Am einfachsten wäre es, Toleranz im Sinne einer Industrienorm zu erklären. Hier bedeutet Toleranz „die zulässige Abweichung von vorgegebenen Sollwerten“. So darf zum Beispiel auf der Etikette eines Hemdes stehen „reine Baumwolle“, wenn der Bestandteil an Baumwolle vielleicht nur 95% ausmacht. Das heißt: 5% Toleranz.
1. Was versteht man unter Toleranz?
Nicht so einfach ist es, Toleranz im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen zu definieren. So richtet man sich an einem mehr oder weniger vage vorhandenen Konsens aus. Wenn wir in der Schweiz mit Blick auf die vielen Ausländer hierzulande (18%) von Toleranz sprechen, verstehen wir darunter ungefähr,
- dass man fremde Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten gewähren lässt.
- dass man alle, also auch Minderheiten, als Gleichberechtigte ansieht und behandelt.
Das zugrundeliegende Verb tolerieren kommt aus dem lateinischen tolerare = „erdulden“. Unter tolerant versteht man demgemäß „duldsam, nachsichtig, großzügig, weitherzig“. Das Gegenteil intolerant bedeutet also „unduldsam, engherzig, keine andere Meinung oder Weltanschauung gelten lassend als die eigene“.
Diese Umschreibung von Toleranz trifft ungefähr das, woran man gemeinhin denkt, wenn man von „Toleranz“ spricht. So weit scheint die Sache einfach zu sein, und doch ist sie nicht so einfach, weil keine Einigkeit besteht darüber, welches die verbindliche Norm sei, an der das Verhalten der Menschen gemessen werden soll.
1.1 Das Verständnis von Toleranz seit der Reformation
Nach der Reformation begann sich im Protestantismus1 und später auch im Katholizismus folgendes Verständnis von Toleranz zu bilden:
„Toleranz ist die Haltung eines Menschen, der bereit ist, die Überzeugungen anderer, besonders weltanschaulicher oder moralischer Art, die er für falsch oder verwerflich hält, und ihre Äußerungen nicht zu unterdrücken. Sie besagt weder Billigung solcher Überzeugungen noch Gleichgültigkeit gegen das Wahre und Gute“.2
Im Westen begann im Gefolge der französischen Revolution das Verständnis der Aufklärung von Toleranz sich durchzusetzen, und dieses lautete etwa so:
Was für alle Menschen wahr und gut sei, wissen die Menschen, ohne dass sie von Gott, von der Bibel oder von der Kirche darüber belehrt werden müssen. Die Vernunft, der gesunde Menschenverstand, ist allen Menschen gegeben; darum nennen die Engländer den gesunden Menschenverstand „common sense“. Ein Beweis des common sense sei die Tatsache, dass alle Kulturen und Religionen weitgehend übereinstimmen in ihren Auffassungen über Verbotenes und Gebotenes. Es gibt so etwas wie ein „Naturrecht“, also eine von allen akzeptierte Rechtsordnung. Das, was im großen Ganzen alle Kulturen als wahr und gut ansehen, müsse man daher bei den Angehörigen einer anderen Kultur anerkennen, und man solle deshalb nicht versuchen, den anderen zu seiner Kultur und Religion zu bekehren. Ein jeder bleibe bei seinen kulturellen und religiösen Traditionen und lasse den anderen in den seinen leben. Ein Fürsprecher der Toleranz aus der Aufklärungszeit sagte:
„Ich predige nicht die Duldsamkeit. Unbeschränkte Religionsfreiheit ist in meinen Augen ein so geheiligtes Recht, dass das Wort Duldsamkeit, als Ausdruck hierfür gebraucht, mir gewissermaßen selbst tyrannisch erscheint“.3
Als Mirabeau sagte, das Wort „Duldsamkeit“, franz. tolérance, erscheine ihm tyrannisch, dachte er wohl an das Toleranzedikt von Nantes, das den Hugenotten in Frankreich Duldung gewährte. Solche Duldung lag aber weit unter dem Ideal eines Mirabeau und mit ihm jedes aufgeklärten Menschen: Alle Religionen sollen als gleichberechtigt angesehen werden. Als die mächtige und vom schier allmächtigen König gestützte Römisch Katholische Kirche den Hugenotten Toleranz gewährte, bewies sie damit nur, dass sie sich für die allein wahre Kirche und die alleinige Hüterin der Wahrheit hielt, also tyrannisch und intolerant war.
„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“.4
1.2 Das Verständnis von Toleranz in der Postmoderne
Um zu verstehen, wie das postmoderne Verständnis von Toleranz entstand, müssen wir einen Blick zurückwerfen in die Geistesgeschichte des europäischen Menschen.
Der mittelalterliche Mensch. Er war heteronom, d. h. er war nicht sich selbst Gesetz, sondern beugte sich einem ihm übergeordneten Gesetz: Die Kirche gab ihm alle Regeln und Normen für richtiges Glauben, Denken und Handeln.
Der protestantische Mensch. Auch er ist heteronom: Auch er weiß, dass die Wahrheit nicht in ihm ist; sie ist außerhalb von ihm. Aber anders als der mittelalterliche Mensch sucht er die Norm nicht in der Kirche mit ihren Überlieferungen und Ämtern, sondern allein im geschriebenen Wort Gottes.
Der moderne Mensch. Er strebt Autonomie an: Er glaubt, dass er durch den rechten Gebrauch der Vernunft das Gesetz der Wahrheit in sich selbst findet. Er hat die gute Hoffnung, dass immer mehr Menschen das tun und sich so ein Konsens über das Gute und Schlechte einstellt und dass dieser Konsens das menschliche Zusammenleben regeln kann.
Der postmoderne Mensch. Er ist autonom; doch er sucht gar keine Wahrheit mehr, sondern nur sich selbst. Sein Wünschen und sein Wohlbefinden sind ihm das oberste Gesetz. Anders als der moderne Mensch ist er kein Weltverbesserer. Er will nur in Ruhe gelassen werden; dafür ist er bereit, auch andere in Ruhe zu lassen. Folglich muss Toleranz sein:
„Man muss mich tolerieren, und ich toleriere die andern. Ich will mich verwirklichen und lasse dafür auch die andern sich verwirklichen.“
Ungefähr so denken heute die meisten.
Wer diese Worte spricht, gibt zu verstehen: Mein Wünschen, mein Tun und Lassen können nicht mehr hinterfragt werden.
Das moderne Verständnis von Toleranz, das heißt, dasjenige der Aufklärer, gilt nicht mehr; denn für diese gab es noch immer feste, für alle Menschen gleichermaßen gültige Werte: das, was der Vernunft als richtig und gut einleuchtete. Davon wollen die meisten unserer Zeitgenossen aber nichts wissen; für den nachmodernen Menschen gibt es kein für alle gültiges Wahres und Gutes. Gut ist, was gut ist für mich. Es gibt keinen Satz, der für das heute Zeitgefühl typischer ist als: „So stimmt es für mich.“ Wer diese Worte spricht, gibt zu verstehen: Mein Wünschen, mein Tun und Lassen können nicht mehr hinterfragt werden.
Mein Belieben ist die höchste Autorität; es gibt keine höhere, die es gutheißen oder verurteilen könnte.
Wahrscheinlich würden die meisten heute auf der Straße befragten Passanten folgendem Satz zustimmen: „Wenn nur alle begriffen, das jeder für sich entscheiden kann und muss, was gut und richtig ist, würde aller Streit um die Wahrheit und um die bessere Kultur oder die richtige Religion aufhören.“ Das klingt gut. Aber ist es gut?
2. Was versteht die Bibel unter Toleranz?
Wir lernen an Gott, was Toleranz ist. Wir verstehen sein Handeln, wenn wir sein Wesen kennen. Wer er ist und wie er ist, hat er in der Bibel offenbart; und es ist mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes offenbart worden.
2.1 Die Heiligkeit Gottes und die Güte Gottes
2.1.1 Gott toleriert keine Sünde, denn er ist heilig
„Toleranz“, so wie man sie als Industrienorm versteht, kennt Gott nicht. Er duldet nicht die geringste Abweichung von seinem Willen und von seinen Forderungen:
„Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48).
„Denn wer irgend das ganze Gesetz halten, aber in einem straucheln wird, ist aller Gebote schuldig geworden“ (Jak 2,10).
Gott duldet neben sich keinen Rivalen:
„Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (2Mo 20,1–3).
Neben ihm ist kein Gott und Retter:
„Tut kund und bringet herbei; ja, beraten mögen sie sich miteinander! Wer hat dieses von alters her hören lassen, vorlängst es verkündet? Nicht ich, der HERR? Und es ist sonst kein Gott außer mir; ein gerechter und rettender Gott ist keiner außer mir“ (Jes 45,21).
Darum kann Tozer mit Recht sagen:
„Das intoleranteste Buch in der ganzen weiten Welt ist die Bibel, das inspirierte Wort Gottes, und der intoleranteste Lehrer, der sich je an eine Zuhörerschaft wandte, war der Herr Jesus Christus“ (A. W. Tozer).
2.1.2 Gott ist geduldig mit den sündigen Menschen, denn er ist gütig
„Barmherzig und gnädig ist der HERR, langsam zum Zorn und groß an Güte“ (Ps 103,8).
„Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern er ist langmütig gegen euch, da er nicht will, dass irgend welche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen“ (2Pt 3,9).
Rö 3,25 spricht von der Nachsicht Gottes.
2.2 Die Gnade und Wahrheit in Christus
„Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Jo 1,17).
2.2.1 Christus und die Wahrheit
Unser Herr sagt von sich: „Ich bin die Wahrheit” (Jo 14,6). Er sagte nicht, er sei eine der vielen Formen der Wahrheit, oder ein möglicher Zugang zur Wahrheit. Er war der treue Zeuge (Off 1,5), der die Wahrheit über sich, über Gott, über den Menschen, über das Heil und über die Verdammnis bezeugte.
- Er verurteilte den Irrtum (Mt 22,29)
- Er verurteilte die Verlogenheit (Mt 23,27.28)
- Er passte sein Bekenntnis nicht den Vorstellungen und Erwartungen der Leute an, der religiösen Führer nicht, des Volkes nicht, auch der Jünger nicht (Joh 6,60).
Toleranz ist nicht ein Billigen der Sünde, Toleranz ist nicht ein Anpassen der Wahrheit an die Erwartungen der Leute.
Wir lernen am Herrn: Toleranz ist nicht ein Billigen der Sünde, Toleranz ist nicht ein Anpassen der Wahrheit an die Erwartungen der Leute.
2.2.2 Christus und die Gnade
Unser Herr trug die Konsequenzen der von ihm bezeugten Wahrheit:
- den Widerspruch von Sündern (Heb 12,3)
- den Hass der Obersten (Mt 12,14).
- die Verhöhnung der Leute (Mt 27,39–44)
- das Leiden und Sterben für die Sünden der Sünder
Diese unfassbare Toleranz, dieses Dulden und Leiden wegen der Wahrheit folgte aus seinem Festhalten an der Wahrheit. Weil unser Herr von der Wahrheit nie wich, musste er all das erdulden, und konnte er all das erdulden, war er bereit, all das zu erdulden. Er sah das Ziel des Weges, den er als der Wahrhaftige ging; er sah das Ende des Weges seines Ringens und Leidens wegen der Wahrheit: „die vor ihm liegende Freude“, die Herrlichkeit der Auferstehung und Erhöhung; die Freude an der reichen Frucht (Jo 12,24; Jes 53,11); die Freude an der Verherrlichung Gottes (Jo 17,4).
So lernen wir am Sohn Gottes: Wahre Toleranz kann es nur geben, wenn man die Wahrheit kennt, bekennt und nicht verlässt. Das ist die Voraussetzung zur Toleranz.
Die Toleranz erweist sich im Erdulden der entsprechenden Konsequenzen; sie erweist sich in der Geduld mit den Irrenden. Vom Hohenpriester im Alten Testament hieß es, er müsse
„Nachsicht üben mit den Unwissenden und Irrenden, da er auch selbst mit Schwachheit behaftet ist“ (Heb 5,2).
Das Wissen darum, wie Gott ist, macht den Christen unbeweglich im Festhalten am Wort Gottes. Das Wissen darum, wie wir sind („mit Schwachheit behaftet“), macht ihn geduldig und duldsam mit den Menschen. Paulus schreibt an Titus:
„Erinnere sie, Obrigkeiten und Gewalten untertan zu sein, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werke bereit zu sein; niemand zu lästern, nicht streitsüchtig zu sein, gelinde, alle Sanftmut erweisend gegen alle Menschen. Denn einst waren auch wir unverständig, ungehorsam, irregehend, dienten mancherlei Lüsten und Vergnügungen, führten unser Leben in Bosheit und Neid, verhasst und einander hassend“ (Tit 3,1-3).
Das biblische Verständnis von Toleranz deckt sich weder mit dem der Moderne noch der Postmoderne. Es weicht vom Verständnis der Aufklärung ab, indem es jede andere Position als die eigene als falsch beurteilt (siehe Jer 15,19); es weicht vom Verständnis der Postmoderne ab, indem es von einem festen Standpunkt aus urteilt.
An Christus lernen wir als Christen, was echte Toleranz ist:
- Wir sind absoluten, unveränderlichen Wahrheiten und Werten verpflichtet
- Wir dulden kein Abweichen von diesen Werten in unserem Privatleben und im Gemeindeleben.
- Wir sind aber nicht unduldsam gegen das Tun und Lassen unserer Mitbürger; denn wir haben keinen Auftrag, die zu richten, die draußen sind.
„Denn was habe ich auch zu richten, die draußen sind? Ihr, richtet ihr nicht, die drinnen sind? Die aber draußen sind, richtet Gott; tut den Bösen von euch selbst hinaus“ (1Kor 5,12.13).
Doch heißen wir das Abweichen von den biblischen Wahrheiten und Normen nicht gut. Wo gefordert, nehmen wir dagegen Stellung und bezeugen die biblischen Wahrheiten.
- Wir sind bereit, für das Festhalten und Bekennen unserer Überzeugungen zu leiden (2Tim 2.8.9).
3. Was ist Intoleranz?
Wenn wir bedenken, was die Bibel unter Toleranz versteht, erkennen wir, wie weit die Römisch Katholische Kirche sich vom biblischen Vorbild entfernt hatte, als sie Ketzer verfolgte und auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Sie glich in ihrem Tun den Nachfolgern Mohammeds, welche Andersgläubige nötigen, entrechten, unterdrücken oder töten.
Was trieb die Römische Kirche zur Intoleranz? Es war ihr Beharren auf einem festen Standpunkt. Heißt das, dass sie intolerant sein musste, weil sie an der Wahrheit festhielt? Nein, im Gegenteil: Weil sie an der Lüge festhielt und sie um keinen Preis verlassen wollte, war sie intolerant. Sie klammerte sich an die Lüge, sie sei die Hüterin der Wahrheit und habe darum Anspruch auf die Weltherrschaft. Sie war intolerant im Dienst ihrer eigenen Lebenslüge. Das Gleiche treibt den Islam zur Intoleranz.
4. Was ist die neue Toleranz?
Die neue Toleranz ist die Toleranz der Postmoderne. Der postmoderne Mensch denkt – oder fühlt viel eher, denn er denkt nicht sonderlich gern –, dass es keinen Konsens darüber geben könne, was wahr und darum für alle verbindlich sein müsse. Wahr sei, was für mich wahr ist. Diese Haltung wird aber nun in einer inkonsequenten Wendung zur für alle verbindlich erhoben. Das bedeutet, dass alles toleriert werden kann, nur nicht, dass jemand behauptet, die Wahrheit sei objektiv gegeben, und der Mensch könne die Wahrheit finden und damit im Besitz der Wahrheit sein. Das erklärt, warum man als Jünger Jesu Christi von vornherein gebrandmarkt ist, denn als Christen glauben und bezeugen wir:
„Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus“ (1Tim 2,5).
Nur ein Gott. Der Gott Israels, nicht Allah; der Gott der Propheten, nicht Vischnu oder Krishna. Nur ein Mittler, der Mensch Christus Jesus; nicht der Papst, nicht ein geweihter Priester, nicht ein Guru, nicht der Prophet Mohammed.
Es ist relativ einfach, diese Haltung der Christen zu kritisieren
Es ist relativ einfach, diese Haltung der Christen zu kritisieren: Man braucht nur auf die Glaubenskriege zu verweisen, wo Armeen gegeneinander stritten, weil beide davon überzeugt waren, die Wahrheit zu kennen, und weil sie darum entschlossen waren, sie zu verteidigen und zum Sieg zu führen. Allein dieser Sachverhalt habe jeden Anspruch, „die Wahrheit“ zu besitzen, ad absurdum geführt. Und in der Tat: in den Ländern der Christenheit sind inzwischen die meisten Menschen von diesem Argument überzeugt worden. Darum sind sich die Medien und die Stammtische einig: die Fundamentalisten sind unverbesserlich und potentiell gefährlich, ob sie nun christliche, muslimische oder jüdische Fundamentalisten seien.
Medien und die Stammtische sind sich einig: Fundamentalisten sind unverbesserlich und gefährlich, egal ob christlich, jüdisch
oder muslimisch
Die neue Toleranz und ethische Werte
Als Christen glauben wir, dass geschlechtliche Gemeinschaft ausschließlich in die Ehe gehört; dass Homosexualität Sünde ist usw. Wir lehnen sündiges Verhalten ab, aber es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen, die in Hurerei leben, zu richten. Anders ist es in der Gemeinde: dort werden wir Hurerei nicht dulden. Die aber „draußen“ sind, die richtet Gott.
So verhielten sich wahre Christen schon immer und erwiesen sich damit eben als tolerant. William Carey heißt der Mann, der im ausgehenden 18. Jahrhundert in den Nordosten Indiens reiste und den Indern das Evangelium brachte, indem er die Bibel in mehrere nordindische Sprachen übersetzte. Warum tat er das? Weil er davon überzeugt war, dass die Bibel das eine Wort Gottes an alle Kinder Adams ist, und weil er glaubte, dass Jesus Christus der eine von Gott den Menschen gegebene Retter ist.
War er deshalb intolerant? Er beobachtete in Indien Bräuche, die er als böse verurteilte. War das intolerant? Er sah, wie Frauen ein Hindu-Heiligtum am Ufer des Ganges aufsuchten, um von dem dort verehrten Gott einen männlichen Nachkommen zu erflehen. Als Gegengabe opferten sie dem Gott ein Töchterlein, das sie auf den Armen trugen: Sie rollten es die Böschung hinab in den heiligen Fluss. Dort warteten Krokodile. War Carey engherzig, bigott und unduldsam, weil er auf Grund seiner christlichen Überzeugungen diese Sitte verurteilte? Er tat es, weil er die Menschen liebte, weil er ein weites Herz hatte für die armen Mütter und für deren Kinder. William Carey verurteilte und bekämpfte auch Suttee (oder: Satti), die Witwenverbrennung. Er prangerte sie so lange an, bis sie in Indien verboten war.
Nach heutigem Verständnis war Carey aber intolerant. Er hatte feste Überzeugungen; ein Skandal! Wer heute sagt, Sexualität habe seinen Platz im Rahmen der Ehe, gilt als engherzig, lieblos und intolerant. Die neue Toleranz fordert, dass alle akzeptieren müssen, jede Form von Sexualität – mit Angehörigen des gleichen Geschlechts, mit der Ehefrau des Nachbarn, mit Tieren – sei richtig und gut für den, der es richtig und gut findet. Wer Abtreibung verurteilt, gilt in den Augen der meisten Zeitgenossen als frauen– und menschenfeindlich und damit als potentiell gemeingefährlich.
5. Wohin führt die neue Toleranz?
5.1 Das Böse und die Bösen setzten sich durch
Der deutsche Philosoph Herbert Marcuse prägte den Begriff „repressive Toleranz“. Er kritisierte dabei, dass in einer Gesellschaft mit unklarem Wertepluralismus, in welcher Toleranz als Norm gilt, rationale und berechtigte Kritik wirkungslos bleiben kann. Marcuse hatte Recht, aber Marcuse dachte eben noch im Denkparadigma der Aufklärung (seine Lebensdaten: geboren 1898, gestorben 1979). Er war als Marxist einem festen Wertesystem verpflichtet. Das gilt auch für die bekannte Islamkritikerin Ayaan Hirsi:
„Zur Demokratie gehört auch die legitime Intoleranz. Das nicht Tolerierbare darf nicht toleriert werden“.5
Hirsi will damit sagen: Die Gewissensdiktatur, welcher der Islam seine Anhänger unterwirft, darf in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht geduldet werden. Diese Frau leidet offenkundig darunter, dass der Wertepluralismus in der westlichen Welt ihrer Kritik am Islam die Spitze nimmt. Man will den Islam nicht kritisieren; man will ja tolerant sein. Das treibt die Anhänger dieser Religion nur dazu, immer frechere Forderungen und Sonderrechte zu fordern, und je frecher sie sich gebärden, desto mehr Einfluss gewinnen sie:
„Die Toleranz ist ein Instrument, das der Rücksichtslosigkeit den Weg ebnet“.6
5.2 Gewissensdiktatur
Marcuse sagt aber nicht alles, was in der pluralistischen Gesellschaft unweigerlich geschehen wird, wenn man nicht mehr sittliche, philosophische oder religiöse Werte, sondern die Toleranz als Norm einfordert. Es wird damit nicht lediglich der Kritik die Wirkung genommen, sondern die Toleranz kippt in eine ganz unerwartete Art von Intoleranz.
Das Böse darf nicht als böse bezeichnet werden; so fordert es die neue Toleranz. Aber sie fordert es mit unerbittlicher Intoleranz
Heute macht man sich strafbar, wenn man Homosexualität öffentlich als Sünde und Perversion verurteilt. Ich sage nicht: wenn man Homosexuelle verurteilt, sondern: wenn man die Homosexualität verurteilt. Das Böse darf nicht als böse bezeichnet werden; so fordert es die neue Toleranz. Aber sie fordert es mit unerbittlicher Intoleranz: Man muss so denken.
Die neue Toleranz markiert also ein neuerliches Heraufdämmern einer Gewissensdiktatur, wie sie über Jahrhunderte der Bischof von Rom und im 20. Jahrhundert Nazideutschland und die Sowjetunion geübt haben.
Aber zunächst beachte man, dass hier ein innerer Widerspruch vorliegt: Es soll im System des Wertepluralismus einerseits keine verbindlichen Werte geben; jeder muss für sich wissen, was für ihn gut ist. Aber diese eine verbindliche Norm muss trotzdem von allen akzeptiert werden; jeder muss sich danach richten, dass es keine verbindlichen religiösen und ethischen Werte gibt.
Dieser innere Widerspruch konnte entstehen, weil man zuerst von der Bibel und in einem nächsten Schritt von der Vernunft Abschied genommen hat; und nun gebiert der neuerliche Schlaf der Vernunft Monster. Wir werden an das Bild von Francisco Goya (1746-1828) von der schlafenden Vernunft erinnert. Der spanische Maler sprach von den Monstern, die geboren werden, wenn die Vernunft schläft und dem Aberglauben die Herrschaft kampflos überlässt. Goya dachte an die Römisch Katholische Kirche, die seine Heimat Spanien knebelte. Inzwischen beginnt man in den westlichen Industrieländern auch die Vernunft als verbindliche und für alle zu befolgende Führerin fahren zu lassen. Jeder ist sich selbst Führer; jeder Einfall und jedes Verlangen ist richtig für den, der diesen Einfall hat.
Wohin muss die sittliche Indifferenz, d. h. die Prinzipienlosigkeit führen?
- Wer sich nicht nach übergeordneten und damit verbindlichen Normen richtet, sondern den privaten Genuss zum wichtigsten Kriterium für sittliches Urteilen gemacht hat, ist haltlos. Er wird immer alles tun, um sich Unannehmlichkeiten zu ersparen.
- Er hat nichts, das er der Propaganda der Werbung und der Massenmedien entgegenhalten kann, wird also stets mit dem Strom schwimmen. Das kostet keine Anstrengung und schafft am wenigsten Leiden.
- Da er keinem von ihm bewusst angenommenen Wertekatalog folgt, wird sein Gewissen von Meinungen und Werten geeicht werden, die ihm von Plakatwänden, aus den Gratiszeitungen und aus dem Fernsehen und den elektronischen Medien präsentiert werden. Er wird in seinem Urteilen konditioniert, und merkt es nicht. Er macht sich keine Rechenschaft darüber, wer ihm laufend welche Werte eingibt. Er wird von sich immer denken, er sei sein eigener Herr und urteile nach seinem privaten Gewissen; dabei wird er geschoben.
- Er wird glauben, dass die Materie ewig, das Universum und das Leben aus sich selbst heraus entstanden sei; er wird den Glauben an Schöpfung und an die besondere Bedeutung und Verantwortung des Menschen als kindischen und vor allem gefährlichen Wahn ansehen.
- Er wird glauben, dass Homosexualität gesund sei; er wird alle, die Homosexualität ablehnen, für gefährlich halten.
- Er wird glauben, dass Abtreibung gut sei, und dass alle, die Abtreibung ablehnen, Feinde der Frauen im besonderen und der Menschen im allgemeinen sein müssen.
- Er wird glauben, dass die Ehe überholt sei, und er wird alle, die die Ehe verteidigen, als engstirnig, unbelehrbar und darum als potentiell gefährlich ansehen.
- Er wird glauben, dass kein Unterschied zwischen Mann und Frau sei; er wird alle, die behaupten, der Mann sei zur Führung bestimmt, für gehirngewaschene, potentiell gefährliche Zeitgenossen halten.
- Ist eine kritische Masse von Bürgern erreicht, die so denkt, wird man bald im Namen der Humanität und der Toleranz mit Gesetzen und Verfügungen alle Andersdenkenden nötigen, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen.
Im Zuge der neuen Toleranz werden Monster geboren, die weit gefährlicher sind als jene der Zeit, in welcher der Bischof von Rom ganz Europa seiner Gewissensdiktatur unterworfen hatte.
5.3 Umwertung aller Werte
Man darf auf keinen Fall sagen, dass man bei der Abtreibung einen Menschen tötet
Man darf heute nicht mehr sagen: ein Kind wird abgetrieben. Das Wort „Abtreibung“ klingt zu hart; man sagt daher „Abort“, das klingt klinisch sauber. Man spricht auch nicht von einem ungeborenen Kind, sondern nur von einem Fötus; auch das klingt klingt klinisch und entsprechend unpersönlich. Man darf auf keinen Fall sagen, dass man bei der Abtreibung einen Menschen tötet; denn der Instinkt, der das Töten eines Menschen verurteilt, sitzt doch noch zu tief. Aber abtreiben darf man; darum muss man eben behaupten, das ungeborene Kind sei kein Mensch. Gegen besseres Wissen und gegen alle Evidenz muss man sagen, bei einer Abtreibung werde nur ein Zellklumpen weggemacht. Darum gelingt es immer besser, dieses Böse zu tun und dabei ein gutes Gewissen zu haben. Entsprechend gilt als tolerant, wer dieses Böse gutheißt, als intolerant hingegen, wer dieses Böse verurteilt.
Traditionell war es so, dass Toleranz den Benachteiligten, den Minderheiten, also den Schwachen galt. Man sah es als die Pflicht der Gemeinschaft an, dass man die Schwachen vor den Starken schützte (wie es eben Carey in Indien tat; oder wie es der Staat gegenüber den Minderheiten tun sollte). Heute gilt die Toleranz „den Brutalen, Rücksichtslosen und Zu-allem-Entschlossenen“.7 Wer ist schwächer als ein ungeborenes Kind? Was ist rücksichtsloser und brutaler, als den Wehrlosesten zu vertilgen?
Wenn nun in einer Demokratie die Mehrheit befindet, eine Abtreibung sei rechtens, dann wird bald einmal jeder, der Abtreibung als Mord verurteilt, von behördlicher Stelle als Straftäter geahndet werden. Denn es gibt kein Gesetz, das die Abtreibung verbietet, und wo kein Gesetz ist, kann es auch keine Übertretung desselben geben. Mithin liegt der Straftatbestand der Verleumdung vor.
Wer Homosexualität öffentlich in Schrift oder Wort verwirft, kann wegen Hetze gegen sexuell anders Orientierte verklagt werden. Damit stehen Christen schon unter Generalverdacht; es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Schritt getan und sie zu Stellungnahmen genötigt und durch die staatlichen Organe gestraft werden. Damit aber hat der Staat die ursprüngliche Idee der Toleranz ins Gegenteil verkehrt. Im Zuge der Aufklärung kam die Forderung auf, „dass der Staat unterschiedliche religiöse bzw. weltanschauliche Gruppierungen in seinem Herrschaftsgebiet dulden, also nicht durch gesetzliche Repressalien behindern solle“.8
Man feiert die Homosexualität bei staatlich geförderten Straßenparaden. Damit wird das Böse gelobt.
Diese Funktion hat der Staat teilweise schon abgegeben: Christen dürfen ihre Überzeugung nicht mehr äußern, dass Homosexualität übel sei. Der Staat schützt die Minderheit mit dieser Überzeugung nicht mehr. Aber das ist nicht alles; man ist längst mehrere Schritte weiter gegangen: Man feiert die Homosexualität bei staatlich geförderten Straßenparaden. Damit wird das Böse gelobt. Das nennt man heute Toleranz; das Böse als böse bezeichnen nennt man Intoleranz.
Man beachte wohl: Es werden die sittlichen Werte nicht abgeschafft. Es handelt sich nicht um sittliche Indifferenz. Vielmehr wird das Böse zum sittlich Guten erklärt. Das sieht heute so aus: Wer Ungeborene tötet, „schütze das Leben“. Wer die Ungeborenen schützen will und deshalb ein Verbot der Abtreibung befürwortet, „gefährde das Leben“. Solche Umpolungen markieren den Beginn einer Entwicklung, die am Ende zur Umwertung aller Werte führen muss. Der Begriff ist durch Nietzsche bekannt geworden:
„Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures knüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit… Aber meine Wahrheit ist furchtbar, denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit. – Umwertung aller Werte, das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“9
Nietzsches „Antichrist“ ist seine an Radikalität und Schärfe unüberbietbare Abrechnung mit dem ganzen Christentum. Seine letzten, den Inhalt dieser Schrift zusammenfassenden Sätze lauten:
„Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt, – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen … Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit … ich heiße es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit … Und man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus10, mit dem dieses Verhängnis anhob – nach dem ersten Tag des Christentums! – Warum nicht lieber nach seinem letzten? – Noch heute? – Umwertung aller Werte!“
Nietzsche hatte recht, als er im Vorwort zum „Antichrist“ schrieb:
„Dieses Buch gehört den wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch keiner von ihnen… Erst das Übermorgen gehört mir.“11
Wir sind heute jenes Übermorgen. Nietzsches Visionen sind Wirklichkeit geworden. Eine Mehrheit nennt inzwischen das Böse gut und das Gute böse. Jesaja sagt, dass ein Gemeinwesen, das so tief gesunken ist, in göttlichen Gerichten untergehen muss:
„Wehe denen, die das Böse gut heißen, und das Gute böse; welche Finsternis zu Licht machen, und Licht zu Finsternis; welche Bitteres zu Süßem machen, und Süßes zu Bitterem!“ (Jes 5,20).
In der letzten Phase unserer Zivilisation wird man den Menschen als Gott verehren:
„Lasst euch von niemand auf irgend eine Weise verführen, denn dieser Tag kommt nicht, es sei denn, dass zuerst der Abfall komme und geoffenbart worden sei der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens, welcher widersteht und sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt oder ein Gegenstand der Verehrung ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei“ (2Thes 2,3.4).
Das ist die totale Umwertung aller Werte. Die steht am Ende der neuen Toleranz.
„Luther hat dem Ketzerrecht den Boden entzogen und der Toleranz den Weg geöffnet durch die Verbreitung von Überzeugungen der Art: ‚Ketzerei kann man nimmermehr mit Gewalt wehren‘; ‚Gottes Wort soll hie streiten‘; es ist ein freies Werk um den Glauben, dazu man niemand zwingen kann‘“ (Calwer Kirchenlexikon, s. v. Toleranz). Die Täufer waren weiter gegangen als Luther. Sie „hatten aus den neuen Erkenntnissen der Reformatoren radikaler als diese die Forderung gezogen, dass der Glaube keinerlei Zwang dulde, dass jede staatliche Einmischung in die Religion vom Teufel sei, dass Verfolgung der christlichen Liebe widerspreche…“. (Calwer Kirchenlexikon, a. a. O.) ↩
Brugger, Walter: Philosophisches Wörterbuch. Herder 1976 ↩
Honoré Gabriel de Mirabeau, Politische Diskurse ↩
Goethe, Maximen und Reflexionen ↩
Ayaan Hirsi, Der Spiegel, Nr. 20, 14. Mai 2005. ↩
Broder, Henryk M.: Kritik der reinen Toleranz. Pantheon 2009, S. 27. ↩
Henryk Broder. ↩
Forst, Rainer (Hg.): Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2000, S.179. ↩
Ecce Homo, in: Nietzsche. Werke in drei Bänden, Bd 3. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1994, Warum ich ein Schicksal bin, 1. ↩
D.h. unheilvollen Tag. ↩
Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist, Insel Taschenbuch 947, Frankfurt 1986. ↩