Auch im Frühjahr 2015 wurde es wieder vermeldet: Die Zahl der Abtreibungen in Deutschland sei zurückgegangen und habe nun erstmals seit der regelmäßigen Erfassung durch das Statistische Bundesamt eine Zahl unter 100.000 erreicht. Pro Familia lieferte ein wenig kryptisch und noch weniger überzeugend eine Erklärung für diese Entwicklung. Bessere Sexualaufklärung, umfassende Beratungsangebote und ein verändertes gesellschaftliches Klima wirkten hier positiv zusammen. Das klingt eher wie Eigenwerbung als nach einer plausiblen Erklärung.1
Zuerst einmal: Selbst wenn die Zahl von 100.000 Tötungen im Mutterleib die Realität widerspiegelte, wäre das ein Grund, dass eine Gesellschaft alle Hebel in Bewegung setzen müsste, um jeden einzelnen Tod zu verhindern. Statt dessen wird die Zahl allgemein mit Gleichmut hingenommen.
Was wäre, wenn jeden Monat gemeldet würde, eine Kleinstadt oder ein Stadtteil mit 8300 Menschen sei ausgelöscht worden?
Was wäre, wenn jeden Monat gemeldet würde, dass eine Kleinstadt oder ein Stadtteil mit mehr als 8300 Menschen ausgelöscht wurde? Alles würde getan, um die Ursache zu bekämpfen, sei es ein Krieg, ein Virus, eine Seuche, einstürzende Gebäude, Unfälle oder Massenmörder. 100.000 Abtreibungen werden einfach hingenommen. Im reichen Europa übersteigt die offizielle Zahl jährlich die Millionengrenze und weltweit kommen nach zurückhaltenden Schätzungen mehr als 40 Millionen Kinder pro Jahr im Mutterleib zu Tode. Alle anderen Todesursachen zusammengenommen schaffen es gerade über die 50 Millionen.
Um es kurz und knapp zu sagen: Niemand kennt den Grund, warum die Zahl der in Deutschland beim Statistischen Bundesamt erfassten Abtreibungen rückläufig ist und es weiß auch niemand, ob tatsächlich die gewaltsamen Abbrüche der Schwangerschaft weniger geworden sind.
Die Zahlen gelten wohl als Erfolg für das zuletzt 1995 reformierte Abtreibungsrecht in Deutschland und daran scheint niemand rütteln zu wollen. Dabei wäre es längst an der Zeit, denn der Gesetzgeber ist durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993 dazu verpflichtet, zu überprüfen, ob die Reformen des Paragraphen 218 zu einem besseren Schutz von ungeborenen Kindern geführt haben.
Auf dem Statistikbogen, den Ärzte ausfüllen sollen, steht das so:
„Der Bundesgesetzgeber folgt mit dieser Bundesstatistik den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das in seinem Urteil zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vom 28. Mai 1993 ausdrücklich hervorgehoben hat, dass der Staat aufgrund seiner vom Grundgesetz gebotenen Schutzpflicht für das ungeborene Leben verpflichtet ist, bei einer gesetzlichen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs mittels Bundesstatistik zu beobachten, ob eine Nachbesserung und Korrektur dieser Regelungsmaterie notwendig ist.”
Wäre es da nicht angebracht, die erhobenen Zahlen auch kritisch zu überprüfen?
Gibt die Statistik die Tatsachen wieder?
Wer sich die Statistiken des Bundesamtes genau ansieht, muss stutzig werden, ob die jährlich genannten Zahlen die Tatsachen wiedergeben. Bis zum Jahr 2000 hatte das Bundesamt bei seiner Veröffentlichung selber darauf aufmerksam gemacht, dass man nicht sagen kann, wie zuverlässig die Zahlen sind. Seitdem hat sich nichts an der Erhebung geändert, nur der Hinweis fehlt.
Dabei weist die Statistik selber Merkmale dafür auf, dass etwas nicht stimmt.
Sehr wahrscheinlich liegt es am Meldeverhalten der Ärzte und nicht an den tatsächlichen Abtreibungen, dass durchweg im 1. Quartal eines Jahres die meisten Tötungen gemeldet werden und die dann zum Ende des Jahres weniger werden. Die Zahl der gemeldeten Komplikationen liegt bei nur 0,3 % und damit viel niedriger als zu erwarten. Hier gäbe es auch eine einfache Möglichkeit, diese Zahlen mit denen zu vergleichen, die den Krankenkassen durch Abrechnungen vorliegen. Die Kosten einer Abtreibung werden nur auf Antrag bei geringem Einkommen erstattet, die Komplikationen aber bezahlen die Kassen.
Allerdings überprüft das Statistische Bundesamt die statistikübergreifende Kohärenz der Daten nicht. Das heißt, es werden keinerlei Vergleiche mit anderen Daten angestellt, um herauszufinden, welchen Wert die Statistik besitzt.
Dass die Statistiker selbst ihrer Datengrundlage nicht zu 100 Prozent trauen, ergibt sich aus folgendem Hinweis, der die Vollständigkeit der Meldungen seitens der abtreibenden Ärzte betrifft:
„Trotz intensiver Recherchen seitens der Fachabteilung können Fehler, die durch eine falsche oder unvollständige Erfassungsgrundlage bedingt sind, nicht völlig ausgeschlossen werden. Der Kreis der Berichtspflichtigen wird systematisch vervollständigt.
Aufgrund der Auskunftspflicht sind keine Antwortausfälle auf Ebene der Einheiten und Merkmale vorhanden.”2
Das Bundesamt weiß einfach nicht, ob tatsächlich alle Ärzte, die Abtreibungen durchgeführt haben, das den Ärztekammern gemeldet haben. Die aber geben die Adressen an das Bundesamt weiter, das dann die Statistikbogen verschickt.
Trotzdem ist es kaum vorstellbar, dass es tatsächlich „keine Antwortausfälle” gegeben hat. Das würde ja bedeuten, dass niemals ein Bogen aus Versehen oder wegen Krankheit oder aus sonst einem Grund nicht zurückgesandt wurde.
Will die Gesellschaft die grausame Wirklichkeit kennen?
Bereits 2012 hatte Manfred Spieker, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, darauf hingewiesen, dass es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass die offizielle Statistik höchstens die Hälfte der Tötungen von Ungeborenen ausweist. Er meinte, dass etwa die Zahl der Abbrüche nach kriminologischer Indikation in einzelnen Jahren bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung doppelt so hoch waren, wie in der Statistik des Bundesamtes. Auch die tatsächlichen Zahlen der getöteten Embryonen aus der künstlichen Befruchtung, die seit 2010 mitgezählt werden, seien viel höher. Außerdem sei es für Ärzte leicht, Kosten bei den Kassen unter anderen Positionen abzurechnen, ohne dabei zu betrügen.
Er mahnte, es sei „an der Zeit, realistische Abtreibungszahlen zur Kenntnis zu nehmen und das Schwangeren- und Familienergänzungsgesetz von 1995 zu ändern”.3
Die Gesellschaft will der grausamen Wirklichkeit der Abtreibung nicht ins Auge schauen.
Ein Ziel einer Änderung wäre es mindestens, die Gesellschaft dazu zu zwingen, der grausamen Wahrheit ins Auge zu sehen, denn nur gemeinsam lässt sich das Leben wehrloser Kinder retten.
nach der Meldung auf http://www.tagesschau.de/inland/abtreibungen-101.html ↩
Gesundheit: Schwangerschaftsabbrüche. Fachserie 12, Reihe 3. hg. Statistisches Bundesamt, 2015. Seite 5. ↩
Manfred Spieker, „Der Schutz ungeborener Kinder ist gescheitert“, http://www.welt.de/debatte/kommentare/article109226081/Der-Schutz-ungeborener-Kinder-ist-gescheitert.html ↩