ThemenGelebte Bibeltreue

Lass Taten zu Wort kommen! Unser sozial-diakonischer Auftrag

Christen haben auch einen Auftrag in die Gesellschaft hineinzuwirken und ihre Kultur positiv zu beeinflussen. Dafür brauchen sie biblische Maßstäbe.

Wir schreiben den 29. Mai 1989, jenes denkwürdigen Jahres. Der junge Chinese Kim und ein Freund sind als Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens, um gegen die kommunistische Regierung zu protestieren. Sie haben ihre Hände aufgeritzt und Blut herausgepresst, um damit ihre Botschaft auf weiße Binden zu schreiben, die sie um den Kopf tragen. Kim hatte auf seine Binde das Wort „Freiheit“ geschrieben. Sein Freund wählte das Wort „Demokratie“.

Sie stellen sich den Soldaten entgegen und blockieren zusammen mit anderen die Zufahrten, so dass die Fahrzeuge der Armee nicht auf den Platz rollen können.

Es ist Sommer und entsprechend heiß. Nach 24 Stunden im Dienst sind die Soldaten hungrig und durstig. Sie haben die ganze Zeit weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen. Dann sieht Kim eine ältere Frau, eine Professorin der Universität, wie sie zu den Soldaten geht und ihnen Wasser und Brot bringt. Er ist scho­ckiert!

Später bei einer Gelegenheit fragt er sie, warum sie das getan habe. Sie antwortet: „Die Soldaten wussten nicht, was sie da taten, und ich sah es als meine Aufgabe an, die Studenten zu beschützen.“

Heute sagt Kim:

„Das war meine erste Erfahrung mit Christen. Sie war der bis dahin einzige an Jesus Christus glaubende Mensch, den ich traf. Bis dahin dachte ich, Chris­tentum sei etwas Lächerliches, eine Religion der Ausländer. Aber jetzt dachte ich: Das ist eine gutwillige Religion; der christliche Gott muss ein freund­licher Gott sein.“

Drei Jahre danach schloss Kim sein Studium an einer anderen Uni ab. Er traf dort wieder einen Christen, einen, der ihn einlud, gemeinsam mit anderen Studenten das Johannesevangelium zu studieren. Er war beeindruckt von diesem Freundeskreis und von dem Jesus, dem er nun in der Schrift begegnete. Er kam zu der Erkenntnis: Jesus ist freundlich und er ist klug.

Kim kam zum Glauben und ist heute eine gute Saat im Boden Chinas. Die ältere Professorin hatte keine Ahnung davon, was ihr Dienst in Bewegung gesetzt hat. Eigentlich hatte sie nicht einmal über die möglichen Folgen ihrer Handlung nachgedacht. Für sie war es einfach Gehorsam gegenüber dem großen Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Mt 22,39).1

Als ich vor Kurzem wieder einmal am „Leben ist mehr-Bus“, einem rollenden missionarischen Café, mit einigen Studenten in Karlsruhe über den Glauben an Jesus Christus diskutierte, überkam es mich und ich gab zu:

„Ich hab manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich hier am Bus sitze. Leute, die uns beobachten, könnten den Eindruck gewinnen, dass Christsein nur aus Worten besteht.“

Nicht, dass ich mich meiner Worte schämen würde. Ich will, wo ich Gelegenheit habe, das Evangelium sagen. Aber polieren wir damit nicht nur eine Seite der Medaille? Ist eine andere Seite während der letzten Jahrzehnte nicht matt und stumpf geworden?

Jakobus, der Halbbruder von Jesus, schärft uns massiv ein, dass Glaube ohne Werke tot ist (Jak 2,17). Christsein muss auch aus Taten bestehen, sonst glaubt man uns den Glauben nicht. Darum: Lass Taten zu Wort kommen! – Lass Taten zum Wort dazu kommen, so ist das Thema zu verstehen.

Ich teile meine Ausführungen in zwei Bereiche ein. Erstens: Die Begründung von Sozialdiakonie in der Bibel. Zweitens: Die Betätigung von Sozialdiakonie in der Praxis.

1. Die Begründung von Sozialdiakonie in der Bibel

Die Begründung nehme ich anhand von drei Begriffen und deren Bedeutung vor: „Mission“, „Dienst“ und „Liebe“.

1.1 Stichwort „Mission“

Oft werden die Wörter Mission und Evangelisation als Synonyme verwendet. Andere meinen, Mission findet im Ausland, Evangelisation im Inland statt. Wir sollten die Definition hier etwas sorgfältiger vornehmen.

Mission und Evangelisation sind nicht das­selbe. Mission ist mehr als Evangelisation.

Mission und Evangelisation sind nicht das selbe. Mission ist mehr als Evangelisation. Mission beinhaltet Evangelisation. Der Begriff „Mission“ – aus dem Lateinischen – heißt „Sendung“, Sendung zu einem besonderen Auftrag.

In Johannes 20 begegnet Jesus nach der Auferstehung seinen verängstigten Jüngern. In den Versen 19 und 21 sagt Jesus jeweils: Friede euch! – unter Juden ist der Gruß „Schalom Aleichem“ (Friede sei mit euch!) durchaus üblich. Doch warum zwei Mal? Nun, die zweite Portion ist sozusagen zum Weitergeben. Jesus sprach nun wieder zu ihnen: Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch (20,21).

Aus diesem kurzen Satz ergeben sich vier Aspekte:

Erstens: Der Vater ist der Sendende. – Mission ist Gottes Mission (missio dei2 ).

Zweitens: Jesus ist der Missionar, der Gesandte. – Er erfüllt den Auftrag seines Vaters. Tiefpunkt und Höhepunkt dabei ist die Kreuzigung …

Drittens: Wer an ihn glaubt, ist von ihm gesandt. – Das sagt der Herr direkt am Auferstehungstag, so wichtig ist ihm dies.

Viertens: Jesus vergleicht seine Sendung mit unserer. – Paulus bestätigt dies, wenn er unseren missionarischen Dienst begründet mit: So sind wir nun Gesandte an Christi Statt … (2Kor 5,20).

Kann man die „Mission“ von Jesus wirklich mit der unseren vergleichen? Nun, sehen wir uns seine Sendung dazu näher an. Als der Schlüsselvers des Markus-Evangeliums gilt bekanntlich Kapitel 10,45:

Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen (diakonesai) …

Hier spricht der Herr von seinem „Dienst“ am Menschen.

In Vers 1 des selben Kapitels lesen wir:

Und wieder kommen Volksmengen bei ihm zusammen, und wie er gewohnt war, lehrte er sie wieder (Mk 10,1b). –

Hier geht es um Verkündigung.

Der Abschluss von Vers 45, der nicht vorenthalten werden soll, lautet:

… um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.

Das Erlösungswerk des Herrn ist das letzte Ziel seiner Mission. Dies ist vorrangig und einmalig. Das können und wollen wir nicht komplettieren.

Wenn den Jüngern gesagt ist: Wie mich der Vater gesandt hat, sende ich euch, und die Erlösung nicht gemeint sein kann, dann bleibt uns der Auftrag, die Botschaft zu predigen und den Menschen zu dienen. Mission heißt verbale Verkündigung und sozialdiakonisches Handeln. Um Letzteres geht es hier.

Wir schauen dabei bewusst zuerst auf Jesus. „Dienst“, wie uns der Herr ihn vorgemacht hat, heißt, dass er etwa Hungernde sättigte (z.B. Mt 14,20), sich mit sozialen Randgruppen abgab (z.B. Mt 9,11) oder sich der Kranken und Behinderten annahm … (z.B. Mt 14,14).

Wort oder Tat? das ist nicht die Frage.

Bitte richtig verstehen: Ich will in keiner Weise das Wort abwerten! Wort oder Tat? – das ist nicht die Frage. Wollte man beides gegeneinander ausspielen, so ist das, als ob man fragen würde, welcher Flügel für einen Vogel der wichtigere ist, der linke oder der rechte? Der Vogel braucht beide zum Fliegen. Manchmal scheinen wir Schwierigkeiten damit zu haben, beide zur selben Zeit zu gebrauchen.3

Übrigens erlebt der Begriff „Mission“ in der Evangelischen Kirche in Deutschland gerade eine Renaissance. Vor 20 Jahren noch für viele ein schmutziges Wort, vor 10 Jahren erstmals ein Ja durch die EKD-Synode in Leipzig – jetzt scheint der Knoten geplatzt. In den 20.000 ev. Kirchengemeinden beginnt gerade ein schlafender Riese zu erwachen …4

1.2 Stichwort „Dienst“

Wir reden von diakonischer Arbeit. Die Heilige Schrift sagt nirgendwo, wir seien gerettet, um in den Himmel zu kommen. Was sie sagt ist, dass wir gerettet sind, Gott zu dienen.

Drei Beweise:

Aus dem Lobpreis des Zacharias: … dass wir gerettet aus der Hand unserer Feinde, ohne Furcht ihm dienen sollen in Heiligkeit und Gerechtigkeit alle unsere Tage (Lk 1,74).

Denn sie selbst erzählen von uns, welchen Eingang wir bei euch hatten und wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen … (1Thes 1,9).

… wie viel mehr wird das Blut des Christus, der sich selbst … dargebracht hat, euer Gewissen reinigen von toten Werken, damit ihr dem lebendigen Gott dient! (Hebr 9,14).

Mit der Bekehrung ist ein Mensch zum Dienst berufen

Mit der Bekehrung ist ein Mensch zum Dienst berufen. Das bedeutet nicht, dass Gott uns als seine Kinder in ein Arbeitslager steckt und ausbeutet. Die Aufgaben, die Gott uns gibt, machen Sinn und stellen innerlich tief zufrieden. Arbeit ist der Freude Würze, vor dem Festkleid kommt die Schürze, heißt es in einem Gedicht von Waltraud Puzicha. Ole Hallesby beschreibt in seinem Buch „Unsere Kraft wächst aus der Stille“ den persönlichen Gewinn, den wir empfangen, wenn wir dienen:

„Wir können keine reinere und tiefere Freude erfahren, als die, die uns erfüllt, wenn wir anderen dienen. Es sind nicht nur die frohen Gesichter und dankbaren Blicke der Menschen, denen wir geholfen haben, welche unser Leben mit Reichtum und Freude erfüllen. Noch wichtiger ist, was in unseren Seelen geschieht. Dienen zu dürfen ist der natürlichste Ausdruck der Liebe. Darum übertrifft die Freude und tiefe Befriedigung des Dienstes alle anderen Freuden.“5 Das ist nachzuempfinden. Jens, einer meiner Mitarbeiter bei Teenagerfreizeiten, bekannte: „Ich fahre meist übermüdet, aber auch überglücklich nach Hause.“

Das griechische Wort diakonos entstammt dem profanen Sprachgebrauch und bezeichnet zum einen den Boten, jemanden, der eine wichtige Nachricht zu übermitteln hat – hier ist also durchaus auch der „Dienst am Wort“ gemeint.6 Der Begriff meint aber vor allem den, der zu Tisch dient7 , einen Sklaven also. Die Diener (diakonoi) bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2) sagen während der gesamten Handlung nichts. Im Gegenteil – sie bekommen die Anordnung: „Was er euch sagen wird, das tut“ (Joh 2,5). Die offiziell in Apg 6,1-7 eingesetzten Diakone, hatten den Auftrag, die Bedürftigen zu versorgen.

Wir sind schnell dabei, zu sagen: „Wir dienen Gott am Wort.“ Bei „Dienst“ handelt es sich aber in erster Linie um Handlungen. Und es gibt im ganzen Neuen Tes­tament nicht ein Buch – kein Evangelium, kein Brief, nicht die Offenbarung – kein Buch, das nicht die guten Werke ausdrücklich betont (Beispiele: Mt 5,16; Röm 12,20; Gal 4,18; Kol 3,12; Hebr 13,16; 1Petr 2,20b; 3Jo 11; Offb 2,19 …) Alle Stellen aufzulisten und zu kommentieren, würde den Rahmen sprengen – sei aber als eine lohnende Bibelarbeit empfohlen …

Dazu ist es bezeichnend, dass die Geschichte der Urgemeinde, wie wir sie in der Apostelgeschichte finden, im Griechischen „Taten der Apostel“ heißt, im Englischen „Acts“, nicht „Lehren“ oder „Wahrheiten der Apostel“.

Jünger sollen an ihrer Liebe erkannt werden (Joh 13,35). Wenn man uns an der Liebe erkennt, dann an dem Tuch, das wir um unsere Hüften gebunden haben. Die Apostel waren ausgebildet worden, dienende Leiter zu sein. Und sie leiteten nicht nur, indem sie Gott dienten, sondern auch, indem sie anderen dienten.

1.3 Stichwort „Liebe“

Lukas 10,25: Und siehe, ein Gesetzesgelehrter stand auf und versuchte ihn und sprach: „Lehrer, was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu erben?“ Eine sehr gute und wichtige Frage. Doch der Beweggrund ist fragwürdig. Wahrscheinlich war der Mann ein Spitzel des Hohenrates, der Jesus beschatten sollte. Jesus begegnete so manchem Fragesteller, der in Wirklichkeit ein Fallensteller war.

Jesus antwortet ihm: „Das solltest du eigentlich wissen, mein Freund. Du bist doch Schriftgelehrter. Was steht denn in der Schrift? Was ließt du?“

Von seinen Stimmbändern spult er sofort auswendig ab:

„Du sollst den HERRN deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand und deinen Nächsten wie dich selbst. Fünfte Mose 6, Vers 5 und dritte Mose 19, Vers 18“.

Hatte er schon in der Sonntagschule gelernt, in der Jungschar wiederholt, im biblischen Unterricht durchgenommen, in Teenkreis als Anspiel aufgeführt, in der Jugendgruppe besprochen, im Hauskreis erörtert und auf der Bibelschule als Prüfungstext gehabt. Also da war er drin in der Materie. Bravo, gut aufgepasst. Jesus sagt: „Richtige Antwort! Religion: Eins! Tu dies und du wirst leben!“

Allzu oft sind die Worte Gottes lediglich Daten, die wir in unserem Kopf haben

An Wissen – zumindest der wichtigsten biblischen Aussagen – mangelt es uns normalerweise nicht. Der Mann wusste die gespeicherten Worte im richtigen Moment abzurufen. Doch allzu oft sind die Worte Gottes lediglich Daten, die wir da in unserem Kopf haben. Mögen diese Wörter eine Seele bekommen, sie zu atmen anfangen, sich zubewegen; mein Anliegen ist, dass so ein Bibelspruch Augen kriegt und dich ansieht.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Liebe zeigt sich letztendlich im Opfer. In Johannes 15,13 erklärt Jesus, was Liebe praktisch bedeutet. Er sagt: „Größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.“ Natürlich sprach Jesus von seinem eigenen Tod. Sein Opfer ist der tiefste Ausdruck für Liebe in der Geschichte der Menschheit. Die Gemeinde entstand aus einer Tat der Liebe. Und sie besteht aus Taten der Liebe. Die Liebe ist so zentral für Gott und für die neutestamentliche Gemeinde, dass wir ohne sie keinen Anspruch darauf haben, uns Jünger Christi zu nennen.

Einige seiner Nächsten fand der Gesetzeslehrer abscheulich. Sie waren dumm und dreckig, nicht liebenswürdig. „Nächster“, das konnte sich doch nicht auf diese beziehen! So fragt er: „Wer ist mein Nächster?“

Jesus erzählt dem gelehrten Mann (wie im Kindergarten) eine Räubergeschichte: Ein Reisender wird zusammengeschlagen, ausgeraubt und halbtot am Straßenrand liegengelassen. Ein Priester eilt vorbei ohne anzuhalten. Ebenso ein Levit. Schließ­lich kommt ein Samariter. Er gehörte zu denjenigen Menschen, die der Gesetzeslehrer unerträglich fand und als Abschaum betrachtete. Doch genau dieser hält an und hilft.

Dann fragt Jesus: „Wir suchen eine Definition für den Begriff ‚Nächster’. Also, wer von den dreien ist deiner Meinung nach der Nächste von dem, der unter die Räuber fiel?“

Der Gelehrte kann nur antworten: „Derjenige, der mit ihm barmherzig war.“

Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin und handle du ebenso! (Lk 10,37).

Liebe ist ein Tuwort. Liebe ist ein Imperativ, ein Gebot – und schließt diejenigen ein, die wir als nicht liebenswürdig ausschließen.

Bis Mitte letzten Jahres eroberte sie auf einen Stock gestützt allabendlich die Dresdener Neustadt: Sabine Ball. Mit 84 Jahren holte sie der Herr am 7. Juli 2009 plötzlich heim; sie, die man „Mutter Teresa von Dresden“ nannte. Sabine Ball war bis zuletzt Gefangenenseelsorgerin und Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, für die niemand Zeit hat. Regelmäßig sah man, wie sie sich unter eine Gruppe von Punkern mischt, einem jungen Mann mit Irokesenschnitt behutsam auf die Schulter klopft … Was sie antrieb, war weiter nichts als Liebe.

Wenn wir den beiden Geboten gehorchen würden, Gott und den Nächsten zu lieben, dann würden wir unsere Liebe darin ausdrücken, unseren Nächsten zu dienen – und genau dadurch würde auch unsere Botschaft an die Welt für viele unwiderstehlich. Die Leute würden hören wollen, was wir zu sagen haben.

2. Die Betätigung von Sozialdiakonie in der Praxis

Eine ausgeprägte diakonische Gesinnung können wir bei den Gründervätern der so genannten Erweckungszeit beobachten.

2.1 Waisenhäuser und Diakonissen

Die Brüderbewegung in England und Deutschland entstand in der Epoche der industriellen Revolution Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Begriff seht im Zusammenhang mit der Französischen Revolution. Es war die Zeit einer rasanten Entwicklung von Technologie, Produktivität und Wissenschaften. Schmerzliche Folge allerdings war die Verarmung breiter Volksschichten. Die sozialen Missstände in dieser Zeit waren enorm.

Dienst am Nächsten nahm in vorbildlicher Weise Georg Müller wahr; und zwar tat er Gutes gerade den letzten Gliedern der Elendskette, nämlich den Kindern. Er ist als „Waisenvater von Bristol“ weltweit bekannt geworden. Im Laufe seines Lebens sorgte er dafür, dass zehntausend Kinder ein menschenwürdiges Dasein und eine Ausbildung erhielten. Auf sein junges Glaubensleben zurückblickend sagte Müller einmal:

„Auch wenn ich noch sehr schwach und unwissend war, hatte ich doch durch die Gnade ein gewisses Verlangen danach, anderen Gutes zu tun. Ich, der ich einst so treu Satan gedient hatte, versuchte nun, Menschen für Christus zu gewinnen.“8

Im Schwesternmutterhaus „Persis“ in Wuppertal-Elberfeld wurde 1929 das Anliegen des Hauses so beschrieben:

„Weibliche Personen zur Ausübung christlicher Liebestätigkeit heranzubilden, sei es zur Krankenpflege, zur Pflege von Kindern … zur Betreuung von Alten und Gebrechlichen oder zur Ausübung von Diakonie und Fürsorgewesen.“

2.2 Betätigungsfelder

Halten wir uns an dieser Stelle nicht allzu lange mit der Vergangenheit auf, sondern fragen wir viel mehr: In welchen Bereichen können wir uns heute sozial engagieren? Welche neuen Wege können wir gehen?

Zunächst aber noch eine Frage, die wir im theologischen Teil am Anfang ausgespart hatten: Erfordert diakonische Arbeit eine besondere Gnadengabe? Laut Römer 12,6-7 eindeutig ja: Da wir aber verschiedene Gnadengaben haben … es sei Dienst im Dienen … Charles Ryrie schreibt in seinem Buch Ausgewogen statt abgehoben:

„Drei Gaben könnten wahrscheinlich alle Christen haben und gebrauchen, wenn sie es wollten: Dienen, Geben und Barmherzigkeit.“

Seine Begründung ist, dass ein geistlicher Christ solches tun muss9 , und darum die geistliche Ausrüstung nötig hat.

Doch selbst wenn du sagen würdest: „Das ist nicht meine Gabe …“ dann gehörst du zumindest einer Gemeinde an, in der die Gabe vorhanden sein dürfte.

Ich nenne zunächst drei allgemeine Bereiche: Wir können uns engagieren 1. privat, 2. innerhalb eines Berufes, 3. als Gemeinden.

2.2.1 Privat

… als Nachbarschaftshilfe beispielsweise. Private Initiativen sind wohl die häufigsten unter uns, auch wenn sie kaum wahrgenommen werden.

Bei unserem Sonntagabendtreff in Dillenburg haben sich Jonathan, Sven und Benny vorgenommen, Nächstenliebe zu üben. Aber wie? Sie fuhren nach Siegen. Und da? Da haben sie erst einmal festgestellt, dass sie nichts können, nichts haben und nichts sind. Doch, etwas hatten sie: Zwei Euro. Dann haben sie gebetet: „Herr, gebrauche uns!“ Nach dem „Amen“ fiel Jonathans Blick auf das Schaufenster eines Bäckers: „20 Brötchen für 2 €“. Sie kauften die Brötchen und suchten Leute, die sich darüber freuen. U.a. trafen sie einen Landstreicher. Der kriegte von dem Gebäck und ein Gespräch über Jesus – beides gratis. Mit Tränen in den Augen verabschiedete er sich am Ende: „Ich denke an euch, wenn ich heute Abend mein Brötchen esse.“

Echte Glaubenserfahrung im persönlichen Leben macht man weniger durch das Nachgrübeln über dogmatische Probleme

Eine einfache Geschichte/ Idee, wie die meisten, die aus Liebe heraus geboren sind. Echte Glaubenserfahrungen im persönlichen, privaten Leben macht man halt weniger durch das Nachgrübeln über dogmatische Probleme. Wer Jesus Christus ist, erfährt man nach Matthäus 25 von den gefangenen, hungernden, verfolgten Brüdern. In ihnen will er uns begegnen.

2.2.2 Innerhalb des Berufes

Die meisten Leser hier mögen beruflich bereits längst festgelegt sein. Ich habe viel mit jungen Leuten zu tun. Da sage ich es manchmal: „Eure Berufung kann was mit eurem Beruf zu tun haben.“ Viele Teenager sind am Überlegen, was sie mal machen sollen – meine Nichte schwankte lange zwischen Sängerin und Unfallärztin.

Redest du über so etwas mit den Jugendlichen aus deiner Gemeinde? Frag doch mal einen: „Was denkst du darüber, dass viele alte Menschen vernachlässigt werden, weil es zu wenig Pflegepersonal gibt? Vielleicht sagt Gott zu dir: ‚Ich brauch dich. Leg deine Berufspläne zum Altpapier. Du wirst Altenpfleger/in.’“

Vielleicht ruft er sogar einen von euch, der schon einen Beruf hat, und sagt: „Komm, sattle um, du hast lange genug unter dem Auto gelegen und dich mit Öl beschmiert. Das macht ab jetzt ein anderer, für dich hab ich was Neues.“ Für neue Aufgaben wurden im Alten Testament Leute gesalbt … Auf das Öl müsstest du also gar nicht mal verzichten.

Wäre es nicht angebracht, wenn Stellen, wo man mit Menschen arbeitet – Lehrer, Sozialarbeiter, Pflegeberufe usw. – vorwiegend mit Christen besetzt wären?

2.2.3 Als Gemeinden

Der diakonische Einsatz der Jerusalemer Gemeinde trug dazu bei, dass die Christen Anerkennung beim ganzen Volk fanden und Menschen zum Glauben an Jesus Christus kamen (Apg 2,47).

In enger Beziehung zu ihrer Ortsgemeinde stehen z.B. die Gefährdetenhilfe „Kurswechsel e.V.“ in Wuppertal-Barmen oder in Görlitz der Verein „Einer für alle e.V.“. Diese Arbeiten haben überaus belebende Auswirkungen auf die jeweilige Gemeinde. Ich sage aufgrund meiner Beobachtungen: Diakonisch aktive Gemeinden sind wachsende Gemeinden!

Auch in Neunkirchen ist das so. Die Gemeindeglieder dort engagieren sich seit zwei Jahren.10 Jeder der Bedürftigen gibt einen kleinen Geldbeitrag von 50 Cent bis maximal zwei Euro ab, damit er nicht das Gefühl hat, als Bettler da zu stehen. Jürgen Osenberg, eine der fünf Personen im Vorstand, sagte dazu: „So ist es für sie, als hätten sie ein gutes Schnäppchen gemacht.“ Deutschlandweit gibt es 700 Tafeln, wozu noch 200 weitere kommen werden, die sich neu gründen möchten. Mittlerweile versorgen die Mitglieder im Verein „Neunkirchener Tafel“ zweimal wöchentlich 200 Bedürftige – darunter 70 Kinder – mit Nahrung, Kleidung, Pflegemitteln und Evangelium. Als ich neulich zu einem Predigt-Dienst dort war, saßen am Mittagstisch neben mir drei Ehepaare im Rentenalter und es ging die ganze Zeit um kein anderes Thema als die Tafel … Es war eine Freude zuzuhören!

Liebe bewirkt, dass wir den Ort/die Region, in die Gott uns jeweils als Gemeinde gestellt hat, mit offenen Augen sehen. Nicht an jedem Ort wird diese Beobachtung zeigen, dass etwa Armenspeisung oder Migrantenhilfe angesagt ist. Vielleicht aber Besuchsdienste, Familienhilfe, häusliche Krankenpflege oder Randgruppenarbeit. Es gibt wohl an die 7 Milliarden Wege, Güte zu vermehren – so viele wie es Menschen gibt. Dabei ist ein wenig Kreativität gefragt.

Ohne Tat ist Evangelisation herzlose Propaganda!

Räumen wir doch einmal in den Gremien, in denen wir zusammensitzen, die vielen kleinkarierten Themen von der Tagesordnung (oder stellen sie hinten an), und überlegen, was wir für das Allgemeinwohl tun können! Mission ist mehr, als alle zwei Jahre einen einzuladen, der eine fünftägige Vortragsreihe hält. Ohne Tat ist Evangelisation herzlose Propaganda!

Es sage keiner, es mangele an Gelegenheiten. „Wer ist mein Nächster?“ Da sitzen Leute im Wohnzimmer ihres Lebens wie im Wartezimmer, wo sie jeden, der reinkommt, beurteilen und warten, bis einer kommt, der vielleicht ihr Nächster sein könnte.

Im Blick auf unsere gegenwärtige Situation will ich zwei Bedarfsfelder nennen: Erstens: Kinderarmut in Deutschland. Zweitens: Alte Leute in Deutschland.

2.2.4 Kinderarmut

In Deutschland gibt es für Armut zwei Hauptursachen: Erstens: Arbeitslosigkeit. Zweitens: Viele Kinder.

Von Armut betroffen sind Familien oder Alleinerziehende, die Arbeit und Kinder nicht unter einen Hut bringen können. Auch wenn die Eltern eine Arbeit haben, ist oft nicht ausreichend Geld vorhanden. Die Einkommen der ärmsten Deutschen sind seit den 90er Jahren um 13 Prozent gesunken. Das bedeutet, dass auch Nicht-Hartz-IV-Empfänger schlimm dastehen können.

Die Wirtschaftskrise zeigt, dass die Ursachen der Armut auch globaler Natur sind. Länder wie China und Indien drängen immer mehr auf den Markt der Weltwirtschaft, und damit auch immer mehr gering qualifizierte Arbeiter. Das Angebot an Arbeitsplätzen kann die entsprechende Nachfrage aber nicht befriedigen. Arbeit wird somit immer knapper, das sagen sämtliche Prognosen voraus. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter an. Armut breitet sich immer mehr aus. Stellen wir uns darauf ein …

2.2.5 Alte Menschen

Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, droht die Opakalypse, wie Markus Spieker es in seinem Buch „Mehrwert“ ausdrückt. Die Wohnsilos werden bevölkert sein von Millionen alter, armer Menschen, die kaum das Geld für warme Mahlzeiten zusammen kriegen, geschweigen denn für neue Hüftgelenke. Da trifft es sich doch gut, dass Christen ohnehin eher in Suppenküchen in ihrem Element sein sollten als in Kongresszentren oder Ballsälen.11

2.3 Was uns abhält

Wir haben einen klaren Auftrag und es gibt einen klaren Bedarf … Was hält uns eigentlich von sozialdiakonischem Dienst ab? Es sind fünf Faktoren, die mir auffielen. Zwei hängen mit der deutschen Geschichte zusammen, drei andere mit unserer Herzenshaltung.

Historisch gesehen sind Christen schon immer dem Weg von Jesus Christus gefolgt und haben die Botschaft der Liebe nicht nur engagiert verkündet, sondern auch in ihrem sozialen Handeln demonstriert.

2.3.1 Der Sozialsaat

Von der Antike bis ins Mittelalter wurden zahlreiche diakonische Dienste von der Kirche getragen: Gründung und Führung von Hospizien, Armenhäusern, Waisenheimen … Aus der industriellen Revolution ergab sich plötzlich aus den genannten Gründen die „Soziale Frage“; man begann die akute Not zu lindern und deren Ursachen zu bekämpfen.

Ich werte staatliche Hilfen nicht ab, stelle aber fest, dass ehrenamtliches Engagement seit der Zeit von Georg Müller mit den Angeboten des Sozialstaates deutlich zurückgegangen ist.

Kann aber die Gemeinde Jesu den diakonischen Auftrag ganz an staatliche Institutionen delegieren? Niemals. Damit würde sie ausdrücken, dass alles, was der Mensch zum Leben braucht ein Obdach, Kleidung und Nahrung sei. Das Wichtigste, nämlich das Angebot der Errettung durch Jesus Christus, können notleidenden Menschen von professionellen, staatlichen Institutionen nicht erwarten. Wir sind als Gotteskinder sozial tätig gefragt, daran führt keine Bundesstraße vorbei.

Doch der Sozialstaat ist nicht der einzige Grund, dass wir entscheidend wichtige Aufgaben anderen überließen.

2.3.2 Die Folgen liberaler Theologie

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch einmal einen besonderen Einschnitt, an dem viele Gemeinden ihr „soziales Gewissen“ verloren. Das lag an einer Gegenbewegung zum theologischen Liberalismus. Das biblische Konzept von Schuld und Erlösung wurde als vernachlässigbar bewertet, der Wert der Bibel reduziert und die Bedeutung sozialen Handelns dafür hervorgehoben.

Ich wage zu behaupten, dass viele bibeltreue Christen, statt nur einen Teil des theologischen Liberalismus abzulehnen – nämlich die Entwertung der Bibel –, alle seine Einsichten ablehnten und damit auch das soziale Handeln. Es wäre besser gewesen, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten – das Kind des sozialen Handelns nicht mit dem Bade der Bibelkritik.12

Nebenbei bemerkt klingt es ausgesprochen gut, was man in der Präambel der Satzung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland formuliert hat (und zwar schon lange vor der EKD-Synode 1999 in Leipzig):

„Die Kirche hat den Auftrag, Gottes Liebe zur Welt in Jesus Christus allen Menschen zu bezeugen. Diakonie ist eine Gestalt dieses Zeugnisses und nimmt sich besonders der Menschen in leiblicher Not, in seelischer Bedrängnis und in sozial ungerechten Verhältnissen an … Da die Entfremdung von Gott die tiefste Not des Menschen ist und sein Heil und Wohl untrennbar zusammengehören, vollzieht sich Diakonie in Wort und Tat als ganzheitlicher Dienst am Menschen.“

Das kann man doch inhaltlich bejahen! Und wenn wir meinen, dieses Anliegen optimieren zu können, dann sollten wir es tun!

Die drei anderen Steine, die es aus dem Weg zu räumen gilt, haben mit unserem alten Menschen zu tun. Ich selbst fahre auch lieber den Computer hoch, als dass ich die Ärmel hochkremple. Ich schreibe lieber erbauliche Texte, als einen Kältebus für Obdachlose zu steuern.

2.3.3 Reservierte Haltung

Nächstenliebe, meinen wir vielleicht, beziehe sich ausschließlich auf unsere Glaubensgeschwister. Man führt Galater 6,10 an: … das Gute wirken, am meisten aber gegenüber den Hausgenossen des Glaubens.

„Am meisten aber“ heißt eben nicht „ausschließlich“! „Allen gegenüber“, steht da vollständig. Dieses Argument greift also nicht. Manche Christen meinen: „Gläubige haben mit Ungläubigen nicht genug gemeinsam, um wirklich Freunde sein zu können …“ Diese Art zu denken, leugnet das größte Gebot, und raubt der Gemeinde die Kraft, die sie braucht, um ihrer Berufung nachzukommen in alle Welt zu gehen.

2.3.4 Gleichgültigkeit

Wir entrichten einen Obolus, feiern uns dafür ein wenig und verhalten uns hinterher wieder genauso wie vorher

Ich sehe die Gefahr, dass uns das, was sich hinter den Kulissen abspielt, nicht interessiert: das Leid in der Welt, den vielen Schmerz. Verfolgte, Hinterbliebene und Arme. Genauso wie Kranke, Sterbende und Behinderte. Die leben hinter den Kulissen, ohne Lobby – werden allenfalls zu vereinzelten Repräsentationszwecken kurz auf die Bühne geholt. Da dürfen sie sich dann artig verbeugen, wie nach einer gelungenen Vorstellung, und geräuschlos wieder abtreten. Wir entrichten einen Obo­lus, feiern uns dafür ein wenig und verhalten uns hinterher wieder genauso wie vorher.

Was wir nicht sehen wollen, sehen wir nicht. Was wir nicht wissen wollen, wissen wir nicht. Sage ab sofort: „Ich will es wissen!“ Mein Wunsch und Gebet ist, dass wir die eingefahrenen Gleise verlassen. Dass wir als Christen nicht nur die eigenen Ansprüche sehen und damit Teil einer kalten, entfremdeten und lieblosen Gesellschaft sind.

Gibt es bei dir in der Straße eine Familie, die den Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen ist und auf der Strecke geblieben ist? Das erkennt man an ihren leeren Blicken und verwahrlosten Bau, in dem die leben. Oder kennst du einen, der das Trinken angefangen hat? Bei dem ist der Absturz vorprogrammiert. Sieh hin! Aber sieh nicht nur zu! Hör in die Nacht hinein, ob da jemand schreit oder wimmert!

2.3.5 Geiz

Der Apostel Johannes stellt eine Verbindung zwischen Geld und der Liebe her: Wer aber irdischen Besitz hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm? (1Jo 3,17).

Das Neue Testament behandelt das Thema des Gebens ausführlich und unverblümt. Es gibt Gebote, praktische Vorschläge, Warnungen, Beispiele und Aufforderungen, die diesen wichtigen Dienst ansprechen. Wenn wir solche Abschnitte in der Bibel lesen, denken wir ständig an jemanden, der sich in der nächst höheren Einkommenstufe befindet und ziehen für ihn die Lehren aus solchen Stellen. Dabei vergessen wir, dass es auch solche gibt, die weniger Einkommen als wir haben und die im Blick auf eine Anwendung dieser Lehre an uns denken …

Mit unseren Worten machen wir uns manchmal Feinde – aber es nützt nichts, Wahrheit muss gesagt werden. Mit unserem Geld/Dienst können wir uns Freunde machen (Lk 16,9). Nicht, dass wir die Leute „kaufen“ wollen, aber wir wollen sie gewinnen.

Doch solange wir uns von Gott nicht von Geiz, Egoismus und Lieblosigkeit befreien lassen, bleibt unser Glaube nur ein Lippenbekenntnis. Wir klappern wie Mühlen, ohne Mehl zu produzieren.

Gottesliebe ist Voraussetzung für Nächstenliebe

Die hier angesprochenen Hinderungspunkte erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Weitere Aspekte können sein, dass Gemeindemitglieder Gott gar nicht lieben. Gottesliebe ist Voraussetzung für Nächstenliebe. Der liebevollste und effektivste Dienst geht aus der Anbetung Gott gegenüber aus. Auch zu voll gestopfte Gemeindeprogramme können uns am sozialen Dienst hindern. Wie schade, wenn wir vor lauter Veranstaltungen keine Zeit mehr für die Menschen um uns herum finden …

2.4 Nicht aus Eigennutz!

Nachdem wir das alles gesehen und vielleicht eingesehen haben, will ich am Ende noch auf eine Gefahr hinweisen. Abschließend noch etwas über die Motivation unserer guten Werke: Wir müssen bei all dem nämlich aufpassen, dass uns keine eigennützigen Beweggründe antreiben.

Fjodor Dostojewski erzählte die Geschichte einer Frau, die starb und in die Hölle kam. Aufgebracht darüber, dass dies ihre Endstation sein sollte, forderte sie den Himmel heraus, ihr einen Grund zu nennen, wieso sie nicht dort oben sei.

Als Petrus ihr Geschrei über die vermeintliche Ungerechtigkeit hörte, sprach er sie an und sagte: „Nenn du mir einen Grund, warum du im Himmel sein solltest.“

Sie hielt inne, überlegte gründlich und sagte dann: „Einmal habe ich einem Bettler eine Karotte gegeben.“

Petrus sah in seinem Buch nach und stellte fest, dass das tatsächlich stimmte. Es war eine ziemlich magere alte Karotte, aber sie hatte sie dem Bettler gegeben. Petrus sagte ihr, sie solle einen Moment warten, sie würden ihr hinaufhelfen. Er nahm eine lange Schnur, band eine Karotte ans Ende und ließ sie in die Hölle hinab, damit sie sich daran festhalten könnte. Sie klammerte sich daran und er fing an, sie daran sie hinaufzuziehen.

Andere in der Hölle sahen, wie sie allmählich aus ihrer Mitte verschwand, und hielten sich an ihren Knöcheln fest, um auch mitzukommen. Als immer mehr von ihnen sich anklammerten, fing die Schnur an nachzugeben, und sie schrie aus Leibeskräften: „Lasst mich los! Das ist meine Karotte, nicht eure!“ Kaum hatte sie das gesagt, da brach die Karotte.

Selbst die besten Taten können eigennützig sein und wir alle brauchen die Gnade Gottes, um in seine Gegenwart einzutreten.13 Aus Gnade sind wir errettet, nicht aus Werken! (Eph 2,8-9).

Handle!

Was meinst du, Herr Gesetzeslehrer, wer von diesen dreien der Nächste dessen gewesen ist, der unter die Räuber gefallen war? Er aber sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm übte. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin und handle du ebenso (10,36-37).

Der Gelehrte wollte wissen: Wer ist mein Nächster? Vordergründig könnte man meinen, der Nächste sei so ein armer Kerl am Wegesrand. Aber das stimmt ja nicht. Jesus fragt: Wer von diesen dreien (das sind der Priester, der Levit und der Samariter) der Nächste dessen war, der unter die Räuber fiel. Das Opfer des Überfalls steht gar nicht zur Debatte.

Jesus reißt die Tür zum Wartezimmer deines Lebens auf und sagt: „Der Nächste bitte!“

Mit dieser Geschichte dreht Jesus den Spieß herum. Er reißt die Tür zum Wartezimmer deines Lebens auf und sagt: „Der Nächste bitte!“ Und damit meint er dich. Er erwartet er von dir, dass du aufstehst, dass du losgehst, dass du handelst.

Ich würde gerne dabei sein, wenn die ältere chinesische Dame vor Gott tritt und erkennt, wie Gott die Wirkung ihrer Tat vervielfacht hat – dabei hatte sie nur einigen Soldaten etwas Brot und Wasser gegeben.


  1. Jim Petersen, Der Insider, Evangelisieren durch Beziehungen, Bielefeld 2004, S. 159-60. 

  2. Seit den 1950er Jahren fußen die meisten Missionstheologien in der missio dei (lat. „Gottes Mission“) und nicht mehr bei der Kirche als Subjekt der Mission. Dieser Begriff setzte sich in der Folge der Weltmissionskonferenz von 1952 in Willingen (Deutschland) schnell durch und wurde vor allem von Georg Vicedom verbreitet. wikipedia.de 

  3. Petersen, S. 75. 

  4. Wolfgang Polzer, So viel Mission war nie in der EKD, IDEA-SPEKTRUM (Nr. 40, 30. September 2009), S. 14. Vgl. Thomas Schneider, Vom Streitbegriff zum Leitbegriff. schneider-breitenbrunn.de 

  5. Ole Hallesby, Unsere Kraft wächst aus der Stille, Lektionen eines Lebens mit Jesus, Wuppertal 2001, S. 33. 

  6. Alles aber von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat, <nämlich> dass Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnte, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnete und in uns das Wort von der Versöhnung gelegt hat. So sind wir nun Gesandte an Christi Statt, indem Gott gleichsam durch uns ermahnt; wir bitten für Christus: Lasst euch versöhnen mit Gott! (2Kor 5,18-20)  

  7. Lieselotte Matter, Diakon, -in, -isse, EVANGELISCHES LEXIKON FÜR THEOLOGIE UND GEMEINDE, Band 1, Zürich Wuppertal 1992, S. 428. 

  8. Gerhard Jordy, Nicht vergeblich vertraut, Ein Lebensbild Georg Müllers, Schwelm 2005, bruederbewegung.de. 

  9. Charles C. Ryrie, Ausgewogen statt abgehoben, Der Weg zu einem echten geistlichen Leben, Dillenburg 2007, S. 121-22. 

  10. Der Verein „Neunkirchener Tafel“, der im Oktober 2007 gegründet wurde und in den Räumen der christlichen Gemeinschaft in der Kölner Straße 241 seinen Sitz hat, hilft Bedürftigen und sozial schwachen Menschen, indem er Lebensmittel von Geschäften und Märkten weitergibt.

    Die Tafel bekommt die Spenden zuerst einmal von den Geschäften, die dort mit beteiligt sind, aber auch viele Geldspenden von Firmen und Privatpersonen. Die ganze Organisation ist ehrenamtlich tätig, mit inzwischen über 40 Mitarbeitern.

    An den Ausgabetagen dienstags und freitags holen vormittags fleißige Hände in den örtlichen Geschäften die Lebensmittel ab, die anschließend von ebenso fleißigen Händen vorsortiert und bedarfsgerecht vorgepackt werden. Im Tafel-Café warten die Menschen, bis sie zur Lebensmittel-Abholung aufgerufen werden.

    Die Neunkirchener Tafel sorgt sich nicht nur um das leibliche Wohl, um Lebensmittel, sondern bietet den Bedüftigen auch Hilfe in Gesprächen, z.B. über Alltagsthemen, seelsorgerliche Themen oder auch Glaubensthemen an, in denen ein gewisses Vertrauen aufgebaut werden kann. 

  11. Markus Spieker, Mehrwert, Glauben in heftigen Zeiten, Lahr 2007, S. 156. 

  12. Nick Pollard, Von Jesus reden?!, Evangelisieren ein bisschen einfacher gemacht, Marburg 2008, S. 76.