Zu den Schätzen, die die literarische Arbeit für das Reformationsjubiläum hinterlassen hat, gehört auch das vorliegende Buch des emeritierten Kirchengeschichtlers Reinhard Schwarz. Es wird das Reformationsjubiläum überdauern. Schwarz nimmt sich das eigentliche Anliegen Luthers vor: Er wollte den christlichen Glauben verkünden. Dass Luther dabei die Pfade der mittelalterlichen Theologie verließ und – geschichtlich auf den Schultern der Kirchenväter stehend – doch die christliche Religion nicht nur in Elementen, sondern grundlegend neu lehrte, vermag Schwarz sehr eindrücklich darzulegen. Man möchte fragen, warum gerade dieser Blick in der von der EKD ausgerufenen Reformationsdekade derart zu kurz kam. Liegt das an den vielen Versuchen, dem Phänomen Martin Luther irgendwie rational erklärend beikommen zu wollen? Liegt es an dem oft krampfhaften Versuch, die Erkenntnisse der Reformation irgendwie dem modernen (säkularen) Menschen nahebringen zu wollen? Demgegenüber gelingt es Reinhard Schwarz durch eine klare Struktur und viele gut gewählte Quellentexte, das Eigentliche der Reformation Luthers, den Glauben an Jesus Christus, in seinem Wesen und seinen Folgen für das Leben, eindrücklich darzulegen.
Schwarz erkennt das Zueinander von Gesetz und Evangelium als tragendes Gestaltungsprinzip, das Luther selbst auch so bestimmt hat. Es gelingt ihm, Gesetz und Evangelium als die beiden Seiten des Urteils Gottes über den Menschen und sein Tun durch die gesamte Darstellung aufleuchten zu lassen. Daran hätte Luther sicher selbst seine Freude gehabt, weil es nach seinem Urteil den rechten Theologen ausmacht. Als Charakteristikum von Luthers Lehre benennt Schwarz die „Erfahrungsbezogenheit“. Der von ihm gewählte Begriff kann heute leicht missverständlich sein, denn Luther sah seine Theologie nicht in seiner oder anderer Erfahrung verwurzelt. Was Schwarz aber meint und vielleicht besser mit „Wirklichkeitsbezogenheit“ bezeichnet ist, ist eine wesentliche Beobachtung: Luther will kein scholastisches Lehrgebäude entwickeln, sondern sieht, dass der christliche Glaube, auch wo er in Gestalt der Gewissensbindung auftritt, im wirklichen Leben verwurzelt ist. Er ist keine Philosophie, sondern bestimmt Leben, Denken und Handeln.
Schwarz, Reinhard. Martin Luther: Lehrer der christlichen Religion. 2. Aufl. Tübingen: Mohr, 2016. 544 S. Paperback: 39,00 €. ISBN: 978-3-161544118.
Reinhard Schwarz unterteilt die Entfaltung der Lehre Luthers in acht Kapitel. Er beginnt mit der für Luther grundlegenden Schriftlehre. Darauf folgt die Lehre vom Evangelium des Christus und dem Glauben an ihn. An dritter Stelle steht das Verständnis des göttlichen Gesetzes. Dem folgen die Rechtfertigungslehre und die Lehre von der Person Christi in ihrer Stellung innerhalb der Dreieinigkeit. Ein Kapitel betrachtet die Auswirkungen des Glaubens beim Christen selbst, das folgende nimmt mit der christlichen Ethik die Folgen für den Nächsten des Christen in den Blick. Das letzte Kapitel widmet Schwarz der Kirche und ihrem Auftrag. Ein Stichwortregister fehlt, aber ein Personenregister und das Register der Lutherzitate sind hilfreich. Das Buch will aber als Ganzes gelesen werden.
Schwarz kann überzeugend zeigen, wie die Bibel als Heilige Schrift grundlegend im Verständnis des christlichen Glaubens für Martin Luther war. Luther war sich bald bewusst, dass das Schriftprinzip in Konkurrenz zu allen menschlichen Autoritäten tritt, sowohl allen religiösen Ordnungen von Menschen als auch menschlichen Institutionen, zu denen Luther auch den Papst und die Konzilien zählte. Alles Heilsverbindliche kann und soll nach Gottes Willen in der Heiligen Schrift gefunden werden. Auch die Kirchenväter müssen sich dem unterordnen: „Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was aber nicht geschehen kann, wenn wir nicht in allen Dingen, bei denen die Väter herangezogen werden, der Schrift den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, bei allen prüfend, richtend und erleuchtend“ (WA 7,97,20-24). Luther vertraut der Heiligen Schrift, weil sie von Gott ist und nicht irrt, wie Menschen irren.
Schwarz zeigt, dass Martin Luther diese Grundeinsicht mit tiefgründiger Schriftauslegung des buchstäblichen Sinns der biblischen Texte verband und sich damit von der Bibelauslegung sowohl der römischen Kirche als auch der Schwärmer unterschied. Es wirkt ein wenig seltsam, wenn Schwarz an dieser Stelle von einer „fundamentalistisch(e) … platten Textinterpretation“ abgrenzt, wo dieses Wort doch erst in jüngster Zeit geprägt wurde und er sich sonst von aktualisierender Darlegung oder Diskussion weitgehend enthält, obwohl seine Darlegungen den verbreiteten Missbrauch Luthers in der neueren Theologie problemlos entlarven kann. Luthers Theologie eignet sich offensichtlich nicht zur Begründung historisch-kritischer Bibelauslegung und moderner Theologie, in der der Mensch sich selbst die Mitte wird, ist aber sehr wohl eine Mahnung zu einer Exegese des buchstäblichen Sinns innerhalb einer Hermeneutik, die die gesamte Bibel als Gottes Wort achtet, wobei die kanonkritischen Äußerungen Luthers, die Schwarz auch entfaltet, das nur unterstreichen. Eindrücklich zeigt Schwarz, dass die gesamte christliche Religion, wie sie Luther lehrt, Ergebnis seiner Auslegung der Bibel sein will. Das wird immer da besonders deutlich, wo es Schwarz in seiner Zitatenauswahl gelingt, Luthers lebendige Stimme hörbar zu machen, die dort am kräftigsten erklingt, wo Luther auf die Angriffe seiner Gegner antwortet.
Die Darstellung der Lehre Luthers ist insgesamt ausgezeichnet gelungen. Nur die wenigen Versuche von Schwarz, die Theologie Luthers in die Gegenwart zu übertragen, wirken unverbunden, wenig zielgerichtet und zum Teil sogar missverständlich, besonders wenn sie gegen ein unklares Feindbild zielen. Sie schmälern aber den Wert des Buches kaum.