Die Antwort auf diese Fragen ist von entscheidender Bedeutung für die Bewertung der Abtreibung aus christlicher Sicht. Seit dem 29. Juni 1995 hat sich die Gesetzeslage in Deutschland bezüglich der Abtreibung entscheidend geändert. Seither ist die Abtreibung eines ungeborenen Kindes zwar nach wie vor rechtswidrig, sie wird aber nicht mehr strafrechtlich verfolgt, wenn (1.) eine Beratung bei einer staatlich anerkannten Stelle nachgewiesen werden kann und wenn (2.) die Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen zurückliegt. Auf diese Weise ist unter bestimmten Umständen die Abtreibung eines ungeborenen Kindes in Deutschland möglich geworden. Wenn jedoch menschliches Leben bereits vor der Geburt beginnt und schon das ungeborene Kind im Mutterleib eine vollwertige menschliche Person darstellt, so ist die Abtreibung eines ungeborenen Kindes Mord und folglich eine Sünde gegen das 5. Gebot.
Wenn menschliches Leben bereits vor der Geburt beginnt, dann ist Abtreibung Mord
Ähnliches gilt für die Bewertung der Gentechnik aus menschlicher Sicht. In unserer Zeit versprechen sich viele von der Gentechnik enorme Heilungsmöglichkeiten in schweren Krankheitsfällen. Darum werden grenzenlose Forschungsmöglichkeiten für die Gentechnik gefordert. Wenn jedoch das menschliche Leben bereits zum Zeitpunkt der Befruchtung beginnt, dann ist schon das Absterbenlassen einer befruchteten Eizelle im Reagenzglas die Tötung eines ungeborenen Kindes.
In diesem Beitrag soll es jedoch nicht zentral um das Thema Abtreibung oder Gentechnik gehen. Vielmehr soll uns unser Thema dazu verhelfen, aus Sicht der Heiligen Schrift die entscheidenden Grundlagen zu finden, mit deren Hilfe wir solche Fragen wie Gentechnik oder Abtreibung aus christlicher Sicht beurteilen können. Und hier geht es vor allem darum, die Frage „Wann beginnt menschliches Leben“ von Gottes Wort her zu beantworten. Dazu wollen wir uns aber zunächst einen Überblick verschaffen, welche Antworten in unserer gesellschaftlichen Umgebung auf diese Frage gegeben werden. Dies hilft uns, an vielen Stellen besser zu verstehen, warum es in unserer Zeit oftmals zu einer anderen Einschätzung von Schwangerschaftsabbrüchen kommt als früher. In einem zweiten Schritt wollen wir uns dann der Heiligen Schrift zuwenden, um im Wort Gottes die entscheidenden Antworten auf unsere Frage zu finden. Für uns als bibeltreue Lutheraner ist nicht entscheidend, wie bestimmte Fragen vom Zeitgeist beantwortet werden. Für uns gilt, was Gott uns in seinem Wort offenbart.
1. Moderne Theorien über den Beginn menschlichen Lebens
1.1 Die Aussagen der modernen Humanbiologie
1.1.1 Die Ontogenese
Aufgrund der humanbiologischen Forschung ist es uns heute möglich, die Entwicklung eines Embryos im Mutterleib relativ gut nachzuvollziehen. Und es erscheint an dieser Stelle hilfreich, uns noch einmal die wichtigsten Stationen der sog. Ontogenese (Entwicklung eines Embryo) vor Augen zuführen:
- Phase: Die Entwicklung beginnt mit der Vereinigung einer männlichen Spermienzelle und einer weiblichen Eizelle zur Zygote. Dieser Vorgang wird als Zeugung, Empfängnis, Befruchtung oder Konjugation [Verschmelzung] bezeichnet.
- Phase: Darauf folgt als zweites die Nidation [Einnistung]/Implantation: Die befruchtete Eizelle dringt in die weibliche Gebärmutter ein und nistet sich ein.
- Phase: 18 Tage nach der Befruchtung folgt die Uranlage des Herzens, in der dritten Schwangerschaftswoche die des Nervensystems.
- Phase: Bereits in der vierten Schwangerschaftswoche besitzt der Embryo seine charakteristische Körperform, in der siebten Schwangerschaftswoche ist die Anlage aller Organe abgeschlossen.
- Phase: Ab der achten Schwangerschaftswoche können bereits die Herzaktivitäten registriert werden. Nun spricht man nicht mehr vom Embryo, sondern vom Fötus [Leibesfrucht].
- Phase: Nach der elften bis zwölften Schwangerschaftswoche ist das Gesichtsprofil ausprägt.
- Phase: Nach vier Monaten nehmen die Verdauungsdrüsen ihre Tätigkeit auf, im 6. Monat beginnt die Kopfhaarentwicklung und einen Monat darauf verschwindet die Pupillenmembran im Auge. Die Fettpolsterbildung folgt im achten Monat.
Verglichen mit dem Wissen früherer Jahrhunderte hat die Wissenschaft heute eine enorme Kenntnis über die Entwicklung des ungeborenen Kindes im Mutterleib. Trotzdem bleibt die Entstehung eines Kindes nach wie vor ein großes Wunder.
1.1.2 Der Lebensbeginn nach der modernen Humanembryologie
Aus Sicht der modernen Humanbiologen steht heute unmissverständlich fest, wann menschliches Leben beginnt: Es beginnt mit der Vereinigung von Ei- und Spermienzelle zur Zygote. Schon aus diesem Grund dürfte eigentlich in unserer Zeit gar nicht mehr geleugnet werden, dass der Mensch vom ersten Augenblick seiner Existenz an – nämlich vom Moment der Befruchtung – eine vollwertige menschliche Person ist.
Doch genau das geschieht in der sog. modernen Bioethik. Hier erkennt man zwar an, dass schon das ungeborene Kind vom Moment der Zeugung zur Gattung „Mensch“ gehört. Doch das ungeborene Kind sei noch keine vollwertige Person, da es seine Seele erst zu einem späteren Zeitpunkt erhalte. Erst wenn dem menschlichen Körper die Seele hinzugefügt und so eine vollwertige menschliche Person entstanden sei, beginne menschliches Leben. Und wann genau dies geschieht, darüber gibt es in unserer Zeit verschiedene Theorien, auf die wir jetzt einen Blick werfen wollen.
1.2 Der Beginn des Lebens am zwölften Tag
Zur Beantwortung der Frage nach dem Lebensbeginn verweisen heute manche auf die Teilbarkeit der befruchteten Eizelle. Eineiige Zwillinge entstehen ja bekanntlich erst durch die Teilung einer befruchteten Eizelle. Daraus ziehen nun manche die Schlussfolgerung, dass folglich erst zwei Wochen nach der Befruchtung feststehe, ob ein oder zwei Kinder im Mutterleib entstünden. Darum könne auch erst zwölf Tage nach der Befruchtung von einer vollwertigen Person gesprochen werden. Denn die Seele sei ja nicht teilbar, folglich könne der Embryo erst am zwölften Tag seine Seele erhalten.
Ob ein oder zwei Kinder entstehen, entscheidet Gott
In Wahrheit wird jedoch diese Entscheidung nicht erst zwölf Tage nach der Geburt getroffen, sondern viel früher. Denn nicht der Zufall oder die Natur entscheiden darüber, ob ein oder zwei Kinder entstehen, sondern Gott. Und Gott trifft diese Entscheidung lange vor dem zwölften Tag. Ferner ist es ebenfalls Gott, der durch Befruchtung und Teilung der befruchteten Eizelle zwei Kinder schafft. Wieso sollte Gott da nicht auch eine Zygote mit zwei Seelen schaffen können, so dass beide Kinder von Anfang an ihre eigene Seele besitzen? Wie dies im Einzelnen vor sich geht, ist uns nicht bekannt, da uns Gott über diese Fragen in der Heiligen Schrift keine Einzelheiten nennt. Doch wir dürfen und können davon ausgehen, dass auch bei der Entstehung von eineiigen Zwillingen jedes Kind vom ersten Augenblick an ein vollwertiger Mensch mit Leib und Seele ist – denn dies geht klar aus der Heiligen Schrift hervor, wie wir noch sehen werden.
1.3 Der Lebensbeginn mit der Nidation
Andere verweisen darauf, dass zum Wesen des Menschseins die Beziehung zum „Du“, zu einer anderen Person, gehört. Im Falle des ungeborenen Kindes sei diese andere Person die Mutter. Doch die Beziehung zur Mutter beginne erst mit der Nidation, also 6-14 Tage nach der Befruchtung. Vorher sei noch keine Beziehung zur Mutter vorhanden, und folglich sei das ungeborene Kind vor der Einnistung in der Gebärmutter noch kein vollwertiger Mensch.
Nun spielt tatsächlich die Beziehung zu anderen Menschen in unserem Leben eine große Rolle, denn Gott hat uns Menschen ja auf Gemeinschaft hin geschaffen (vgl. 1Mose 2,18ff). Trotzdem hängt es nicht von unserer Fähigkeit zur Beziehung ab, ob wir eine vollwertige Person sind oder nicht. Adam wurde von Gott mit Leib und Seele geschaffen und war darum vom ersten Augenblick an ein vollwertiger Mensch. Er wurde das nicht erst, als Gott Eva geschaffen hatte, mit der Adam eine menschliche Beziehung eingehen konnte.
1.4 Beginn des menschlichen Lebens mit der Hirntätigkeit
Die Vertreter der modernen „Bioethik“ haben es sich zur Aufgabe gemacht, unser Verhalten gegenüber bedrohten Lebensformen zu untersuchen. Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch Hans-Martin Sass, der als Dozent an der Ruhr-Universität in Bochum tätig ist.
Wenn das Leben mit dem Hirntod endet, dann müsse es folglich mit den ersten neuronalen Vernetzungsentwicklungen beginnen
Sass beantwortet die Frage nach dem Lebensbeginn mit der von ihm entwickelten „Hirntod–Hirnleben-Analogie“. Das Ende menschlichen Lebens setzt Hans-Martin Sass mit dem Aufhören der Gehirnströme gleich. Und wie das Leben mit dem Hirntod ende, so müsse es folglich mit den „ersten neuronalen Vernetzungsentwicklungen“ beginnen. Aus diesem Grund zieht Sass die sog. Lebensrechtsgrenze am 57. Tag nach der Befruchtung. Denn zu diesem Zeitpunkt könnten erste synaptische Vernetzungen der Zellen stattfinden. Nach Hans-Martin Sass ist das ungeborene Kind folglich erst 57 Tage nach der Befruchtung eine vollwertige menschliche Person. Vor diesem Zeitpunkt sei das ungeborene Kind noch keine richtige Person. Sass tritt deshalb für Abtreibung und Forschung an Embryonen vor dem 57. Tag ein.
Doch selbst unter Medizinern ist heute umstritten, ob mit dem Hirntod tatsächlich auch das Ende des menschlichen Lebens eintritt. Und die Heilige Schrift gibt uns auf die Frage nach dem Lebensende eine klare Antwort: Menschliches Leben endet nicht mit dem Absterben des Gehirns, es endet, wenn die Seele vom Leib getrennt wird (Lk 12,20). Ebenso wenig beginnt menschliches Leben erst mit der Hirntätigkeit, sondern – wie wir noch sehen werden – bereits viel früher, nämlich mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zur Zygote.
1.5 Der Beginn menschlichen Lebens mit der Geburt
Andere verweisen uns bei der Frage nach dem Lebensbeginn auf juristische Definitionen. In der Rechtsliteratur wird vorgeburtliches Leben als „Leibesfrucht“ bezeichnet. Erst nach der Geburt benutzt man den Begriff „Mensch“ oder „Person“, folglich könne man auch erst ab der Geburt des Kindes von einer vollwertigen Person sprechen.
Doch für uns ist an dieser Stelle nicht die Begrifflichkeit der Juristen entscheidend. Als bekennende Christen orientieren wir uns an dem, was uns Gott in seinem Wort sagt. Die Heilige Schrift ist die maßgebliche Grundlage für unseren Glauben und unser Leben als Christen.
1.6 Die Theorien von Peter Singer
1.6.1. Zur Person
Peter Singer gilt als Begründer der modernen Bioethik. Er wurde am 6. Juli 1946 in Melbourne (Australien) geboren und lehrt heute als Dozent an der Princeton-Universität in den USA. Er vertritt die Auffassung, dass das Leben Behinderter ein lebensunwertes Leben sei – und dies gelte ebenso für ungeborene wie für neugeborene Kinder. Darum tritt Peter Singer sogar für die Tötung neugeborener, behinderter Kinder ein.
1.6.2 Der Lebensbeginn nach der Theorie Peter Singers
„Ein Neugeborenes von zehn Tagen … hat also weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen“
Auch Peter Singer unterscheidet bei der Beantwortung der Frage nach dem Lebensbeginn zwischen „Mensch-Sein“ und „Person-Sein“. Er sagt, vom Zeitpunkt der Befruchtung an gehöre das ungeborene Kind zur „Gattung Mensch“. Doch aus dem Kind werde erst eine vollwertige Person, wenn es über Rationalität und Selbstbewusstsein verfüge. Da ungeborene Kinder jedoch noch nicht über Ich-Bewusstsein und Vernunft verfügten, seien sie noch keine vollwertige Person. Singer urteilt: „Ein Neugeborenes von zehn Tagen ist kein rationales und selbstbewusstes Wesen, …und das Leben eines Neugeborenen hat also weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen.“1
Singer will sich jedoch nicht genau festlegen, wann sich die „Person-Werdung“ vollzieht, da dies bei jedem Kind zu einem anderen Zeitpunkt geschehe. Doch er meint, dass der Entscheidungsprozess von Eltern und Medizin vier Wochen nach der Geburt abgeschlossen sein könnte. Darum zieht er die „Lebensrechtsgrenze“ vier Wochen nach der Geburt, bis zu diesem Zeitpunkt solle nach seiner Ansicht auch die Tötung bereits geborener Kinder gestattet werden.
1.6.3 Singers Anhänger in Deutschland
Obwohl man es eigentlich nicht für möglich halten sollte, haben die Thesen Peter Singers auch in Deutschland Anhänger und Befürworter gefunden. So vertrat der bis 1998 in Mainz tätige Prof. Norbert Hoerster die Ansicht, die Bewusstseinsbildung geschehe erst im zweiten menschlichen Lebensjahr und erlaube die Tötung neugeborener Kinder. Ursula Wolf lehrt Philosophie in Mannheim und gilt als eifrige Tierschützerin. Für Wolf ist Tierschutz „das Maß aller Dinge“, jede Ethik müsse sich an ihrer Einschätzung des Tierschutzes als Prüfstein messen lassen. Frau Wolf befürwortet nicht nur die Tötung ungeborener Kinder, sondern sie tritt sogar für die Tötung geistig oder körperlich behinderter Kinder nach der Geburt ein. Susanne Ehrlich behauptet sogar, der Embryo oder Fötus sei lediglich ein Bestandteil des mütterlichen Organismus. Die „Verhinderung“ eines behinderten Menschen durch Abtreibung sei darum nicht nur vertretbar, sondern sie wäre sogar eine „humane Tat“.
2. Die Aussagen der Heiligen Schrift über den Beginn menschlichen Lebens
Verglichen mit den modernen Theorien über den Beginn menschlichen Lebens, die in unserer Gesellschaft vertreten werden, bringt Gottes Wort ungeborenen Kindern eine enorme Wertschätzung entgegen. In Gottes Augen ist das ungeborene Kind kein „ungestalteter Fleischklumpen“ oder eine „gallertartige Masse“. Abgesehen von Größe und Grad der Entwicklung macht die Heilige Schrift keinen Unterschied zwischen geborenen und ungeborenen Kindern. Schon das ungeborene Kind besitzt von Anfang an Leib und Seele. Und hier darf etwas ganz Entscheidendes nicht übersehen werden: Das ungeborene Kind ist von Anfang an ein erlösungsbedürftiger Sünder. Unser Heiland Jesus Christus ist am Kreuz auf Golgatha auch für die ungeborenen Kinder gestorben.
2.1 Der Mensch – von Anfang an Gottes Geschöpf
Jeder Mensch ist von Anfang an ein Geschöpf Gottes, keiner von uns ist ein Produkt des Zufalls. Wir leben, weil uns Gott geschaffen hat. Dies bringen die folgenden Abschnitte der Heiligen Schrift klar zum Ausdruck:
Psalm 139,13-16: Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.
Im Zusammenhang unseres Textes beschreibt der 139. Psalm zunächst Gottes Allwissenheit (V. 1-4) und Gottes Allgegenwart (V. 5-12). In den Versen 13-16 zieht der Psalmist daraus die Schlussfolgerungen für die Entstehung menschlichen Lebens im Mutterleib.
Die „Nieren“ bezeichnen wie meistens im Alten Testament auch an unserer Stelle das „Innere“ des Menschen, den Sitz der Empfindungen, Gedanken und des Gewissens. Es ist ein anderer Ausdruck für die menschliche Seele (vgl. Jer 12,2; Ps 16,7). Nach V. 13 ist jeder einzelne Mensch Gottes Geschöpf, er hat uns geschaffen mit Leib und Seele. Etwas unsicher ist die Bedeutung der Aussage in V. 15 „unten in der Erde“. An dieser Stelle könnte „Erde“ ein Bild für den Mutterleib sein. Auf der anderen Seite kann man die im hebräischen Text verwendete Konjunktion „be“ auch mit „auf“ übersetzen („unten auf der Erde“). Auffällig ist in V. 13 auch das Personalpronomen: „du hast mich gebildet“. Demnach ist das ungeborene Kind kein ungestalteter Fleischklumpen, sondern von Anfang an eine vollwertige menschliche Person (wie auch aus V. 16 hervorgeht).
Hiob 10,8-12: Deine Hände haben mich gebildet und bereitet; danach hast du dich abgewandt und willst mich verderben? Bedenke doch, dass du mich aus Erde gemacht hast, und lässt mich wieder zum Staub zurückkehren? Hast du mich nicht wie Milch hingegossen und wie Käse gerinnen lassen? Du hast mir Haut und Fleisch angezogen; mit Knochen und Sehnen hast du mich zusammengefügt; Leben und Wohltat hast du an mir getan, und deine Obhut hat meinen Odem bewahrt.
Auch dieser Abschnitt aus dem Buch Hiob zeigt, dass jedes neugeborene Kind ein Geschöpf Gottes ist: Es ist von Gott im Mutterleib bereitet. Gottes Schöpferwirken im Mutterleib wird mit dem Bild der Käsegewinnung beschrieben: So wie durch die Gerinnung von Milch Käse entsteht, so lenkt Gott die Entstehung des Menschen von der Befruchtung bis hin zur Geburt. Auffällig ist auch an dieser Stelle in V. 8 das Personalpronomen: „Deine Hände haben mich gebildet“. Das ungeborene Kind ist also bereits im Mutterleib eine vollwertige Person.
Hier ist allerdings zu beachten, dass Gott heute nicht mehr wie bei der Erschaffung des Universums unmittelbar als Schöpfer tätig ist. Nach dem biblischen Schöpfungsbericht wurde alles, was existiert von Gott durch sein Wort aus dem Nichts in sechs normalen Tagen geschaffen. Mit dem 7. Schöpfungstag begann die „Ruhe Gottes“. Diese Ruhe bezeichnet kein menschliches Ausruhen. Sondern seit dem 7. Tag ruht Gott von grundsätzlicher Neuschöpfung. Doch er erhält seitdem seine Schöpfung durch sein fortgesetztes Erhaltungsschaffen und gebraucht dazu die natürlichen Mittel und Ordnungen. Jedes neugeborene Kind ist darum ein Geschöpf Gottes. Aber heute ist Gott nicht mehr unmittelbar am Werk wie bei Adam und Eva, sondern indirekt im Mutterleib durch Zeugung und embryonale Entwicklung. Das ungeborene Kind im Mutterleib ist ein Geschöpf Gottes – darum können wir auch nicht willkürlich über das ungeborene Kind verfügen, wie es uns Menschen gefällt!
2.2 Der Mensch – von Anfang an eine vollwertige Person
Die Heilige Schrift bezeugt uns aber nicht nur, dass das ungeborene Kind im Mutterleib ein Geschöpf Gottes ist – es ist auch vom ersten Augenblick seiner Existenz an eine vollwertige Person.
2.2.1 Die menschliche Identität des Embryo
Jeremia 1,5: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.
Schon bevor Jeremia von Gott im Mutterleib erschaffen wurde, hatte Gott ihn bereits „erkannt“. Dieses „Kennen“ setzt ein personales Gegenüber voraus. Auch an dieser Stelle sei auf das Personalpronomen „dich“ hingewiesen: Jeremia war schon als ungeborenes Kind im Mutterleib eine vollwertige Person.
Galater 1,15: Als es aber Gott wohlgefiel, der mich von meiner Mutter Leib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat…
Ähnliches können wir am Beispiel des Apostel Paulus im Neuen Testament beobachten: Er wurde schon von Gott als ungeborenes Kind im Mutterleib zum Heidenapostel bestimmt. Folglich besaß er schon im Mutterleib seine menschliche Identität.
Lukas 1,41-44: Es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir das, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe.
Auch Johannes, der Täufer, besitzt schon vor seiner Geburt seine menschliche Identität. Weil er schon vor seiner Geburt den Heiligen Geist besaß (Lk 1,15), erkannte er die Mutter seines Heilandes und hüpfte vor Freude im Mutterleib. Seine prophetische Mission begann praktisch schon vor seiner Geburt.
2.2.2 Der Mensch – Sünder vom ersten Moment an
Vor allem verweist uns die Heilige Schrift zur Beantwortung der Frage nach dem Lebensbeginn auf unser sündiges Wesen. Wir Menschen sind vom ersten Augenblick an Sünder – folglich sind wir auch vom ersten Augenblick eine vollwertige menschliche Person.
Psalm 51,7: Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.
Mit diesen Worten will David nicht zum Ausdruck bringen, dass der Vorgang der Empfängnis sündig ist. Das wäre ein Missverständnis unserer Stelle. Die Heilige Schrift bezeugt uns ja an anderen Stellen klar, dass Sexualität keine Sünde ist, solange sie in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes in der Ehe ausgeübt wird (vgl. 1Tim 4,1-5).
Wir Menschen sind vom ersten Augenblick an Sünder – folglich sind wir auch vom ersten Augenblick eine vollwertige menschliche Person
David bringt an unserer Stelle zum Ausdruck, dass er bereits vom Moment seiner Empfängnis an Sünder war. Die Erbsünde haftet uns Menschen vom ersten Augenblick unserer Existenz an, nämlich vom Moment der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zur Zygote. In diesem Augenblick entsteht ein neuer Mensch, der vom ersten Augenblick an durch die Sünde verdorben ist.
Diese Tatsache wird auch in Ps 51,7 durch die Verwendung des Personalpronomens „mich“ zum Ausdruck gebracht. Durch die Empfängnis entsteht ein vollwertiger Mensch mit Leib und Seele, der von Anfang an ein erlösungsbedürftiger Sünder ist.
Hosea 12,4: Er [Jakob] hat schon im Mutterleibe seinen Bruder [Esau] betrogen und im Mannesalter mit Gott gekämpft.
Über die Zwillingsschwangerschaft Rebekkas wird in 1Mose 25,21ff berichtet. In Hosea 12,1-7 stellt der Prophet dem Volk Israel anhand des Beispiels von Jakob seine Schuld vor Augen und ruft das Volk zur Umkehr. Jakob erwies sich schon im Mutterleib als Sünder, als er seinem Bruder zuvor kommen wollte.
Unser Sündersein beginnt nicht erst mit der Geburt, wir sind von der Empfängnis an verlorene Sünder. Folglich sind wir auch von der Befruchtung an eine vollwertige menschliche Person.
4. Zusammenfassung
Gottes Wort gibt uns eine klare und eindeutige Antwort auf die Frage „Wann beginnt menschliches Leben?“ Der Mensch wird nicht erst im Laufe seiner Entwicklung im Mutterleib und nach seiner Geburt zu einer vollwertigen Person. In Gottes Augen ist der Mensch vom ersten Augenblick der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zur Zygote eine vollwertige Person mit Leib und Seele. Darum ist das Absterben-Lassen einer befruchteten Eizelle im Reagenzglas bereits die Tötung eines ungeborenen Menschen (wie z.B. bei der embryonalen Stammzellenforschung). Ebenso ist die Abtreibung eines ungeborenen Kindes nicht die Beseitigung einer „ungestalteten Leibesfrucht“: Sie ist die Tötung eines Menschen mit Leib und Seele, der von Gott liebevoll geschaffen wurde.
Als bibeltreue Lutheraner sollten wir uns nicht von dem leiten lassen, was uns der heutige Zeitgeist einredet, sondern uns an dem orientieren, was uns Gott in der Heiligen Schrift offenbart. Es ist deshalb unsere Aufgabe, auch für den Schutz der ungeborenen Kinder im Mutterleib einzutreten.
Zitiert nach: A. Lohner, Personalität und Menschenwürde – Eine theologische Auseinandersetzung mit den Thesen der „neuen Bioethiker“, Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie, Band 37, Regensburg 2000, S. 28. ↩