (post-)modernen Menschen in einer Wechselbeziehung stehen. Der Glaube erfährt seine inhaltliche Bestimmung durch den Dialog mit dem Geist der Zeit.

Es liegt auf der Hand, dass dieses Prinzip scheitern wird, wenn es bei seiner „Anpassungsartistik an die Welt [vergisst, dass] das Evangelium letztlich ein Skandalon35 in dieser Welt ist und bleibt“.36 Schnell werden die Konzepte unserer Lebenskultur das Wahrnehmen der biblischen Botschaft eintrüben. Es ist leider nur eine Frage der Zeit, bis die Emergenten von der Kultur, die sie eigentlich durchdringen möchte, so selbst „verschluckt“ werden, wenn sie ihre theologische Arbeitsweise nicht überdenken.

Bei aller notwendigen Kritik der emergenten Bewegung wäre es allerdings falsch, sich selbstzufrieden zurückzulehnen und alles so zu lassen, wie es ist. Viele Emergente haben einen bemerkenswert guten Sinn für die Aufgaben, die es zu lösen gilt. Die Kritik am Evangelikalismus mag weh tun, aber sie ist in vielen Fällen berechtigt. Auch wenn manche Antworten der Emerging Church desillusionieren, sollten wir die Fragen aufgreifen und uns mit ihnen entschieden, hörend und gehorchend dem Wort Gottes zuwenden. Ich möchte Mut machen, diesem Wort zu vertrauen und den unwandelbaren Glauben an die Gnade Gottes (vgl. Jud 3) einladend, verstehbar und kreativ auszuleben. Was wir brauchen, ist ein Christsein, welches das unveränderliche Evangelium von Jesus Christus entschieden, authentisch und kulturrelevant verkündigt und lebt.


  1. Manchmal werden für die Bezeichnung der Emerging Church synonyme oder bedeutungsähnliche Begriffe wie „Epic Church“, „Missional Church“, „Experimental Church“ oder „Emergent Conversation“ verwendet. Ich spreche hier auch von der „emergenten Bewegung“ oder den „Emergenten“. 

  2. Zur Postmoderne siehe: Ron Kubsch. Die Post­moderne. Holzgerlingen: Hänssler, 2007. 

  3. Der Evangelikalismus (vom Englischen „evangelicalism“) ist eine Bewegung innerhalb des Pro­testantismus, die sich auf die Bibel als zentrale Grundlage christlichen Glaubens beruft und die Bedeutung der persönlichen Gottesbeziehung, der Gemeinde und der Mission hervorhebt. Für eine kurze Einführung siehe: Stephan Holthaus. Die Evangelikalen: Fakten und Perspektiven. Lahr: St. Johannis, 2007. 

  4. Siehe: URL: http://www.emergent-deutschland.de [Stand: 08.12.13]. Hilf­reiche Einführungen auf Deutsch sind: Dan Kimball. Emerging Church. Asslar: Gerth Medien, 2005 u. Tobias Faix u. Tho­mas Weißenborn (Hrsg.). Zeitgeist. Marburg: Francke, 2007 u. Tobias Künkler, Tobias Faix u. Arne Bachmann. Emerging Church verstehen. Marburg: Francke, 2012. 

  5. Das gilt m. E. auch für das Netzwerk in Deutschland. Theologisch mehr oder weni­ger „klassische“ Evangelikale ver­suchen besonders im Bereich der praktischen Theologie aus dem Fundus der EmCh zu schöpfen. 

  6. Vgl. dazu D.A. Carson. Becoming Conversant with the Emerging Church. Grand Rapids, MI: Zondervan, 2003. S. 12–13. Das Buch ist inzwischen in einer deutschen Übersetzung beim Verlag Betanien erschienen: Donald A. Carson. Emerging Church: Abschied von der biblischen Lehre?. Bielefeld: CLV, 2008. 

  7. Mike Yaconelli. Stories of Emergence. Grand Rapids, MI: Zondervan, 2003. 

  8. Diese Einsicht wird gern mit Joh 3,16 begründet. 

  9. Eddie Gibbs und Ryan Bolger, beide Dozenten am Fuller Seminar, definieren die EmCh wie folgt: „Emerging Churches sind Gemeinschaften, die den Weg Jesu innerhalb postmoderner Kulturen gehen. Diese Definition schließt neun Praktiken ein. Emerging Churches identifizieren sich (1) mit dem Leben Jesu, transformieren (2) die säkulare Sphäre und leben (3) ein hoch kommunales Leben. Auf Grund dieser drei Aktivitäten heißen sie (4) den Fremden willkommen, dienen (5) mit Weitherzigkeit, nehmen (6) teil als Produzenten, sind (7) kreativ als geschaffene Wesen, leiten (8) als ein Leib und nehmen (9) an spirituellen Aktivitäten teil.“ Eddie Gibbs u. Ryan K. Bolger. Emerging Churches: Creating Christian Community in Postmodern Cultures. Grand Rapids, Mich.: Baker Academic, 2005. S. 44–45. 

  10. Für eine Rezension über Brian McLarens Buch A Generous Orthodoxy siehe: Ron Kubsch. „Das Ende der Eindeutigkeit“. In: factum 7/2007. S. 10–15. 

  11. Dwight Friesen. „Orthoparadoxy“. In: Doug Pagitt u. Tony Jones. An Emergent Manifesto of Hope. Grand Rapids, MI: Baker Books, S. 208. 

  12. Spencer Burke u. Barry Taylor. A Heretic‘s Guide to Eternity. San Francisco: Jossey-Bass, 2006. 194–195. 

  13. Steve Chalke u. Alan Mann. The Lost Message of Jesus. Grand Rapids, Mich: Zondervan, 2003. S. 67. 

  14. Vgl. dazu: Ron Kubsch. „Das Sühneopfer von Jesus Christus“. Erschienen als Beitrag im TheoBlog unter: URL: http://www.theoblog.de/?p=695 [Stand: 27.09.2013]. 

  15. Nanette Sawyer. „What would Huckleberry do?“. An Emergent Manifesto of Hope. S. 44. 

  16. Brian McLaren. A Generous Orthodoxy. Grand Rapids, MI: Zondervan, 2004. S. 293. 

  17. Ebd. S. 20. Fn 2. 

  18. Ebd. S. 297. 

  19. Gemeint sind damit: „sola gratia“ – allein aus Gnade, „sola fide“ – allein aus Glauben, „solus Christus“ – allein Jesus Christus und eben „sola scriptura“ – allein die Schrift. 

  20. McLaren. A Generous Orthodoxy. S. 221. 

  21. Ebd. S. 182–183. 

  22. Vgl. Baltz u. Schneider. EWNT. 1992: Bd. 2, Sp. 346. 

  23. McLaren. A Generous Orthodoxy. S. 179–182. 

  24. Tobias Künkler, Tobias Faix u. Arne Bachmann. Emerging Church verstehen. Marburg: Francke, 2012. 

  25. Ebd. S. 85. 

  26. Ebd. 

  27. Zum existentialistischen Wahrheitskonzept siehe: Ron Kubsch. Was ist Wahrheit?. In: factum 5/2010. S. 2–7. 

  28. Künkler, Faix u. Bachmann. Emerging Church verstehen. S. 85. 

  29. Karen Ward. „The Emerging Church and Communal Theology“. In: Robert Webber u.a. Listening To The Beliefs Of Emerging Churches: Five Perspectives. Grand Rapids, Mich.: Zondervan, 2007. S. 162. 

  30. Sehr aufschlussreich ist eine Mitteilung des Emergent Village vom 12. Dezember 2008 mit dem Titel „So Long, Sola?“, zu finden unter: URL: http://www.emergentvillage.com/weblog/so-long-sola [13.12.2008]. Nic Paton stellt dort die steile These auf, das sola scriptura – während der Reforma­tionszeit eine „Säule der Wahrheit“ –, sei in­zwischen „eine unverantwortliche Altlast (man ist versucht zu sagen, ein Götze)“ geworden. 

  31. Siehe: McLaren. A Generous Orthodoxy. S. 28. 

  32. Stanley Grenz. Revisioning Evangelical Theology. Downers Grove, Ill.: InterVarsity Press, 1993. S. 90 

  33. Gianni Vattimo. Jenseits des Christentums. München: Carl Hanser, 2004. S. 113. 

  34. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Diskussion über die Homosexualität. Siehe dazu Brian McLaren: URL: http://blog.christianitytoday.com/outofur/archives/2006/01/brian_mclaren_o.html [Stand. 18.07.2007]. 

  35. Der griechische Begriff „Skandalon“ bedeutet „Ärgernis“ oder „Anstoß“ und wird auch im Neuen Testament verwendet (vgl. zum Beispiel 1Kor 1,23 oder 1Petr 2,6–8). 

  36. Horst Georg Pöhlmann. Abriß der Dogmatik. Gütersloh: Gerd Mohn, 1984. S. 31.