ThemenEhe und Familie

Null Bock zum Lernen – der sündhafte Mensch und das Lernen

Was die Schulschwierigkeiten meines Kindes mit Eltern, Lehrern und Umgebung zu tun haben. Einsichten über das Naheliegende hinaus.

Ein ganz normaler 15-jähriger

Jonas1 ist 15 Jahre alt, eher klein gewachsen und gut aussehend. Seine Eltern haben sich auseinander gelebt, sind aber noch zusammen. Die Hauptansprechperson ist die Mutter. Jonas ist ein sportlicher Typ, er mochte Bewegung, das zumindest bis er 12 Jahre alt war. Schulisch behauptete er sich im vorderen Mittelfeld. Er war nicht übermäßig interessiert an den Inhalten; es gelang ihm aber ohne große Anstrengung mitzuhalten.

Dann trat Conrad in sein Leben. Er hängte das Fuß­ballspiel an den Nagel, das Fahrrad blieb fortan im Keller. Mit dem Wechsel in die Oberstufe verschlechterten sich seine Noten. Mit dem Lehrer kam er nicht klar, und er wurde in einigen Fächern abgestuft. Seine Mutter machte sich große Sorgen um ihn. Sie suchte das Gespräch mit dem Lehrer, stieß aber auf wenig Verständnis. Sie versuchte ihrem Sohn Grenzen zu setzen, doch Jonas kümmerte das nicht. Nach der Abstufung wechselte Jonas auf eine Privatschule. Der neue Lehrer war sehr fürsorglich, er ging auf Jonas ein. Zunächst besserten sich die schulischen Leistungen. Jonas pflegte aber nach wie vor Kontakt zu Conrad, und zudem war er neuerdings mit einer kleinen Clique seiner Klasse oft unterwegs. Lernen bedeutete ihm nichts, mit Mühe und Not schaffte er es auf einen genügenden Notendurchschnitt. Die Mutter schwankte zwischen Resignation, Verzweiflung und Wut. Es kam immer wieder zu lauten Auseinandersetzungen mit Jonas.

Ich werde in diesem Aufsatz aufzeigen, inwiefern das Thema „Sünde“ mit Jonas, seiner Mutter, seinem Lehrer und seinem Umfeld in der Privatschule zu tun hat. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass die Wiedereinführung der „Ursprungssünde“ (die Definition folgt unten) zum Schlüssel für eine erneuerte Perspektive und damit für ein alternatives Bewältigungsszenario werden kann. Dabei bin ich mir bewusst, dass weder Eltern noch Lehrer sich gerne von Außenstehenden belehren lassen. Was wissen Fach- und Artfremde schon, was der tägliche Kampf mit pubertierenden Jungen an Nerven abverlangen kann? Ich bitte deshalb um Nachsicht. Ich habe beruflich sehr viel mit erwachsenen Lernenden zu tun, die auf dieses Alter zurückblicken (oder selber Nachwuchs in diesem Alter haben). Wenn ich mit diesen Menschen über Situationen, wie ich sie oben beschrieben habe, spreche, merke ich, wie die Spannung und Energie ansteigen. Deshalb bitte ich Sie: Bleiben Sie dran!

Irritation: Was um alles in der Welt hat die
Ursprungssünde mit „Null Bock zum Lernen“ zu tun?

Unsere Gesellschaft hat den Begriff „Sünde“ zwar nicht aus dem Vokabular, aber aus den Denkkonzepten verbannt. Abgesehen vom abgeleiteten Wortgebrauch eines „sündhaft teuren Geschenks“ oder einer „süßen Versuchung“ sprechen wir heute von „Fehler“, nicht jedoch von „Sünde“. Wenn wir das Wort aber aussprechen, ist damit gleich die Entschuldbarkeit verknüpft, denn gut und förderlich ist ja eine „Fehlerkultur“. Mit Sünde verbinden wir immer eine Tat und kein Sein.2 Es geht um Verhalten, nicht um einen Zustand. Und genau an dieser Stelle setzen meine Überlegungen ein.

Ich verwende anstelle von „Erbsünde“ konsequent den Ausdruck „Ursprungssünde”. Dies weist einerseits auf den Ursprung der Menschheit und andererseits auf die Quelle der Tatsünden zurück.3 Gestatten Sie mir hier noch ein Wort zur Frage: Wie ernst nehmen Sie die Geschichte des Sündenfalls und den historischen Adam? Meinem Denk- und Deutungsrahmen liegt die Annahme zugrunde, dass diese Dokumente zuverlässige historische Berichte sind. Sie sind uns auf übernatürliche Weise durch Gott, den persönlich-unendlichen Schöpfer dieses Universums, in der Bibel mitgeteilt worden. Wenn ich also von Ursprungssünde spreche, meine ich die Verderbnis, die durch Adam das ganze Menschengeschlecht betroffen hat.

Ich betrachte das Thema der Ursprungssünde in Anwendung auf das Thema des Lernens. Gerade in diesem Umfeld ist sie immer wieder scharf kritisiert, ja geradezu als Wendepunkt der Pädagogik hingestellt worden. Ein Beispiel: Der humanistische Psychologe Carl Rogers, der Generationen von Lehrern und Sozialarbeitern direkt oder indirekt geprägt hat – selbst Kind von gläubigen Eltern –, erklärte, dass das Konzept der menschlichen Verdorbenheit Ursache dafür war, dass er dem Glauben den Rücken zugewandt hatte:

Religion, vor allem die protestantische christliche Tradition, hat unsere Kultur mit der Grundansicht durchdrungen, dass der Mensch im Wesen sündhaft ist.4

Rogers ging davon aus, dass der Mensch einen Kern bei sich entdecken würde, der andere weder belohnen noch bestrafen wollte, ein Selbst ohne Hass, ein Selbst, das zutiefst sozialisiert war.5 Diese Sichtweise ist im Hinblick auf Erziehung und Ausbildung verbreitet:

Es gibt Tausende von Menschen, die uneingeschränkt an die natürliche Güte der Menschheit glauben und in dieser Annahme ihre Kinder erziehen sowie ihre optimistischen Erwartungen für ihre Zukunft darauf bauen.6

Generationen von Eltern und Lehrkräften gehen in ihren Denk­voraus­setzungen vom „Guten im Kind“ aus. Sie bemühen sich nach Kräften, dem Kind ein gutes Umfeld zu bieten, um dem Kind den Lern­erfolg zu ermöglichen. Mit zunehmendem Alter und Lebenserfahrung wird diese Denkweise jedoch bei vielen Menschen erschüttert, denn sie erleben (zumindest teilweise) den Widerspruch zum eigenen Erleben.

Die moderne Pädagogik beginnt mit Pelagius

Den maßgeblichen Anstoß zur Verbindung von Ursprungs­sünde und Lernen erhielt ich nicht aus einem theologischen Werk oder gar aus einem Erziehungsratgeber, sondern aus einem erziehungswissenschaftlichen Werk.7 Die Autoren legen den Ursprung der modernen Pädagogik nicht, wie man erwartet hätte, ins 18. Jahrhundert zu Rousseau oder Locke. Nein, sie verweisen zurück ins 5. Jahrhundert und sehen zwei einander widerstreitende Versionen christlicher Menschenbilder als Wasserscheide für die Entwicklung der Pädagogik an. Stein des Anstoßes in einem innerkirchlichen Konflikt war damals die Lehre der Ursprungssünde. Sie ist die Saat, die erst viel später in der Aufklärung aufgegangen und heute integraler Bestandteil der gängigen Lernkonzepte ist.

Wenden wir uns dem Streit zwischen dem nordafrikanischen Bischof von Hippo, Augustinus, und dem Mönch Pelagius zu. Eine genaue Aufarbeitung der historischen Umstände würde zu weit führen.8 Wir beschränken uns darauf, die inhaltlichen Kernargumente herauszuschälen.

Die Argumente von Pelagius

Augustinus hat eine ausgedehnte Korrespondenz über den Konflikt geführt, die uns heute erhalten ist. Von Pelagius ist uns indirekt durch die Schriften von Augustinus einiges erhalten, zudem auch einzelne seiner Werke wie etwa sein berühmter Römerbriefkommentar. Der Theologe Warfield fasst gut zusammen, worum es Pelagius im Konflikt ging: Das zentrale und richtungsweisende Prinzip des Pelagianismus lag in der Annahme einer umfassenden Fähigkeit des Menschen, nicht nur seine eigene Erlösung, sondern auch seine Vervollkommnung selber zu bewerkstelligen. 9

Eine notwendige Voraussetzung für diesen Denkansatz ist die Abschaffung der Ursprungssünde. Pelagius und seine Anhänger mussten den Sündenfall und die daraus entstandenen Konsequenzen neu deuten, um den Widerspruch aufzulösen. Sie entwickelten vier Kernargumente:

  1. Das Argument der Nachahmung: Die Sünde Adams betraf nur ihn selbst und nicht das ganze Menschen­geschlecht. Seine Nachkommen haben jedoch seine Sünde nachgeahmt.
  2. Das Argument des freien Willens: Die Gnade Gottes besteht darin, dass der menschlichen Natur das Vermögen gegeben wird, sich aus eigenem Willen für das Gute und gegen das Böse zu entscheiden. Damit wird auch der Begriff der Gnade neu definiert: Gnade ist „Fähigkeit der gottgeschaffenen Natur, frei zu wollen“10 .
  3. Das Argument des sündlosen Lebens: Der erlöste Mensch ist in der Lage, sündlos zu leben.
  4. Das Argument der Gewöhnung: Wer sich aus freiem Willen dazu entschieden hat zu sündigen, wird mit der Zeit so geschwächt, dass er noch mehr Sünden begeht. „Stoff für die Sünde ist die Strafe, wenn der Sünder bis zu dem Grad geschwächt ist, dass er noch mehr Sünden begeht.“11 In Gewöhnung an das Laster wird der Mensch „von der Notwendigkeit zu sündigen gehalten“ und „ins Übel gestürzt“.12

Die Antwort von Augustinus

In dieser Sichtweise vom Menschen sah Augustinus eine große Gefahr lauern. Sie untergrabe die Verkündigung vom

Heil, wie sie in der Heiligen Schrift verankert sei. Augustinus stützt seinen Standpunkt vor allem auf den Römerbrief bzw. auf Aussagen von Paulus. Beim Lesen seiner Schriften habe ich die Belegstellen notiert und hier zusammen­­gestellt:

  1. Wie durch den ersten Adam die Sünde in die Welt gekommen ist (und wir alle gesündigt haben), so ist durch die Erlösungstat des zweiten Adam vielen das Heil zuteil geworden (Röm 5,12-21; 1Kor 15,21-22).
  2. Alle sind betroffen von der Sünde: „Keiner, der lebt, ist gerecht vor dir.“ (Ps 143,2). Die Furcht vor dem Gesetz führt zur Gnadenhilfe Christi, sie wirkt wie ein Erzieher (Gal 3,24). Das Gesetz an sich hat jedoch nicht die Kraft zu retten. Aus „Werken des Gesetzes“ kann „kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden“; denn „durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20). Deshalb waren wir von Natur Kinder des Zorns (Eph 2,3), und es ist Gottes Macht, die den Glauben verleiht (Joh 1,12f.). Niemand kommt zum Vater, wenn dieser ihn nicht gezogen hätte (Joh 6,44). Dieser göttlich verliehene Glaube wird dem Glaubenden zur Gerechtigkeit angerechnet (Röm 4,5).
  3. Wir können deshalb sagen: Was haben wir, was wir nicht empfangen hätten? (1Kor 4,7) Die Liebe Gottes ist durch den Geist, der uns verliehen ist, in unsere Herzen ausgegossen (Röm 5,5). Es gibt nur einen Mittler, der uns erlösen kann, der Mensch Jesus Christus (1Tim 2,5). Der Heilige Geist wirkt nun den Glauben, der in der Liebe wirkt (Gal 5,6). Getrennt von Jesus können wir nichts tun (Joh 15,5).
  4. Auch der Erlöste trägt noch einen inneren Zwiespalt in sich: Obwohl er durch den neuen Menschen Lust am Gesetz Gottes hat, vollbringt er nicht das, was er gutheißt, sondern das Böse (Römer 7,7-25). Das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber, so dass der Mensch nicht imstande ist, das zu tun, was er will (Gal 5,17). Wir alle verfehlen uns deshalb in vielen Dingen (Jak 3,2).
  5. Gott wirkt im Erlösten auch den Willen zum Guten: „Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen.“ (Phil 2,13) Wie er den Glauben gewirkt hat, stellt er auch die Bewährung sicher: „Euch ist es mit Rücksicht auf Christus gegeben worden, nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden.“ (Phil 1,29)
  6. Wenn die Gnade aus dem Gesetz kommen würde, wäre Christus umsonst gestorben (Gal 2,21). Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig (2Kor 3,6). Wer darum mit dem eigenen Willen die Gerechtigkeit Gottes aufrichten will, zerstört die Gnade (Röm 10,3; 11,6). Wer sagt, er sei ohne Sünde, der betrügt sich selbst (1Joh 1,8). Wie könnte er noch beten? „Vergib uns unsere Schuld!“ (Mt 6,12) Und – das ist das Schlimmste – durch die Überbewertung des menschlichen Vermögens wird das Kreuz Christi zunichte gemacht (1Kor 1,17).

Zwei gegensätzliche Lösungsskizzen

Gehen wir nach dieser kurzen Darstellung beider Standpunkte daran, diese in den Kontext des 15-jährigen Jonas und seiner Umgebung zu übersetzen. Zuerst denke ich über mögliche Bewältigungsszenarien unter Ausschluss der Ursprungssünde nach. Nachher überlege ich mir, wie sich diese Ansätze verändern, wenn ich die Ursprungssünde mit einschließe.

Lösungsskizze unter Ausschluss der Ursprungssünde

Der Reihe nach gehe ich verschiedene Ansätze zur Bewältigung aus Sicht des Lernenden, der Lehrpersonen und der Eltern durch. Angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten sei mir eine gewisse Schematisierung erlaubt.

Jonas hatte in den ersten sechs Schuljahren gelernt, dass er mit dem Motto „ich leiste das absolute Minimum“ den Anforderungen seiner Umgebung gerecht wird. Es reichte aus, um im vorderen Mittelfeld dabei zu sein. Eltern und Lehrer waren stets zufrieden mit ihm; seine sportliche Begabung brachte ihm Bewunderung innerhalb der Klasse ein. Seine Strategie ging auch in der Oberstufe anfänglich noch auf – bis zum Zeitpunkt, als Conrad in sein Leben eintrat. Conrad imponierte ihm, und er begann ihn nachzuahmen, um ihm zu gefallen. In der Schule war er oft übermüdet, Hausaufgaben erledigte er – wenn überhaupt – spätabends oder kurz vor dem Unterricht. Die Noten fielen innerhalb eines Semesters unter den genügenden Schnitt. Auf das Nachfragen des Lehrers reagiert Jonas kaum, zu Hause schiebt er die Schuld auf den Lehrer und die Klasse. Die Mutter stellt den Kontakt zur Privatschule her, und er wechselt die Klasse. Der neue Lehrer geht sehr auf ihn ein. Da in der Ganztagesschule fixe Zeiten für das Erledigen von Hausaufgaben eingeplant sind, lernt Jonas wieder vermehrt. Die alte Strategie scheint wieder aufzugehen. Er schließt sich jedoch einer Clique seiner Klasse an, und die Noten fallen erneut.

Nehmen wir folgenden weiteren Verlauf an: Er kämpft sich mehr schlecht als recht durch die drei Oberstufenjahre. Jonas besucht das 10. Schuljahr, und dank des gemeinsamen Efforts von Privatschule und Eltern erhält Jonas eine Lehrstelle als Elektriker. Im ersten Lehrjahr bleibt Jonas genügend, im zweiten sackt er ab. Er schmeißt die Lehre.

Wie erlebt die Mutter diese Zeit? Sie übernimmt vorwiegend die Betreuung von Jonas. Ohnmächtig beobachtet sie den Wandel durch den häufigen Umgang mit Conrad. Ihre innere Unruhe dringt nach außen in Form von Resignation („dann lasse ich ihn halt gewähren, er ist in einem schwierigen Alter“) oder Wut (Auseinandersetzungen am Sonntagabend). Die Ohnmachtsgefühle verschwinden wieder durch den Wechsel an die Privatschule. Leider schließt sich Jonas dieser Clique an und hangelt sich durch den Rest der Schulzeit. Groß ist die Enttäuschung, als Jonas keine Lehrstelle findet. Schließlich bleibt nur noch der Ausweg ins Orientierungsjahr. Die Mutter ist begeistert von den kooperativen Lehrern, die sich für eine Lehrstelle für ihr Kind einsetzen. Umso größer ist die Enttäuschung, als Jonas dann die Lehre abbricht.

Der Lehrer an der Oberstufe kämpft selbst ums Überleben. Er fühlt sich ausgebrannt und überläßt die Klasse sich selbst, sein Überleben steht im Vordergrund.

Wie erleben die Lehrpersonen den Umgang mit Jonas? Der Lehrer an der Oberstufe kämpft selbst ums Überleben. Er fühlt sich ausgebrannt und überlässt die Klasse sich selbst, sein Überleben steht im Vordergrund. Er zieht sich in sich zurück und ist während der Elterngespräche ab­wei­send. Der neue Lehrer an der Privatschule ist hingegen Idealist. Mit Begeisterung vermittelt er den Lehrstoff und akzeptiert die Schü­ler wie sie sind. Im ersten Jahr mit einer neuen Klasse läuft es hervorragend; doch mit der Zeit beginnen die Schüler ihn auszunützen. Seine Ohnmachts­gefühle verstärken sich gegen Ende der Schulzeit, und er ist froh, wenn er wieder eine neue Klasse übernehmen darf.

Nehmen wir eine übergeordnete Perspektive ein. Aus­bildung bzw. Lernen ist mit vielen Erwartungen aller Beteiligten verknüpft. Deshalb ist sie Projektionsfläche für Hoffnungen und Ent-Täuschungen bei Lernendem, Lehr­person und Eltern. Ich meine eine gewisse Regel­mäßigkeit in den Wahrnehmungen festzustellen:

  • Zuerst ist Optimismus vorhanden. Der Lernende (Jonas, der eigentlich vorderes Mittelfeld ist), der Lehrende (der sehr auf seinen Schüler eingeht) oder die Umgebung (die Privatschule, die fixe Zeiten für die Hausaufgaben einrichtet und in kleinen Klassen arbeitet) werden idealisiert.
  • Nach einer Zeit erleben Lernender, Lehrender oder Eltern Übereinstimmung oder Abweichung ihrer Erwartungen.
  • Die Reaktion hierauf fällt wiederum verschieden aus. Es lassen sich ambivalente Tendenzen ausmachen, ein Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus.

Fest steht, dass in jedem Fall eine Neudefinition der Ursprungssünde stattfinden muss. Es gelingt langfristig aber nicht, deren Existenz zu leugnen: Jonas, seine Mutter und seine Lehrpersonen kämpfen mit Unwegsamkeiten. Oftmals wird das Erklärungsschema mehrmals verändert: Erst ist die Lehrperson schuld, dann die Umgebung, schließlich das Kind oder dann die Eltern. Ich sehe folgende Tendenzen, die wechselweise auftreten können:

Kompensation der Ursprungs­sünde führt zu… oder zu…
Idealisierung des Lernenden Stolz Verzweiflung
Idealisierung des Lehrenden Allmacht Ohnmacht
Idealisierung der Umgebung Verherr­li­chung Verdammung

Das bringt uns zur Frage, wie durch die Anerkennung der Ursprungssünde Denken und Handeln von Eltern, Lernenden und Lehrpersonen verändert werden können.

Lösungsskizze unter Einbezug der Ursprungssünde

Wie aber kann die Ursprungssünde angemessen berücksichtigt werden? Welche Auswirkungen hat dies auf das Lernen? Der Heidelberger Katechismus (1563) entwirft in seiner zweiten Frage nicht nur die Struktur für alternative Bewältigungsszenarien. Er skizziert darüber hinaus einen angemessenen Rahmen eines biblischen Menschenbildes:

Frage: Welche Dinge musst du wissen, damit du in diesem Trost selig leben und sterben kannst?
Antwort: Drei Dinge 1. wie groß meine Sünde und mein Elend sind. 2. wie ich von allen meinen Sünden und meinem Elend erlöst werde. 3. wie ich Gott für diese Erlösung danken soll.

Ein biblisches Menschenbild berücksichtigt also: Sünde und Elend des Menschen, Erlösung und ein Leben in Dankbarkeit. Nach dieser Struktur gehe ich nun daran, bestehende Spannungsfelder anders zu deuten oder sie aufzulösen. Es geht um eine angemessene Diagnose, eine wirkungsvolle Lösung und stabilisierende Handlungen.

Angemessene Diagnose

Jonas ist von Gott mit „vorzüglichen Gaben“ ausgestattet worden. Er bewegt sich gerne, und er hat eine gute Auffassungsgabe. Er kann andere überzeugen und gewinnt schnell die Gunst einer Gruppe. Diese Gaben setzt er jedoch gerne zum eigenen Vorteil ein. So kann er sich über Jahre in der eigenen Komfortzone halten. Eltern und Lehrer lassen ihn gewähren. Durch den Umgang mit Conrad verändert sich sein Tagesablauf: Er vernachlässigt den Sport, schläft weniger, isst ungesund und raucht. Nicht nur entwickelt er seine Gaben nicht nach Kräften, sondern er verweigert das Lernen. Da er merkt, dass seine Leistungen nicht genügen, verliert er jedes Interesse am Schulstoff. Er entfremdet sich seiner Mutter. Ihren Signalen – Weinen, Drohen, Schimpfen – weicht er aus und zieht sich zurück. In der Privatschule geht seine Strategie wiederum auf. Er hangelt sich durch die letzten Schuljahre und bleibt weiter hinter seinen Fähigkeiten zurück. Erst der Abbruch der Lehrstelle bringt ihn dazu anzuerkennen, dass er gescheitert ist.

Der Lehrer an der Oberstufe war vor zwanzig Jahren optimistisch in den Schulunterricht gestartet. Er besuchte regelmäßig Weiterbildungen. Als er erste Rückschläge in der Klassenführung und in der Stoffvermittlung erlitt, änderte er erst seine Methoden und verstärkte seine Vorbereitung. Als dies nichts nützte, wechselte er das Schulhaus. Leider stellten sich dieselben Probleme auch am neuen Ort ein. Er ist ausgebrannt und hat den sehnlichen Wunsch, die Branche zu wechseln. Der andere Lehrer an der Privatschule hat sich seine eigene kleine Welt gebaut. Er lebt für die Schule, liebt den Unterrichtsstoff. Wenn er ehrlich ist, gibt es Momente, in denen er merkt, dass er mit seinem Latein am Ende ist und dass die älteren Oberstufenschüler mit ihm machen, was sie wollen. Doch er flüchtet sich in den nächsten Klassenzug.

Jonas ist der Stolz seiner Mutter. Seit seiner Geburt hat sich die Beziehung zu ihrem Mann stetig abgekühlt. Jonas ist ihr ein und alles. Im Alltag ist er ihr eigentlicher Ersatzpartner. Unmerklich hat sie angefangen, ihr Kind zu vergöttern. So beginnt sie, ihren Nachwuchs zu manipulieren, denn das Projekt Kind darf nicht misslingen. Die zunehmende Störung ihrer Utopie verdrängt sie, indem sie der Schule und insbesondere dem Lehrer die Schuld zuschiebt. Die Lösung erwartet sie von einer neuen Umgebung (der Privatschule). Auch das zehnte Schuljahr ist eine Verlän­ge­rung ihrer Illusion und ihrer Unfähigkeit, sich mit dem wirklichen Lernverlauf bei Jonas auseinander zu setzen. Erst als Jonas später die Lehre abbricht, gesteht sie sich ein: „Ich schaffe es nicht.“

Unser Herz ist unergründlich und sehr erfinderisch darin, uns selbst zu rechtfertigen oder anderen die Schuld zuzuschieben. Erst dieses Bewusstsein, das der Heilige Geist bewirkt, bringt uns überhaupt dazu, unseren Zustand richtig einzusehen und nach Rettung zu suchen. Es führt dazu,

  1. unsere Verzweiflung einzugestehen: Die Noten reichen nicht (Lernender), die neue Methode bewährt sich nicht in dieser Klasse (Lehrender), die Privatschule ändert das Herz des Kindes nicht (Eltern). Die Verweigerung (Lernender), die neue Stelle oder die neue Methode (Lehrender), die Forderung nach einer idealen Umgebung (Eltern) führen nicht zu dauernder Veränderung.
  2. unseren Stolz zu bekennen: Der Lernende beginnt sein eigenes Lernverhalten zu hinterfragen; er erkennt seinen Drang zur Selbstrechtfertigung. Der Lehrende erkennt seine Überheblichkeit oder seinen Hang zur Menschengefälligkeit. Eltern erkennen ihre Überheblichkeit, wenn sie bei Schulleitung oder Behörden vorsprechen und bessere Rahmen­bedingungen einfordern.

Ich unterscheide bisher nicht zwischen unerlösten und erlösten Lernenden und Lehrenden. Ich bin überzeugt, dass bei beiden Gruppen Fehldiagnosen vorliegen können. Ein bloßes Bekenntnis zum christlichen Glauben bedeutet noch nicht, diesen Glauben auf alle Bereiche des Lebens anzuwenden. Ja, Nichtchristen können in der Diagnose ehrlicher sein!

Wirkungsvolle Lösung

Der christliche Glaube begnügt sich nicht mit einer angemessenen Diagnose. Er bietet auch die umfassende Lösung an: Die neue Geburt durch Jesus Christus. Das hat Jesus dem stolzen Führer Israels, Nikodemus, vor Augen geführt (Joh 3,3+5), und er hat es gleichermaßen der gedemütigten Frau am Brunnen gepredigt (Joh 4,13f.). Durch den Glauben wird Christus zu unserer Gerechtigkeit. Wir werden ohne Verdienst gerechtfertigt. Seine Gerechtigkeit wird uns angerechnet (Röm 3,22-24). Wer glaubt, wird begnadigt. Der Begnadigte bleibt Sünder. Er weiß wie Augustinus, dass er zu allem Bösen in der Lage ist. Gleichzeitig setzt ein Prozess der Heiligung ein, der in geheimnisvoller Weise von Gott bewirkt und vom erneuerten Menschen angestrebt wird. Diese Erneuerung beginnt in unserem Denken (Röm 12,2).

Eine wesentliche Folge dieses veränderten Denkens ist das Bewusstsein der eigenen Grenzen. Das bedeutet: Es ist möglich, dass die Lernziele nicht erreicht werden (Lernender); dass die Klasse sich trotz bewährter Methoden und sorgfältiger Vorbereitung nicht so verhält wie gewünscht (Lehrender); dass die Umgebung suboptimal bleibt. Der Schlüssel zur Veränderung ist aber nicht die Umgebung, sondern das eigene Herz. So wie Paulus können wir sagen: Die Gnade ist in den Schwachen mächtig (2Kor 12,9). Dass dies niemals eine Ausrede für Bequemlichkeit sein darf, macht der Kontext dieser Aussage deutlich: Der Mann (Paulus), von dem diese Aussage stammt, rackerte sich buchstäblich bis zur Erschöpfung ab.

Das könnte für Jonas bedeuten: Den Bankrott seiner bisherigen Lern- und Rechtfertigungsstrategie anzuerkennen; zu realisieren, dass Jesus für diese Schuld gelitten hat. Für seine Mutter: Die Vergötterung ihres Kindes und die Verlängerung ihrer Utopie zu Ungunsten ihres Kindes einzugestehen; zu erkennen, dass Jesus für diesen Götzendienst gebüßt hat. Für den Lehrer: Dass der Wechsel in die andere Branche ein weiterer Versuch der Selbstrechtfertigung ist; dass die neuen Methoden kein Heil bringen; erkennen, dass Jesus gelitten hat für die Schuld, viele Schüler und Eltern einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Martin Luther spricht von einem fröhlichen Tausch: Wir tauschen unsere Sünden gegen seine Gerechtigkeit ein. Er macht sich die Sünden „der gläubigen Seele … selbst zu eigen“ und tut gerade so, „als hätte er sie getan“. So müssen „die Sünden ihn ihm verschlungen und ersäuft werden, denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark.“13

Diese Sichtweise befreit auch dann, wenn nur eine Seite diese Lösung in Anspruch nimmt. Man stelle sich vor: Jonas, der seine Mutter um Verzeihung bittet; seinen Lehrmeister bittet, ihm noch eine Chance zu geben. Seine Mutter, die ihrem Mann und ihrem Sohn die Schuld bekennt. Es bedeutet nicht, dass Jonas jetzt die passendste Lehrstelle bekommt, der Mann sich ändert oder die Elterngespräche angenehmer würden.

Stabilisierende Handlungen

Stellen wir uns einen Lernenden, einen Lehrenden oder einen Vater/eine Mutter am Montagmorgen vor, der (a) ein angemessenes Bild von sich selber hat und (b) von Christus erneuert worden ist. Er schwankt zwischen der Hoffnung, dass sein Einsatz diese Woche belohnt wird; dass der Wochenplan in der Klasse greifen wird; dass sein Kind diese Woche lernt und vorankommt. Es bleibt also Ambivalenz zurück. Es ist nicht mehr das Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus desjenigen, der die Ursprungssünde ausblendet. Es ist aber der Kampf zwischen dem alten Leben und dem neuen Leben, den jeder täglich auf sich nehmen muss. So wenig er seine eigene Erlösung bewerkstelligen konnte, so unfähig ist er darin, seine eigene Heiligung selber zu vollbringen.

Wie sieht denn eine Haltung der Dankbarkeit aus? Ich komme auf den Konflikt zwischen Pelagius und Augustinus zurück. Ihre Auffassung von der Leistungsfähigkeit des menschlichen Willens unterschied sich grundsätzlich. Ich habe mich in dieser Auseinandersetzung deutlich auf die Seite Augustins gestellt, weil ich glaube, dass seine Ausführungen denen der biblischen Offenbarung entsprechen. Eines der Mottos von Augustinus, das Pelagius erzürnt hatte und so zum Aufhänger der Kontroverse wurde, lautete: „So gib denn, was du befiehlst, und nimm, was du willst.“14

Es ist die Grundhaltung eines dankbaren erlösten Menschen: „Ich gebe mein Bestes, weil ich Gott vertraue.“ Vertrauen und Handeln schliessen sich nicht gegenseitig aus, sondern sie bedingen einander. Der Lernende und der Lehrende vertrauen in ihrer Arbeit darauf, dass Gott das geben wird, was sie brauchen. Das bedeutet nicht, dass er alle Wünsche erfüllen wird. Unter Umständen wird die Erfüllung sogar ausbleiben. Doch bestehen bleibt die Zuversicht, dass das Wichtigste schon geschehen ist und der Rest durch Gottes Gnade bewirkt wird. Dies entlastet, und es macht demütig, weil der Betreffende bis zum letzten Tag seines Lebens von Gottes Gnade abhängig bleiben wird.

Letztlich bleibt auch dieses Werk – so wie der logische Widerspruch, welche die Ursprungssünde umgibt – ein Geheimnis. Wie ein dankbarer Lernender oder Lehrender damit umgeht, hat John Frame treffend in Worte gefasst:

Wir müssen mit der Art der Erkenntnis zufrieden sein, die ein Diener von seinem Herrn hat – sogar wenn diese Erkenntnis eine Erkenntnis des Geheimnisses oder der eigenen Ignoranz ist.15

Das bedeutet für Jonas, seine Mutter und seine Lehrer: Sie bitten Gott um das, was er fordert, um dann zu tun, was er geboten hat: Sich dem Lehrer oder Lehrmeister unterzuordnen, regelmäßig zu lernen; den Ehemann zu lieben, den Sohn zum Lernen anzuhalten, Nein zu sagen, trotz Konsequenzen die Harmonie nicht aufrechtzuerhalten; sich auf das Elterngespräch einzulassen, die eigenen Denkmuster während des Schulalltags zu hinterfragen und zu verändern. Nochmals: Vertrauen und Einsatz schließen sich nicht aus, sondern sie bedingen einander. Der Kampf wird nicht aufhören, er wird bis ans Lebensende andauern. Förderliche Gewohnheiten werden sich etablieren. Mut machende Erfahrungen werden sich abwechseln mit Rückfällen. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als immer wieder den beschriebenen Weg zu gehen – ehrliche Diagnose, wirkungsvolle Lösung, stabilisierende Handlungen.


  1. Fiktives Beispiel, eng an Erlebtes angelehnt 

  2. Natürlich hängen beide zusammen: „In jeder konkreten Sünde schlägt die Erbsünde (bzw. die Ursünde, die wurzelhafte Allgemeinsünde) wieder durch.“ Christof Gestrich, ‚Erbsünde’ – das Verhängnis menschlicher Selbstrechtfertigung. URL: http://www2.hu-berlin.de/theologie/gestrich/dokumente/ErbsuendenlehreMainz.pdf (20.08.2012). 

  3. Vgl. Anthony A. Hoekema. Created in God’s Image. Wm. B. Eerdmans Publishing Company: Grand Rapids 1994. S. 143. 

  4. Carl Rogers. Entwicklung der Persönlichkeit. Klett-Cotta: Stuttgart 2006 (16. Auflage), S. 100. 

  5. Ebd. S. 108. 

  6. Herman Bavinck. John Bolt. John Vriend. Reformed Dogmatics Volume 3: Si and Salvation in Christ. Baker Academic: Grand Rapids 2006. S. 87. 

  7. Winfried Böhm. Frithjof Grell. Reformpädagogik und Christentum – ein problematisches Verhältnis, in: Winfried Böhm. Jürgen Oelkers (Hrsg.) Reformpädagogik kontrovers. ERGON-Verlag: Würzburg 1995. S. 75-87. 

  8. Für einen Überblick siehe Brinley Roderick Rees. Pelagius – Life and Letters. The Boydell Press: Woodbridge 1998. S. 140-142. 

  9. Benjamin B. Warfield. Augustine & the Pelagian Controversy. URL: http://www.monergism.com/thethreshold/articles/onsite/augpel.html (20.08.2012). 

  10. Aurelius Augustinus, Die Verhandlungen mit Pelagius, XIV,31. 

  11. Aurelius Augustinus, Natur und Gnade, XXII,24. 

  12. Aurelius Augustinus, Die Gnade Christi, XXXIX,43. 

  13. Martin Luther. Von der Freiheit eines Christenmenschen, 12,2. 

  14. Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, dtv: München 2003. Kapitel 10. 

  15. John M. Frame. The Doctrine of the Knowledge of God. P & R: Philippsburg 1987. S. 40.