- Was Sünde ist, hat uns Gott offenbart. Nur die Folgen der Sünde finden wir in der Erfahrung.
- Darum kann der Mensch nur durch Gottes Gnade erkennen, dass er Sünder ist und Rettung braucht.
- Das christliche Reden von der Sünde bleibt nicht bei Moral stehen, kann aber auch nicht auf Gottes Gebote verzichten.
Thorsten Dietz, Sünde: Was Menschen heute von Gott trennt. 2. Aufl. Witten: SCM Brockhaus, 2017.
Der Marburger Theologe Thorsten Dietz, der hauptsächlich an der Evangelischen Hochschule Tabor lehrt und sich auch für das Projekt „Worthaus“ engagiert, hat sich vorgenommen, den heutigen Christen zu erklären, was Sünde ist. Dabei will er sich nicht auf Formeln stützen, die heute fast durchweg nicht mehr verstanden werden, sondern es so aktuell erklären, dass auch ein ungläubiger Zeitgenosse dem Gespräch lauschen kann und endlich versteht, was Christen damit meinen, dass alle Menschen Sünder sind und dass dies oder jenes eine Sünde sei. Man kann das Vorhaben von Thorsten Dietz gar nicht hoch genug schätzen, denn wenn im Dunkeln bleibt, was das eigentliche Problem ist, das das Evangelium von Jesus Christus löst, dann ist das Evangelium nicht nur unverständlich. Es erscheint einfach überflüssig, oder wie Spötter sagen: „Das Christentum löst ein Problem, das es erst erfunden hat.“ Versuche, das Evangelium damit zu retten, dass es, ohne von Sünde zu sprechen, als „Liebe Gottes“ und „Angenommensein so wie man ist“ definiert wird, erweist Dietz schnell als kurzschlüssig und nicht haltbar. Es gelingt ihm eindrücklich, das Problem zu beschreiben, das entsteht, wenn man heute relevant von Sünde reden will.
„Das Wort Sünde funktioniert nicht mehr. Statt irgendetwas zu erklären, bedarf dieser Ausdruck selbst der ständigen Erläuterung. Er produziert nur noch Missverständnisse“ (S.5).
Zuerst der Blick ans Ende
Es gibt Leute, die immer erst nach dem Blick auf das Ende entscheiden, ob sie ein Buch lesen wollen. Das Blättern auf die letzten Seiten dieses Buches ist enttäuschend. Trotzdem halte ich es für lohnend, den Versuch von Thorsten Dietz, einen Weg aus der Problematik des Redens von Sünde aufzuzeigen, genauer zu betrachten. Auch wenn ich die meisten Lösungsvorschläge für mindestens zu kurz gegriffen halte, so kann daran deutlich werden, was unverzichtbare Eckpunkte des Redens von der Sünde sein müssen.
Es reicht offenbar nicht aus, die Schwierigkeiten mit dem Wort Sünde zu erkennen und eindrücklich zu beschreiben, um nicht selber auf Abwege zu geraten, die das Ergebnis fraglich werden lassen. Bei Thorsten Dietz stellt sich letztlich sogar die Frage, ob seine „Annäherung“ an die Sünde wirklich die biblisch-christliche Position widerspiegeln kann. Denn das Buch kommt nach über 200 Seiten vorsichtig tastender „Entdeckungsreise“ mit der Lehre von der Sünde zu diesem Ergebnis, das zugleich die letzten Sätze des Buches sind:
„Alles kommt zu seinem Ende. Auch die Sünde. Das ist ein Glaubenssatz. Ein Satz, der mehr verspricht, als unsere alltägliche Lebenserfahrung beglaubigen kann. Es ist ein Satz von Menschen, die bei diesem Jesus von Nazareth auf eine Spur gestoßen sind. Eine Spur, die nach draußen führt, raus aus dem Ozean menschlicher Sünde und Verlorenheit. Heraus aus aller Verstrickung, heraus aus den Gräbern der Verzweiflung, heraus aus dem Tod. Es ist nur eine Spur, aber es ist ein Versprechen auf mehr, auf Neues und Ungeheures, und genau so etwas suche ich als Entdeckungsreisender …“ (210).
Nun ist Thorsten Dietz‘ Rhetorik an vielen Stellen offenbar von Rücksichtnahme auf Menschen geprägt, die dem Christentum fernstehen. Aber stimmt das? Sind die Christen bei Jesus wirklich nur auf eine Spur gestoßen, die aus menschlicher Sünde und Verlorenheit herausführen kann? Und ist diese Spur nur eine Hoffnung, dass es irgendwo in der Zukunft eine Befreiung von Sünde geben könnte? Die christlichen Glaubenssätze umfassen tatsächlich viel mehr. Jesus Christus, der selbst für uns zur Sünde gemacht wurde, hat diese Sünde an das Kreuz getragen und durch sein Sterben die Erlösung von der Knechtschaft der Sünde für alle bewirkt, die an ihn glauben. Das hat Gott mit der Auferstehung, der Himmelfahrt und der Ausgießung seines Heiligen Geistes an die Glaubenden bestätigt, so dass Christen das Recht haben, zu sagen: „Mir sind meine Sünden vergeben. Ich bin aus der Knechtschaft der Sünde befreit.“ Was das heißt, muss immer wieder verständlich entfaltet werden. Aber kann man es einfach weglassen?
Ein Buch über Sünde, in dem man die Botschaft von der Erlösung durch Christus vergeblich sucht, kann die christliche Lehre über die Sünde nicht entfalten.
Es schmerzt, das sagen zu müssen: Ein Buch über Sünde, in dem man die Botschaft von der Erlösung durch Christus letztlich vergeblich sucht, kann die christliche Lehre über die Sünde nicht wirklich entfalten. Selbst wenn man das vorsichtige Formulieren, das vieles im Ungefähren lässt, als spannungssteigerndes Element einrechnet; selbst wenn man positiv bewerten will, dass Dietz die ganz steilen Sätze der christlichen Botschaft vermeidet, um seine nichtchristlichen und skeptischen Leser nicht zu überfordern, die übergroße Leerstelle bleibt bestehen. Wenn man von Sünde biblisch-theologisch redet, dann muss dabei der Mensch vor Gott gestellt werden, Gottes Urteil über sich hören und dann auch das Befreiungsurteil der Vergebung durch Christus. Die Rede vom Bösen, vom Leid und Tod kann hinführen, weil sie Folgen der Sünde sind. Die christliche Hoffnung, dass es einmal eine bessere Welt ohne Leid und Tod geben wird, ist aber offenbar in der Kindschaft derer begründet, die an Jesus Christus als ihren Erlöser glauben (Röm 8).
Erlösung ohne Erlöser?
Dass es sich nicht um ein Versehen handelt (das letzte Kapitel des Buches versehentlich nicht abgedruckt?), zeigt im Kapitel vorher die Einführung der „Gestalt Jesu Christi“ als „Fixpunkt“ für die Erkenntnis der Sünde (mit Bezug auf Karl Barth). An Jesus soll der Mensch erkennen, wozu er von Gott bestimmt ist, was er sein kann und soll.
„Sünde ist offenbar stets das Gegenteil dessen, was in Christus als Gottes Willen erkennbar wird“ (S. 190).
So richtig der Satz klingt, so ist er doch in vieler Hinsicht irreführend. Dietz führt er dazu, Kreuz und Auferstehung in eine Vorbildfunktion umzudeuten.
Hochmut und Selbstbehauptung seien das Gegenteil seines Todes am Kreuz, also Sünde. Aber an der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu zeige sich dann als Gegenteil die Sünde der Trägheit, durch die „viel menschliches Potenzial in dieser Welt ungenutzt bleibt, … viele Träume ungelebt, … viele Wünsche unausgesprochen“. Deswegen müsse das Reden von der Sünde dem Menschen „die Hoffnung auf ihre wirkliche Entfaltung“ zurückgeben. Jesus als Erlöser von der Sünde fällt auch hier aus. Mit ihm als „Fixpunkt“ geht es nur um eine Vorbildfunktion und dann um „die befreiende Kraft einer guten Diagnose“.
„Eine Diagnose, in der wir unser Leiden richtig wahrgenommen und beschrieben finden, unseren Lebensalltag wiedererkennen und zugleich hoffen dürfen, dass es so etwas wie einen heilsamen Umgang mit dieser Problematik geben könnte.“ (191)
Es klingt zu schön, um wahr zu sein, dass die Sünde mit der richtigen Diagnose und ein paar Tipps zum Umgang im Zaum gehalten werden könnte.
Das klingt nicht nur zu schön, um wahr zu sein, es ist auch nicht wahr. Dabei ist das Bild von der ärztlichen Diagnose im Hinblick auf die Sünde in der theologischen Tradition mehrfach verwendet worden, aber ganz anders als es Thorsten Dietz tut. Hans-Joachim Iwand etwa benutzt den Vergleich mit Blick auf Luthers Rechtfertigungstheologie so:
„Der Kranke weiß auch um bestimmte Symptome seiner Krankheit, aber erst der Arzt stellt die rechte Diagnose. So ist der Mensch von Natur aus Sünder, aber erst, wenn er sich im Geiste Gottes erkennt, wird er, was er ist, d.h. er lernt die Krankheit in ihrer Wurzel kennen und ebenso die rechten Mittel zu ihrer Überwindung gebrauchen. Luther nennt das: zum Sünder werden; er denkt dabei nicht an Sünden, die der Mensch tut, sondern denkt an die Erkenntnis, durch die dem Menschen aufgeht, wer er ist. So kann Luther geradezu sagen, daß die Sünde ebenso geglaubt sein will wie die Gerechtigkeit, daß also das Bekenntnis der Sünde nicht abhängig ist vom Sündenbewußtsein, sondern umgekehrt dies Bewußtsein geleitet und bestimmt wird durch das Bekenntnis”.1
Wenn es um Sünde geht, dann kann es keine Diagnose geben, die wir passend und plausibel finden und die eine Art Pille in Aussicht stellt für unseren „heilsamen Umgang“. Die Diagnose Gottes in seinem Wort zeigt vielmehr, dass das, was wir für eine heilbare Krankheit hielten, nur Symptome einer viel tieferliegenden, tödlichen Krankheit sind. Was dieser Arzt uns sagt, erscheint auch nicht einsichtig, sondern zeigt die zerstörte Beziehung zu Gott in einer Tiefe, die wir kaum wirklich erfassen können, denn sie ist so schrecklich, dass nur der Tod des Sohnes Gottes selbst und das Einswerden mit ihm im Glauben eine Heilung bringen kann. Aber der Sohn Gottes bringt auch wirkliche Heilung. Er ist der Arzt und der Erlöser, nicht nur Vorbild oder Tippgeber für einen „heilsamen Umgang“ mit dem Sündersein und der Sünde.
Jesus Christus als Retter und Erlöser bleibt Dietz durchweg ein Fremder, und das, obwohl er sich im Schlusskapitel wirklich bemüht, Jesus positiv einzuführen. Das Scheitern zeigt sich m.E. am deutlichsten an dem, was Jesus „von allen anderen Menschen unterscheidet“, seine vielfach und einhellig bezeugte Sündlosigkeit (1Joh 3,5; 1Pet 2,22; 2Kor 5,21; Heb 4,15). Statt nun aufzuzeigen, wie die Sündlosigkeit Jesu in der Bibel mit der Erlösung von Sünden verbunden ist, überspringt Dietz das Thema in der Manier historisch-kritischer Theologie. Er hält es für eine „Formulierung“ der ersten Christen, die damit sagen wollten, was auch das moderne Kino über seine Helden erzählt, dass sie nämlich durch tiefgreifende Krisen an den Rand des Scheiterns gebracht werden, aber am Ende doch siegen und dieser Weg zu „einem neuen Anfang“ führt (198-199). Denn „in diesen vielen Geschichten und Mythen (spiegelt) sich die wahre Bestimmung des Menschen“, weil „der Traum von der Heldenfahrt für die menschliche Anlage auf eine Erlösung“ steht. Das sei die berechtigte christliche Deutung von allem (200) und das soll dann Sündlosigkeit bei Jesus bedeuten.
Nur so ganz überzeugt soll man offenbar von Jesus Christus besser nicht sein.
„Was wir haben, ist das neutestamentliche Zeugnis, in dieser Vielgestaltigkeit, mit diesen unscharfen Rändern und offenen Fragen. Die neutestamentlichen Erzählungen und Briefe malen uns Jesus vor Augen. Sie erzählen vielstimmig von ihm“ (200-201).
Nicht einmal der Auferstehung scheint sich Dietz so ganz sicher, jedenfalls mag er sie nicht überzeugt vertreten, sondern würde auch ohne noch meinen:
„Und vielleicht ist es auch so: Das Ende Jesu widerlegt keineswegs, was er gesagt hat. Sein Ende ist nicht sinnlos, vielmehr kommt sein Gott gerade so zu seinem Ziel. Sein Plan für diese Welt und für den Menschen, ein Leben in Liebe und Respekt, in Versöhnung mit Gott und den Menschen findet Erfüllung. … Auf diese Möglichkeit zu setzen und zu vertrauen, das ist Christentum“ (205).
Das biblische Christentum ist das gewiss nicht. Das ist nur ein Christentum, das nach der verbrannten Erde der kritischen Theologie konstruiert wurde und heute weite Teile der evangelischen Universitätstheologie (und jetzt auch Tabor?) bestimmt. Aber es ist höchstens ein blutleerer Abklatsch des Zeugnisses der lebendigen christlichen Kirche durch 2000 Jahre Kirchengeschichte auf der ganzen Welt.
Wie „Sünde“ zum Unwort wurde
Es lohnt sich, nachzuzeichnen, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte, das einerseits zu einer Verharmlosung von Sünde führt und andererseits die einzige Rettung in Christus in einer Vorbildfunktion aufgehen lässt. Es sind nämlich verbreitete Irrtümer, die den Versuch der Aufklärung über das christliche Verständnis von Sünde zu einem Irrweg werden lassen.
Thorsten Dietz verfängt sich gleich zu Anfang in einem Missverständnis, das Folgen hat. Er geht davon aus, dass das Reden von der Sünde erst in den letzten Jahrzehnten (die Zeitangaben schwanken zwischen Jahrzehnten und Jahrhunderten) immer schwieriger geworden sei. Irgendwann davor hätte es dann wohl eine Zeit gegeben, wo die Sache mit der Sünde unproblematisch verstanden wurde. Dann müsste man eben heute wieder eine verständlichere Sprache für die Sünde finden, die irgendwann verloren gegangen ist. Ein genaueres Studium der Bibel zusammen mit Beobachtungen der Kirchengeschichte hätte aber gezeigt, dass das Reden von der Sünde schon immer schwierig und missverständlich war. Es ist ein Grundproblem, dass das, was Sünde eigentlich ist, für den Menschen, der in der Sünde lebt und von einer sündigen Welt umgeben ist, nicht wirklich erfasst werden kann. Der Mensch kann Folgen von Sünde wahrnehmen und darunter leiden, aber für die Sünde selbst ist er blind. Er kann Symptome seiner „Krankheit zum Tode“2 wahrnehmen, aber er braucht einen kompetenten Arzt, der ihm sagt, welche Krankheit er hat und erst recht, welche Therapie Erfolg verspricht. Offenbar wird der Sünder immer zur Verharmlosung dessen neigen, was Sünde nach der Bibel eigentlich ausmacht.
Dietz versucht also, darüber Rechenschaft zu geben, wie das Wort „Sünde“ ein „Unwort“ mit einem „beschädigten Code“ werden konnte. „Was hat das Wort Sünde heute so unbrauchbar gemacht?“ (12) Er hält das zu Recht nicht eigentlich für ein Sprachproblem. Ihm erscheint das erste Problem darin zu liegen, dass die christliche Rede von Sünde jeden Menschen zum Sünder macht, den Guten genauso wie den Bösen. Diese radikale Abwertung führe zur Ablehnung des ganzen Konzeptes, verbunden mit der Erfahrung, dass die Welt und die Menschen gar nicht so böse erscheinen, wie es das Sünderurteil zu verlangen scheint. Nun hätten die Christen darauf mit der Moralisierung des Sündenverständnisses reagiert, also immer wieder versucht, Menschen ihre moralischen Verfehlungen nachzuweisen. Dabei hätten sie den Menschen aber ihre Mündigkeit nehmen wollen und versucht „den ‚Ungläubigen‘ schlicht die Fähigkeit zur moralischen Selbsteinschätzung und das Recht auf Selbstannahme abzusprechen“ (15). Überdies seien es gerade die kirchlichen Verkünder des Sünderseins, die selber als schlechte Menschen dastehen. Sein Ergebnis:
„Das Wort ist verbrannt. Man kann es nicht mehr einfach so verwenden. Es erklärt nichts mehr, sondern bedarf selbst der ständigen Erklärung. Im Grunde ist dies in den westlichen Gesellschaften schon seit Jahrzehnten so“ (17).
Die Bibel kennt Abstufungen im Tun des Bösen und schlechtere und bessere Menschen, aber niemand ist mehr oder weniger Sünder.
Schon diese Analyse, die Dietz mit seiner Geschichte des Sündenbegriffs im folgenden Kapitel nicht belegen kann oder will, zeigt, wie das Denken auf eine irreführende Spur gelenkt wird. Es gehört nämlich zum Wesen des biblischen und christlichen Sündenverständnisses, dass es jeden Menschen gleichermaßen zum Sünder macht, Osama bin Laden genauso wie Mahatma Gandhi – um die beiden Namen bei Dietz zu nennen. Die Bibel sieht offenbar durchaus Abstufungen im Tun des Bösen, man kann mehr oder weniger Schuld auf sich laden, aber niemand ist mehr oder weniger Sünder. Man kann in moralischer Hinsicht schlechter oder besser sein, aber bleibt doch Sünder. Die sündige Tat kann deswegen sogar eine nach menschlichen Maßstäben gute Tat sein und von allen gelobt werden. Sünde bleibt sie trotzdem.
Was Dietz für ein Problem „seit Jahrzehnten“ hält, ist ein Problem von Anfang an und das empfanden die Menschen offenbar auch schon immer so3 . Demzufolge ist auch nicht verwunderlich, dass wir in Zeiten, wo sich das Böse nicht mit ungebändigter Brutalität Bahn bricht, den Eindruck haben, dass die allermeisten Menschen gar nicht so schlecht sind. Das Urteil Gottes lautet trotzdem, dass sie Sünder sind. Dass das Folgen auch im moralischen Verhalten der Menschen hat, ist in der Bibel durchgängig ein Thema. Die moralische Dimension der Sünde kann also gar nicht ausgeblendet werden.
Es gehört ebenso zum Wesen des Sündenverständnisses, dass Sünde kein Selbsturteil des Menschen, sondern allein Gottes Urteil sein kann. Wenn es um Sünde geht, ist der Mensch also notwendig in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt. Das „Entmündigung“ zu nennen, führt aber in die Irre. Denn es gehört zur Würde des Menschen, dass Gott ihn anspricht mit Gesetz und Evangelium, und dass der Mensch zustimmen kann oder sich auflehnen. Auch hat das Christentum von Anfang an immer ganz offen davon gesprochen, dass seine Botschafter, Prediger, Verkündiger genauso Sünder sind, die in gleichem Maße zu allem Bösen fähig sind, wie alle anderen Menschen. Jesus Christus war der einzige Sündlose. Nicht einmal das Unfehlbarkeitsdogma des Papsttums behauptet die Sündlosigkeit des Papstes. Deswegen kann und wird es auch immer Vertreter der Kirche geben, die sich Verbrechen schuldig machen.
Wie soll es zu einer Lösung führen, wenn man den Wesensgehalt der biblischen Botschaft von der Sünde zu ihrem Grundproblem erklärt.
Man könnte also beklagen, dass die Christen bei der Verkündigung dieser Wesenszüge ihrer Botschaft von Sünde und Sündersein Fehler gemacht haben. Das ist zum Beispiel dort der Fall, wo versucht wurde, verengt auf moralische Verfehlungen das Sündersein des Menschen zu begründen. Bosheit und Übertretung der Gebote Gottes sind Folgen und nicht der Kern der Sünde. Der besteht in der zerstörten Beziehung zu Gott, in der Feindschaft des Menschen gegen seinen Schöpfer und Herrn. Man mag die Schwierigkeiten beklagen, die sich aus dem christlichen Sündenverständnis ergeben. Aber wie soll es zu einer Lösung führen, wenn man den Wesensgehalt der biblischen Botschaft von der Sünde zu einem Grundproblem erklärt und dann noch behauptet, dass es sich erst in den letzten Jahrzehnten ergeben hätte? Dabei ist Dietz die theologische Diskussion doch nicht unbekannt. Er fasst auch wichtige Eckpunkte als „Alltagsverständnis von Sünde“ treffend zusammen:
„Sünde solle ein universales Problem sein. Sie betrifft nicht nur einige, wie in moralischen Urteilen, sondern alle. Sünde ist ein religiöses Thema. Sie hat etwas mit der Gottesbeziehung zu tun. Sie bezieht sich auf moralische Debatten, aber sie geht darin nicht auf. Sünde kann man nicht an sich erkennen“ (23).
Aus all dem würde eigentlich die Aufgabe folgen, wie man dem Menschen heute sagt, was ihn von Gott trennt. Nur ist das eben seit Jahrtausenden dasselbe Problem, man denke nur an Nathans Weg zu David, um ihn seiner Sünde zu überführen (2Sam 12).
Kann man Sünde nicht-religiös erklären?
Thorsten Dietz sucht eine Lösung des von ihm beschriebenen Problems in einem Vorschlag, den Dietrich Bonhoeffer 1944 in einzelnen Briefen aus dem Gefängnis angedacht hatte. Es ginge um „eine nicht-religiöse Interpretation des christlichen Glaubens für eine postchristliche Zeit“ (21). Es gebe einen „Bruch“, der „das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entfremdung von christlicher Sprache und moderner Entwicklung“ sei (21).
„Will man am Christentum festhalten, dann kann es um nicht weniger als darum gehen, den christlichen Glauben neu zu entdecken, zu befreien aus so mancher problematischen Verstrickung oder Verengung“ (21-22).
Dietrich Bonhoeffer hatte nicht mehr die Gelegenheit, genauer zu beschreiben, was er mit diesen Gedanken gemeint hat und wie er sich eine religionslose Interpretation des christlichen Glaubens vorstellte.
Von Thorsten Dietz aber muss man verlangen, dass er an dieser Stelle präziser wird. Was hält er für die problematischen Verstrickungen und Verengungen? Wo genau sieht er den Bruch zu moderner Entwicklung? Und auf welcher Seite ist das Problem? Ist es eher ein Verständigungsproblem der Christen oder hat sich das Denken – etwa seit der Aufklärung – stärker von christlichen Prämissen emanzipiert? Oder beides?
Statt hier konkret zu werden, entscheidet sich Dietz für seine „Entdeckungsreise“, in der er den christlichen Glauben „neu“ entdecken will. Der Anfang der Reise bleibt gewollt nebulös. Das ist in der Verkündigung auch schick geworden und soll Offenheit und Toleranz vermitteln.4 Bonhoeffer hätte m.E. nicht viel übrig gehabt für diese Reise im Nebel. In der entsprechenden Passage aus Widerstand und Ergebung wendet er sich nämlich ausdrücklich gegen die Ansprache säkularer Menschen auf dem moralischen Weg und will stattdessen den Zeitgenossen an seiner stärksten Stelle mit Gottes Anspruch konfrontieren:
„Ich will also darauf hinaus, daß man Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle hineinschmuggelt, sondern daß man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, daß man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht ‚madig macht‘, sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert, daß man auf alle pfäffischen Kniffe verzichtet und nicht in Psychotherapie oder Existenzphilosophie einen Wegbereiter Gottes sieht. Dem Wort Gottes ist die Zudringlichkeit aller dieser Menschen viel zu unaristokratisch, um sich mit ihnen zu verbünden. Es verbündet sich nicht mit dem Aufruhr des Mißtrauens, dem Aufruhr von unten. Sondern es regiert.“5
Symbolgeschichten aus dem Kino können Sünde nicht verdeutlichen
Auf seiner Reise möchte Dietz auch auf die „Bilder und Gleichnisse der Bibel“ hören, weil es im Christentum „diese Idee (gibt), dass uns hier dennoch ein Blick wie von außen auf unsere menschliche Situation begegnet. Diese Geschichten und Bilder funktionieren wie eine Brille, die bisher Unsichtbares sichtbar macht“ (24). Statt an erster Stelle auf die klaren Aussagen über den Menschen, die Sünde und das Sündersein in der Bibel zu hören, soll sie ohne Autorität als eine Brillensammlung dienen, aus der sich der Mensch selbst bedient, um damit nach seinem Willen Erfahrungen zu deuten. Die Bibel erscheint Dietz nicht ausreichend, um eine Lehre zu entfalten, die doch nur in ihr offenbart ist. Denn das Christentum solle Bescheidenheit zeigen: „Es wäre ein unsinniger Anspruch, heute allein im Rückgriff auf die eigenen Geschichten [aus der Bibel] der Welt sagen zu wollen, was wirklich Sünde ist“ (25). Darum will Dietz aus einem Zweiklang aus Bildern aus der Bibel und Geschichten aus dem modernen Kino Sünde erklären. Er hält beides für unverzichtbar. Dabei soll das Kino mehr die „Erfahrungen unserer Zeit“ liefern und die Bibel mehr die „Außenperspektive“ bieten, weil „diese Texte von einem Transzendenzeinbruch herrühren, einer Begegnung mit Gott, einer Offenbarung“ (26).
Die Traumfabrik Hollywood spiegelt kaum die menschliche Erfahrung wider. Das kann die Bibel besser.
Damit verneint Dietz bewusst das Vorgehen christlicher Verkündigung. Gemäß dem hätte man in der Bibel aufgesucht, was Sünde wirklich ist und dann – durchaus unter Nutzung von Erfahrungen oder Geschichten der jeweiligen Zeit – dem Zeitgenossen Gottes Botschaft so nah wie möglich am jeweiligen Verständnishorizont verkündet. Dann aber hätten Kinofilme die Rolle der Illustration, nicht aber eines zweiten „Bezugspunktes“. Nun spiegeln die Filme der Traumfabrik Hollywood gerade nicht die Erfahrungswelt der Menschen. Sie bieten Heldengeschichten jenseits allen Alltags und lassen den Kinobesucher für zwei Stunden in eine andere Welt eintauchen, in dem er sich mit einem der Helden identifiziert. Dietz benutzt die Filme dann auch nicht, um die Rede von der Sünde in der Erfahrung zu erden, sondern als moderne Symbolgeschichten. Die Bibelgeschichten hält er zugleich für alte Symbolgeschichten. „Wer die Texte [Schöpfung und Sündenfall] nicht symbolisch liest, der verfehlt ihren Sinn“ (105).6 Neue und alte Geschichten zusammen sollen Sünde erklären.
Ich kenne die meisten Filme, die Dietz zitiert, und ich bin auch immer wieder fasziniert von der Suche nach Sinn und Wahrheit, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Andererseits bin ich über die Antworten, die die Filme geben, auch regelmäßig frustriert, und das umso mehr, je näher sie an christlichen Antworten vorbeizielen. Da liegt meines Erachtens auch die größte Gefahr zur Verwechslung. Dass Dietz‘ Vorgehensweise irreführende Konsequenzen haben kann, zeigt sich m. E. am folgenreichsten, wenn er Erlösung aus dem zweiten Teil von „Herr der Ringe“ erklärt und sie am Ende darin liegen soll, dass es eine Hoffnung auf einen „neuen Tag“ gibt, an dem „die Sonne heller scheint“, und wir daran glauben, dass es „etwas Gutes in dieser Welt“ gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt (209-210). Die christliche Hoffnung ist aber etwas anderes: Sie ist das Warten darauf, dass die völlige Erlösung durch Christus, die wir im Glauben schon haben, auch für jeden offenbar wird.
(K)ein Blick auf die Geschichte
Bevor aber Thorsten Dietz von seinen Kinoerfahrungen berichtet, will er eine „Geschichte der Sünde“ entfalten (29-47) und meint, dabei fünf „wesentliche Grundformen“ benennen zu können, wie Sünde verstanden wurde, nämlich „als Schuld, Misstrauen, Maßlosigkeit, Verführung und Zielverfehlung“. Er hält diese Verständnismöglichkeiten für unverzichtbar, aber meint, dass sie für heute ergänzt werden müssten, was dann in den weiteren Kapiteln geschieht. Obwohl Dietz einzelne Zitate aus der Kirchengeschichte bringt, kann man seine Entfaltung sicher keine Geschichte der Sünde nennen, obwohl die hilfreich hätte sein können. Das ist Dietz aber auch nicht so wichtig, weil er nur zeigen will, dass in der Tradition vorhandene Beschreibungen der Sünde unzureichend sind. Hier hätte ein genauerer Blick übrigens zeigen können, dass wie in der Bibel auch in der Christenheit gerade die Beschreibung der Sünde aus unterschiedlichen Perspektiven als notwendig und hilfreich angesehen wurde. Die von Dietz genannten Begriffe haben sich auch nicht einfach zeitlich abgelöst, sondern standen immer nebeneinander und haben sich ergänzt.
Nun hält Dietz das Reden von der Sünde als Schuld für unbestreitbar richtig. Aber das scheint nicht ohne das Reden von Gottes Geboten auszukommen und das sei unzeitgemäß, weil Teile davon Allgemeingut – etwa in den Menschenrechten – geworden sind, ein anderer Teil sehr kompliziert ist und dann jeweils „eine gründliche Erörterung der jeweiligen Situation und der grundlegenden biblischen Normen und Maßstäbe erfordern würden“ (33). Dietz wird nicht konkret, aber man kann sich vorstellen, dass er daran denkt, dass es auch unter Christen keine eindeutige Haltung zu vielen sexualethischen Fragen oder zu Ehe und Familie gibt. Wo es aber eine gibt, führe das auch nur zu Kampf und gegenseitiger Ausgrenzung. Deswegen wird das „unverzichtbare“ Thema Schuld kurzerhand abgehakt.
Sünde als Misstrauen und Unglaube zu beschreiben, wie es vor allem die Reformatoren taten, erscheint Dietz ebenso irreführend. Neben dem Problem, dass das heute nicht verständlich zu machen sei, sieht er das größere Problem darin, dass daraus hervorgehen müsste, dass die Gläubigen, also die Christen, die besseren Menschen sind und alle Atheisten verdorben und boshaft, was offensichtlich nicht stimme. Beide Einwände halte ich nicht für zwingend.
Nicht ganz so leichtfüßig geht Dietz mit der Maßlosigkeit um, einer Benennung, die er aus Augustins Sündenlehre ableitet. Das liegt wohl daran, dass Augustin seit einiger Zeit in der theologischen Diskussion und darüber hinaus wieder mehr Beachtung findet. Dietz kann dem Begriff der menschlichen Begierde, die sich auf die falschen Dinge richtet, offenbar auch einiges abgewinnen, stellt ihn aber schließlich an die Seite, weil Augustin mit der Verbreitung der Sünde über die sexuelle Fortpflanzung seine Sündenlehre zu einem „düsteren Mirakel“ gemacht habe. Außerdem betone ein Sündenkatalog wie der der sieben Todsünden „vor allem das Verbotene“. Die „Verfehlung der Liebe“ als zentralem Thema werde so verdeckt.
Mit der Entfaltung der Sünde als Verführung möchte Dietz unterstreichen, dass der Mensch nicht nur Täter der Sünde ist, sondern auch ihr Opfer und ein Verführter. Er betont, dass es nicht darum gehe, den Ursprung des Bösen zu beantworten. Wortreich versucht er, die Bedeutung der Sündenfallgeschichte aus 1Mose 3 herunterzureden. Er will aufzeigen, dass der Mensch ein in Sünde Verstrickter ist.
„Der Begriff der Sünde steht für eine große Verstrickung. Es kann uns helfen, uns nicht von einseitigen Schuldvorwürfen oder unbedingten Entlastungswünschen bestimmen zu lassen“ (45).
Mit der Sünde als Zielverfehlung meint Dietz mit Teilen der modernen Theologie7 , dass der Mensch nicht das erreicht oder tut, wozu er von Gott eigentlich bestimmt ist. Das Leben ist falsch ausgerichtet und in der Begegnung mit Christus werde die verkehrte Richtung offenbar (so ist Dietz‘ Auslegung von Joh 16,9). Diese Sicht scheint ihm übrigens nicht zu kurz gegriffen, jedenfalls sagt er nichts dazu, vielmehr nimmt er sie im Kapitel „Träge“ wieder auf.
Gerade die Vielfalt der biblischen Rede von Sünde als Schuld, Misstrauen, Begierde und anderem gibt uns einen Zugang zum Kern, der Feindschaft gegen Gott.
Das also ist die Folie, auf der Thorsten Dietz nun seine Sündenlehre auszeichnet, indem er mit sieben Adjektiven sieben Sünden oder sieben Erscheinungsweisen von Sünde oder Sündhaftigkeit liefert. Blind, hart, süchtig, selbstlos, reich, sicher, träge sollen offenbar das leisten, was Schuld, Misstrauen, Maßlosigkeit, Verführung oder Zielverfehlung nicht oder nicht mehr ausreichend leisten können, nämlich zu sagen, „was heute den Menschen von Gott trennt“.
Wenn Dietz dann mit teilweise guter Exegese z.B. die Sünde der menschlichen Blindheit darlegt, fragt man sich, warum vorher die Sünde als Schuld oder Misstrauen leichthin beiseite gestellt wurde. Die Antwort gibt wohl eine Bemerkung in den Fußnoten. Sünde gerate „mehr oder weniger in Vergessenheit“, wenn sie nicht „fundamentalanthropologisch“, nämlich „im Kontext gegenwärtiger Erfahrung“ erhellt werde (213). Sagt Gott in seinem Wort, dass wir Sünder sind, und hält uns seine Gebote als Spiegel vor die Augen und fordert sogar denjenigen, der meint, alle Gebote gehalten zu haben, zur kompromisslosen Nachfolge Jesu auf (Mk 10,17-22), warum muss das scheitern? Wenn der Mensch aber auf seine aktuelle Erfahrung verwiesen werde, dann wird alles besser? Dietz scheint mir zu wenig wahrzunehmen, dass man den Menschen wohl auf die Folgen seiner Sünde und Symptome seiner Sündhaftigkeit aufmerksam machen kann, was die Bibel auch reichlich tut. Sie spricht dabei erstaunlich allgemeingültig und bis heute aktuell. Aber die Sünde selbst ist keine menschliche Erfahrung, sondern letztlich ein Urteil Gottes über den Zustand des Menschen. Kierkegaard hat das ganz treffend herausgestellt:
Die Sünde ist keine menschliche Erfahrung, sondern das Urteil Gottes über den Zustand des Menschen.
„Kein Mensch vermag aus eignem Vermögen und von sich selber her auszusagen, was Sünde ist, eben deshalb, weil er in der Sünde ist; alles Reden von der Sünde ist im Grunde Beschönigung der Sünde, eine Entschuldigung, eine sündige Abmilderung. Darum hebt das Christentum auch auf andere Art an, damit, daß eine Offenbarung von Gott her dazu gehöre, um den Menschen darüber aufzuklären, was Sünde ist: die Sünde liege ja doch nicht darin, daß der Mensch das Rechte nicht verstanden habe, sondern darin, daß er es nicht verstehen will, und daß er das Rechte nicht will” (Kierkegaard, Krankheit zum Tode, 94).
Wenn man sich fragt, wie denn Christus „zur Sünde gemacht wurde“ (2Kor 5,21), dann kann die Antwort nur lauten: Indem er den Zorn Gottes trug und das Urteil Gottes über die Sünde und den Sünder am Kreuz auf sich nahm. Jesus wurde Sünde durch das Urteil Gottes und nicht durch eine eigene Tat, weil er selbst „von keiner Sünde wusste“. Aber auch der, der von Sünde weiß, wird letztlich von Gott zum Sünder gemacht, weil Gott dieses Urteil ergehen lässt. Der Mensch kann sich selbst dieses Urteil nur sprechen, indem er in Gottes vorlaufendes Urteil einstimmt.
Sünde wird moralisch
Was allerdings Thorsten Dietz dann mit den von ihm gewählten Adjektiven im Einzelnen beschreibt, ist vielfach eine hilfreiche Veranschaulichung der unterschiedlichen Symptome, die die Sünde hervorbringt. Viele Beobachtungen, die aus der Bibel entfaltet werden und deren „Erfahrungswirklichkeit“ dann anhand von Filmen wie StarWars, Herr der Ringe, Tribute von Panem, Matrix, American Beauty usw. aufgezeigt werden, sind in dieser Hinsicht erhellend. Was aber eigentlich Sünde ist, wie sie in dem Bekenntnis Davids vor Gott zum Ausdruck kommt (Psalm 51,6): „An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.“, das verdunkelt sich eher. Denn das Bekenntnis Davids sieht in menschlichen Augen empörend von dem Unheil ab, dass David durch die Zerstörung einer Ehe und den Mord an einem seiner Offiziere angerichtet hat. Alle Sünde ist Sünde gegen Gott. Das wird durch menschliche Erfahrung sogar verdeckt. Sündenerkenntnis ist darum wesentlich Zustimmung zu Gottes Urteil und keine Leistung eigener Vernunft. Man kann über Davids Blindheit und über seine Sucht sprechen, die ihn verführt hat, aber würde das Eigentliche übergehen, wenn Gottes Anspruch an David, seine Berufung, die David zusammen mit Gottes Ehre beschädigt, und wie er sich damit direkt gegen Gott wendet, übersehen würde.
Deswegen müssen die schönen neun Kapitel auch letztlich alle in einer Moralisierung der Sünde enden, die Dietz doch eigentlich als eines der großen Probleme und Fehler der Christenheit benannt hatte. „Blind“ zielt auf eine Verunsicherung jeder menschlichen Sicherheit. Man könnte blind sein für das Eigentliche, gerade wenn man meint, richtig zu sehen. Darum solle man „mit dem Satz leben“: „Öffne mir die Augen, dass ich sehe“ (68). „Hart“ endet mit der Aufforderung, bereit zu sein, sich innerlich berühren zu lassen (89). „Süchtig“ mündet hinein in die Forderung zu einer Begegnung ohne Masken, in ehrlicher Offenheit zuzugeben, was einen bindet (109). „Selbstlos“ führt zu der Notwendigkeit, seine Selbstwerdung zu bejahen und dabei die von Gott gegebenen Rahmenbedingungen anzunehmen (129). „Reich“ zielt auf die Forderung, die Augen für die Not der anderen zu öffnen und Schmerz darüber zu empfinden, wenn man sie nicht ändern kann. „Sicher“ ist eine Warnung vor Selbstsicherheit, die in Fundamentalismus enden kann. Stattdessen soll gelten: „Wir können keine maximal eindeutige Position behaupten, keinen Standpunkt verteidigen, es ist vielmehr ein Weg, den wir gehen wollen. Auch wir wollen die Wahrheit bezeugen, aber wir können diese dabei nicht besitzen“ (167). Deswegen solle man allem und jedem gegenüber offenbleiben, moderne Toleranz eben. „Träge“ fordert schließlich, sein Leben nicht dadurch zu „verpfuschen“, dass Menschen „die eigenen Möglichkeiten nicht entdecken, ihre Gaben nicht entfalten und einsetzen“ (190). In einen Moralismus kann man eben auch verfallen, wenn man sich von Sexualethik fernhält, biblische Gebote auslässt und nur ja nicht von einem richtenden Gott sprechen will. Dietz‘ Moral fordert eine mystische Offenheit für ein Berührtwerden von irgendwoher (er meint, es sei Gott), eine Offenheit gegenüber der Not und den vielfältigen Meinungen und ein aktives Ausleben der eigenen Möglichkeiten.
Man kann ohne Moral offenbar nicht von Sünde reden. Dann aber nimmt man am besten die biblischen Moralordnungen.
Man kann in dieser Wende zum Moralismus auch etwas Positives sehen. Es wäre nämlich ein erheblicher Erkenntnisgewinn, wenn man anerkennt, dass die Vermeidung von Moralisierung, die heute zum Standardprogramm jedes Theologen gehört, der über Sünde spricht, nicht zu verwirklichen ist. In der Regel wird nur die eine Moralisierung durch eine andere ersetzt. Das liegt meines Erachtens daran, dass man von Sünde offenbar nicht ohne ihre moralische Dimension reden kann. Selbst diejenigen, die behaupten, Sündigen sei notwendig, damit der Mensch überhaupt sein wahres Menschsein erreiche, wollen die Sünde dann doch irgendwie begrenzen und müssen dazu moralische Forderungen an den Menschen stellen. Man kann der Moral nicht entkommen und darum stellt sich eher die Frage, welche Moral bestimmen soll. Sollen es Maßstäbe sein, die sich direkt aus den Geboten und Verboten der Bibel ableiten oder soll ich danach fragen, wie groß mein „ökologischer Fußabdruck“ ist oder ob die Waren, die ich einkaufe, aus „fairem Welthandel“ stammen (151)? Oder muss ich biblische und zeitgeistige Moralforderungen erfüllen? Es erscheint mir eher ein Symptom einer falschen Moralisierung, wenn über die moralische Dimension der Sünde nicht offen gesprochen wird, sondern unter der Hand jeder seine eigenen moralischen Forderungen einführt. Dabei aber wird sich allzu leicht einstellen, was Jesus schon bei den Pharisäern beklagte: Sie sieben die Mücken aus und verschlucken die Kamele (Mt 23,24). Sowohl die Verneinung als auch die Überhöhung der Moral führt zu einer Verzerrung des biblischen Sündenverständnisses.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Thorsten Dietz genau das gut gelingt, was er zu einem Grundproblem erklärt hatte, das dazu geführt habe, dass das Wort Sünde „verbrannt“ sei. Er kann den Mahatma Gandhis, Mutter Teresas und den anderen guten Menschen nahebringen, dass auch sie von der allgemeinen Verstrickung in das Böse nicht frei sind. Dietz nennt das eine „Annäherung an das Thema Sünde“. Die guten Menschen sind also auch wenigstens ein bisschen böse. Mich hat diese Attitüde genauso wie Bonhoeffer und Dietz immer gestört. Aber nun macht er das sehr gut, was er unbedingt vermeiden wollte. Seine „Lösung“ für das Sündenproblem mündet in einen sanften, – um nicht zu sagen – harmlosen, irgendwie sympathischen Moralismus: Sei offen für alles, also auch für das Christentum und für eine ‚Berührung‘ Gottes! Sei hilfsbereit gegenüber Hilfsbedürftigen! Lebe deine Möglichkeiten aus! Lass dich durch Jesus Christus zu einer Hoffnung inspirieren, dass es irgendwann einmal eine Überwindung des Bösen geben kann!
Vielleicht sind die oben zitierten enttäuschenden Schlusssätze des Buches, in denen sich Thorsten Dietz in eine irrationale Hoffnung auf bessere Tage flüchtet, auch so etwas wie ein Eingeständnis, dass er seinen eigenen Anspruch an das Thema Sünde nicht erfüllen konnte. Es klappt nicht, ohne dass man guten Menschen sagt, dass sie irgendwie böse sind. Die Sünde selbst kann auch nicht durch die Traumfabrik Hollywood überzeugend in der Erfahrungswelt der Zeitgenossen erwiesen werden. Alles Gehaltvolle über Sünde hat Dietz aus der Bibel. Es funktioniert nicht, die Moral aus dem Spiel zu lassen. Und wenn man sich für eine möglichst milde Moralisierung entscheidet, dann wird nicht nur Sünde verharmlost und das Evangelium überflüssig. Es trifft dann mit Wucht die Kritik aus dem Mund von Navid Kermani, die Dietz selbst zitiert:
„Dieses protestantische Christentum […] mag ja sympathisch sein, aber es lässt mich kalt. Es kommt mir oft wie eine Doppelung dessen vor, was uns der gesunde Menschenverstand ohnehin sagt“ (19).
Was zum Reden über Sünde notwendig ist
Wer aus biblisch-theologischer Perspektive über Sünde sprechen will, kommt offenbar nicht daran vorbei, das Verhältnis Gott und Mensch in die Mitte zu stellen. Es reicht nicht aus, die Folgen der Sünde zu beklagen. Wenn es um Sünde geht, dann tritt Gott als der Richter ins Blickfeld, der den Menschen mit seinem Urteil zum Sünder macht und seine Gedanken, Worte und Taten als Sünde entlarvt, nämlich als gegen Gott getan, selbst wenn sie fromm sind und gut erscheinen.
Man kommt also nicht darum herum, den Aspekt zu bearbeiten, dass Sünde für den Menschen natürlicherweise nicht erkennbar ist. Wir sind auf Offenbarung angewiesen. Schon der Anspruch, Sünde ohne die biblische Offenbarung plausibel machen zu wollen, führt unweigerlich zu dem Dilemma, dass damit der Mensch sein eigener Richter bleibt, dessen Urteilsvermögen entweder nicht durch die Sünde korrumpiert zu sein scheint, oder aber doch fit gemacht werden kann.
Christen wollen nicht über Sünde reden, ohne zu verkünden, dass Gottes Urteil über die Sünden seinen Sohn am Kreuz getroffen hat, damit wir frei werden.
Offenbar ist es auch nicht möglich, von Sünde zu sprechen, ohne moralische Gebote und Verbote ins Spiel zu bringen. Gott hat den Menschen nicht nur die Folgen seiner Sünde spüren lassen, er hat ihn auch mit Geboten angesprochen, um ihm einen Spiegel seiner Verlorenheit vor die Augen zu halten. Dass es dann kein Weg sein kann, die Gebote der Bibel an die Seite zu stellen, um eigene „moderne“ Moral aufzurichten, folgt daraus.
Nicht zuletzt können Christen nicht über Sünde reden, ohne zu verkündigen, dass Gottes Urteil über die Sünde seinen Sohn Jesus Christus am Kreuz in voller Härte getroffen hat. Nur das bringt Freiheit von Sünde, wenn auch noch nicht von allen Sündenfolgen, wenn wir glauben, dass dieses Sterben unsere Rettung ist. Wie es uns die Freiheit von der Sünde bringt, ist das Werk Christi aber auch für das Erkennen der Sünde notwendig. Wie das für Luthers Sicht auf Sünde entscheidend war, beschreibt H.-J. Iwand treffend:
„Der Weg, den Luther beschreitet, kann darum theologisch genannt werden, weil Luther nicht von dem Zustand in der Psyche des Menschen ausgeht, von dem Widerspruch zwischen Geist und Natur, Sollen und Sein, sondern weil er den Menschen im Spiegel des Wortes Gottes sich selbst zu Gesicht bringt. Luther meint, daß uns Gott mit der Menschwerdung des Sohnes, mit seinem Kreuz und Leiden auch einen Spiegel vorhält, aber einen Spiegel, in dem wir erkennen, wie Gott die Lage des Menschen sieht, mag der Mensch selbst sie auch ganz anders sehen. Hier urteilt nicht der Mensch über sich, sondern hier wird er in Kenntnis gesetzt von Gottes Urteil über ihn” (Glaubensgerechtigkeit, 17).
Alles andere führt zu einer Verharmlosung von Sünde, die am Ende auch die Botschaft vom Kreuz, an dem Christus für unsere Sünden sterben musste, unnötig erscheinen lässt. Versuche, das Thema Sünde als christliche Botschaft zu retten, ohne diese Grundvoraussetzungen zu beachten, führen unweigerlich dazu, dass es weiter verdunkelt wird.
Hans-Joachim Iwand. Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre. München: Evang. Verl. A. Lempp, 1941: 18-19. ↩
Die Bezeichnung für die Sünde hat sich seit Søren Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode: der Hohepriester, der Zöllner, die Sünderin“. (Düsseldorf: Diederichs, 1957; Original 1849) verbreitet. ↩
Es erscheint vielen so selbstverständlich, dass die Probleme mit dem Sündenbegriff modern sind, dass sie sich selten die Mühe machen, danach zu fragen, wie es denn früher war. Josef Pieper hat eindrücklich gezeigt, dass sich das aber genauso für das antike Rom nachweisen lässt und schon für den Römer „Sünde“ „in die Museumssphäre“ gehörte und wie heute ironisch für erotische Abenteuer benutzt wurde (Über den Begriff der Sünde, München 1977: 11-26). ↩
Dazu schließt sich Dietz einem Satz Bonhoeffers an (Nur schrieb der aus dem Gestapo-Gefängnis und wusste, dass seine Briefe zensiert werden.): „In den überlieferten Worten und Handlungen [Jesu Christi] ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können“ (S. 22). ↩
Widerstand und Ergebung. Kaiser, 1951: S. 174; Auch Bonhoeffers Ethik, die bis zu seinem Tod nur fragmentarisch fertig wurde, lässt erahnen, dass er seine Aussagen nicht so wie Dietz auf die theologische Frage nach Sünde und Schuld beziehen wollte. „Umkehr gibt es nur auf dem Wege der Erkenntnis der Schuld an Christus. Nicht Verfehlungen und Verirrungen hier und dort, Übertretungen eines abstrakten Gesetzes, sondern der Abfall von Christus […] muss als Schuld erkannt werden. […] Schulderkenntnis gibt es nur aufgrund der Gnade Christi […] Der Ort, an dem diese Schulderkenntnis wirklich wird, ist die Kirche. […] Wo es anders wäre, wäre die Kirche nicht mehr Kirche.“ Ethik. 7. Aufl. München: Kaiser, 1981. S. 117-118. Ich halte es für sinnvoll, die Aussagen Bonhoeffers im Hinblick auf die apologetische Aufgabe der Kirche zu deuten. Sie soll sich im Gespräch mit den Nichtglaubenden weder auf das Vorhandensein von christlichen Grundbegriffen stützen noch irgendwelche Hintertüren suchen, zu denen dann allerdings auch das Aufspüren der Sünde in der Sinnsuche der Traumfabrik Hollywood gehören würde. ↩
Bei diesem Urteil über Generationen von einfachen Bibellesern und studierten Theologen stockt einem der Atem. Es gehört schon ein rechtes hohes Denken über die eigene Zunft dazu, zu behaupten, dass der Sinn der Urgeschichte von allen verfehlt wurde und nur durch den historisch-kritischen Ansatz erfasst werden kann. Dietz scheint dabei entgangen zu sein, was der Wegfall eines historischen Urstandes und Sündenfalls für die Sündenlehre bedeutet. Handelt es sich nur um symbolische Geschichten, dann hat das zur Folge, dass Sünde und Tod von Anfang zur Schöpfung gehören. Gott wäre am Anfang nicht der gute Vater seiner Schöpfung, sondern eher der Demiurg. In der Bibel ist immer Gottes Güte der Ausgangspunkt, an dem sich der Mensch gegen Gott entscheidet. Ohne ein historisches Verständnis entfällt das. Die Sünde der Abwendung von Gott erscheint dann weniger verwerflich. Denn der Mensch würde zum Wesen, das sein volles Menschsein erst noch verwirklichen müsste. Seine Würde und Bestimmung hätte er nicht mehr durch Gottes Handeln ohne Bedingung erhalten, sondern sie würde abhängig von der Verwirklichung eines Lebensziels. Er wäre nur noch zum Guten erschaffen. Statt dann die Begrenzung des Menschen im Sinne der Bibel als etwas von Gott gegebenes Gutes anzusehen, soll der Mensch sich im Sinne der Evolution über seine Grenzen hinaus weiterentwickeln. Was die Bibel als Sünde ansieht, wird so zur Bestimmung. ↩
Wegweisend ist hier die Sündenlehre von Wolfhart Pannenberg geworden, der den Menschen zur Bezogenheit auf Gott bestimmt sieht und die Sünde darin, dass er diese zu wenig auslebt. ↩