ThemenGeschichte der Christen

Das Neue Testament zuerst – Der Täufer Pilgram Marpeck (1494-1556) und seine Stellung zur Bibel

Das Leben und Denken Pilgram Marpecks ist ein lehrreiches Beispiel für die Stellung der Täufer innerhalb der Reformation. Interessant ist Marpeck auch besonders deswegen, weil er sich von den extremistischen Flügeln der Täuferbewegung distanzierte und sich darum bemühte, eine biblisch-theologische Verantwortung täuferischer Überzeugungen zu verbreiten. Da viele seiner Schriften überliefert sind, kann man auch seine Stellung zur Bibel nachvollziehen, in der er mit dem reformatorischen „Allein die Schrift“ ernst machte.

Tradition ist schön und wichtig. Sie hilft, nicht immer wieder bei null anzufangen, und wichtige Aspekte der Vergangenheit in Erinnerung zu behalten. Traditionen können einer Gruppe Einigkeit und Sicherheit vermitteln. Gelegentlich wirken sie aber auch ein­engend und entfremdend. Gerade in christlichen Kirchen verselbstständigten sich Traditionen immer wieder und standen in der Gefahr, die ursprünglichen Inhalte der Bibel zu überdecken. In der Zeit der Reformation kämpften die Täufer (später auch Mennoniten genannt) am konsequentesten gegen kirchliche Traditionen und für eine Rückorientierung hin zu den Aussagen des Neuen Testamentes.

Katholische Prägung

Pilgram Marpeck wurde 1494 in Ratten­berg in Österreich in eine wohlhabende und gebildete Familie hineingeboren. Sein Vater, Heinrich Marpeck, war Mitglied im Stadtrat, Bürgermeister (1511) und Abgeordneter im Landtag von Tirol.

Nach Beendigung der Schule wurde Marpeck Ingenieur und arbeitete in den Silberminen des Inntals. Auch politisch machte er Karriere. Nach seiner Heirat wurde er 1523 Mitglied des Stadtrats von Rattenburg. 1525 wurde er Bergwerksdirektor und wenig später zum Bergrichter ernannt und war damit eine der einflussreichsten Personen der Region.1

Auch wirtschaftlich ging es Marpeck sehr gut. Zwei Häuser gehörten ihm allein in Rattenberg. In seiner politischen Funktion setzte sich Marpeck bei Kardinal Matthäus Lang für den Augustiner-Eremiten­mönch Stephan Kastenbauer (1491 – 1547) ein, der später unter dem Namen Agricola bekannt werden sollte. Der Geistliche saß im Gefängnis, weil man ihm vorwarf, lutherische Lehren verbreitet zu haben. Obwohl Marpeck zu dieser Zeit offiziell noch zur katholischen Kirche gehörte, imponierten ihm Luthers Schriften. Dessen Kritik an manchen kirchlichen Lehren und Bräuchen konnte er gut nachvollziehen.2

Täufer in Tirol

Durch Hans Hut (1490 – 1527), sowie seine Schüler Leonhart Schiemer (ca. 1500 – 1528) und Hans Schlaffer (ca. 1490 – 1528) hatte sich die Lehre der Täufer im Inntal verbreitet. Sie forderten eine grundlegende Reform der katholischen Kirche. Unter anderem sprachen sie sich gegen die Macht des Papstes, gegen bestimmte kirchliche Traditionen, aber auch für die Taufe von glaubenden Erwachsenen und für die stärkere Integration der Laien aus.

Toleranz gegenüber den Täufern gab es in Tirol während der Reformation nicht.

Eine offene Diskussion oder gar eine Toleranz der Täufer kam für die Tiroler Landesregierung nicht in Frage. Erzherzog Ferdinand I. (1503-1564) ordnete 1527 eine Verfolgung der religiösen Reformer an. Jeder, der sich weigerte, zurück zu den katholischen Traditionen zu kommen, sollte hingerichtet werden. Man befürchtete ein Auseinanderbrechen der konfessionellen Einheit Österreichs.

Innerhalb kür­­zester Zeit wurden die regionalen Führer der Täufer, Leonhart Schiemer, Hans Schlaffer und Leonhard Frick (ca. 1490 – 1528) festgenommen und enthauptet. Während ihrer Verhöre und Fol­terun­­gen hatten sie ihre theologische Überzeu­gung nicht aufgegeben, sondern ver­suchten diese zu verteidigen. Ihre Standhaftigkeit und Leidensbereitschaft beeindruckten Pilgram Marpeck sehr.

Nachdem er sich nun ernsthaft mit den Lehren der Täufer auseinandergesetzt hatte, ließ Marpeck sich auch taufen. Dadurch identifizierte er sich in aller Öffentlichkeit mit den verfemten Separatisten. Als örtlicher Richter war er eigentlich dafür verantwortlich, Bergleute zu melden und festzunehmen, die sich zu den Täufern zählten. Da diese Menschen jedoch keine Verbrechen begangenen hatten, sich oftmals sogar besser verhielten als die durchschnittlichen Kirchgänger, weigerte sich Marpeck und trat in der Konsequenz 1528 von seinem Amt als Bergrichter zurück.3

Zuflucht in Straßburg

Nachdem offiziell bekannt war, dass Marpeck mit den Täufern sympathisierte, wurde sein gesamter Besitz vom Staat konfisziert. Er und seine Familie mussten das Land sofort verlassen. Dabei ließ er neben seinen Immobilien auch eine Tochter aus der Ehe mit der damals bereits verstorbenen Sophia Harrer zurück. Mit Anna, seiner zweiten Frau, ging Marpeck nach Böhmisch Krumau (Český Krumlov), wo damals viele Bergleute aus Tirol Arbeit gefunden hatten.

Zusammen mit dem ehemaligen Priester Virgil Plattner gründete er unter den Bergarbeitern eine Täufergemeinde (1528). Kurzzeitig lebte er danach in der kommunitären und pazifistischen organisierten Täufergemeinde von Austerlitz / Mähren (Slavkov u Brna), wo Marpeck zum Ältesten einsetzt wurde. In den nächsten Jahren begleitete er die Entwicklung und Veränderung dieser Gruppe aus der Entfernung.4

Straßburg war bekannt für religiöse Toleranz und bot auch verfolgten Täufern zeitweise eine neue Heimat.

Noch im gleichen Jahr ließen sich die Marpecks in Straßburg nieder. Die Stadt an der Grenze nach Frankreich war damals bekannt für ihre religiöse Toleranz. Martin Bucer (1491-1551), Wolfgang Capito (1478-1541) und Kaspar Hedio (1494-1552) hatten hier zu Beginn der 1520er Jahre die Reformation eingeführt.

Weniger dogmatisch festgelegt als in Wittenberg oder Zürich bot man auch den aus Frankreich geflohenen Hugenotten und den verfolgten Täufern eine neue Heimat. Marpeck war im Auftrag der Stadt für die Forstwirtschaft zuständig. Nebenher veröffentlichte er in Straßburg drei Flugschriften, in denen er sich kritisch mit radikalen Täufer­gruppen und Spiritualisten aus­einander­setzte.5

Da Marpeck auch weiterhin in aller Öffentlichkeit gegen die Kindertaufe und für die Glaubenstaufe argumentierte, kam es immer wieder zu Konflikten mit den evangelischen Pfarren der Stadt. Weil er diese wegen der Kindertaufe provokativ als Irrlehrer bezeichnete, kam er kurzzeitig ins Gefängnis. Nach seiner Freilassung forderte er eine öffentliche Disputation mit den Reformatoren. Schließlich sagte man Marpeck zu, er dürfe seine Thesen dem Rat der Stadt vortragen. In seiner aus 28 Artikeln bestehenden Rechenschaft meines Glaubens warf er den evangelischen Pfarrern vor, die Erwachsenentaufe zu verhindern und unzulässig eng mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Bucer entgegnete seinen Argumenten so überzeugend, dass die Ratsherren Marpeck aufforderten, seine Lehren zu widerrufen oder Straßburg umgehend zu verlassen. Nach einer weiteren erfolglosen Diskussion mit Bucer kehrte er 1532 mit seiner Familie der Stadt den Rücken.

Flüchtling aufgrund des Glaubens

In den folgenden Jahren war Marpeck viel unterwegs. Er betreute ein loses Netzwerk verschiedener Täuferkreise insbesondere in Süddeutschland und Österreich. Dabei entstand das Kunstbuch, eine Sammlung erbaulicher und lehrmäßiger Rundschreiben, die von Marpeck und anderen Ältesten (z.B. Cornelius Veh) nach dem formalen Muster der neutestamentlichen Briefe verfasst wurde (1540).

Während dieser Zeit nahm Marpeck verschiedene Arbeiten an, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In der Nähe von St. Gallen baute er Kanäle und eine Wassermühle für die örtlichen Weber. Kurzzeitig besuchte Marpeck auch alte Freunde in Tirol. Einige Zeit hielt er sich in Mähren auf, wie Briefe bezeugen.

Immer wieder kam es in den Jahren der Wanderschaft zu Diskussionen mit anderen Täufergruppen. Marpeck distanzierte sich auch schriftlich von der Ablehnung privaten Eigentums bei den Hutterern und von den zahlreichen Kleider- und Verhaltensregeln der Schweizer Täufer, die er als gesetzlich empfand.6

Von 1540 bis 1542 lebte Marpeck bei Chur in Graubünden. Hier schrieb und veröffentlichte er seine Vermahnung, ein Büchlein, in dem er seine Auffassung von Taufe und Abendmahl darlegte. Mit zahlreichen Belegen aus dem Neuen Testament begründete er das Abendmahl als Symbol der Erinnerung an den Tod Jesu und die Taufe allein für erwachsene Gläubige. Das waren mutige Worte, insbesondere nach dem Reichstag von Speyer, der das Bekenntnis zur Glaubenstaufe mit dem Tod bedrohte. Eine Erweiterung und Vertiefung seiner theologischen Position erschien gegen 1555 unter dem Titel Verantwortung (erste Auflage 1542).

Marpeck wandte sich gegen Spiritualisten, die die Kinder Gottes nur als reich gesegnete Menschen ohne Leiden sahen.

Von 1544 bis zu seinem Tod 1556 hielt Marpeck sich in Augsburg auf. Als Mitglied der städtischen Baukommission war er hier für die Holz- und Wasserversorgung zuständig. Durch zahlreiche Boten und Sendbriefe blieb Marpeck in ständigem Kontakt mit den von ihm betreuten Kreisen, vom Elsass bis nach Mähren. In Augsburg leitete er eine kleine Täufergemeinde. Die meisten Zusammenkünfte fanden geheim und informell statt. Heftige Diskussionen gab es insbesondere mit einer Gruppe von Spiritualisten, die sich an der Theologie von Kaspar Schwenckfeld (1490-1561) orientierte. Marpeck betonte die Tiefe Christi, das Leiden der Christen in der irdischen Welt als Zeichen echter Nachfolge. Schwenckfeld hingegen hob die Glorie Christi hervor, die Stellung der Christen als reich gesegnete Kinder Gottes. Mit seinen Äußerungen zur Taufe war Marpeck in Augsburg vorsichtiger geworden, sodass es lediglich zu einigen Ermahnungen durch den Rat der Stadt kam.

Christen sollen leiden

In seinen frühen Jahren war Marpeck stark durch Stephan Kastenbauer beeinflusst. In Anlehnung an den Kirchenvater Augustinus formulierte dieser eine Theologie des Leidens.

Durch den Tod Jesu habe Gott die Sünden der Menschen vergeben. Der Wille zum Tod bringe die Rettung durch Gott. Der Weg des Kreuzes, als Weg des Leidens, führt zur Freiheit von Schuld und Gottlosigkeit. So wie sich Jesus Christus in leidendem Gehorsam Gott untergeordnet habe, solle sich auch der Gläubige verhalten. Der neue Gehorsam Gott gegenüber wurde als echte Nachfolge bezeichnet. Weil Jesus für die Sünden der Menschen starb, sollten nun auch die Gläubigen nicht mehr eigensüchtig auf sich selbst ausgerichtet sein, sondern der verändernden Kraft Christi im eigenen Leben Raum geben.

Bei einzelnen Täufern entwickelte sich eine Theologie des Leidens, die Leiden und Leidensbereit­schaft für Christen als notwendig ansahen.

Das äußere Zeichen für das neue Leben mit Gott sei die Taufe. In gewisser Weise habe der Gläubige Anteil am Leiden Jesu. Auch er müsse sich auf Verfolgung und geistliche Angriffe einstellen. Das neue Leben des Christen sei durch Leiden und Leidensbereitschaft gekennzeichnet. Dadurch würden die Glaubenden ihrem Herrn Jesus Christus immer ähnlicher.

Im Gegensatz zu den katholischen und reformatorischen Konzepten einer Volks­kirche trat Marpeck für den Gedanken einer Freiwilligkeits­kirche ein. Mitglied sollte nur der werden, der sich ganz bewusst intellektuell, seelisch und von seinem Verhalten her für ein Leben mit Gott und unter seiner Autorität entscheidet. Die Gemeinde ist für Marpeck der Leib Christi und die von Jesus eingesetzten Zeremonien (Taufe, Abendmahl) sind die Hände dieses Körpers, durch die Gott am Menschen handelt.

Bibellesen mit Verstand und Heiligem Geist

Konsequenter als die meisten Reforma­toren setzte Marpeck das hermeneutische Prinzip „allein die Schrift“ um. Seine ganze Theologie wollte er mit Belegen aus dem Neuen Testament untermauern.

„Wir künden auß der geschrifft, oder das sich mit der geschrifft reimet […] nicht dester minder, welcher besser auß und mit der geschrifft vermag darzuthun, wöllen wir hiemit nicht preiudicieren und verworffen haben.“7

Marpeck war skeptisch, was die akademische Theologie betraf. Den Reformator Caspar Schwenckfeld (1490-1561) forderte er auf, sich mehr auf die Sprache und Erkenntnis der einfachen Gläubigen einzulassen, denen der Heilige Geist die Weisheit vermittle, die Bibel korrekt zu interpretieren. In erster Linie könne die Bibel nicht mit Hilfe der Wissenschaft oder der alten Sprachen verstanden werden, sondern durch den Geist Gottes. Um die Schrift korrekt auszulegen, sei weit mehr als ein entsprechendes Studium nötig. Vor allem brauche es die Berufung und Begabung Gottes, die in Demut ausgeübt werden müsse.8

Die Bibel könne nur von ihrem zentralen Inhalt her, dem Tod und der Auferstehung von Jesus Christus, richtig verstanden werden, führte Marpeck in seinem Klaren und nützlichen Unterricht (1531) aus. Marpeck lehnt hier sowohl den Ansatz der Humanisten ab, die Heilige Schrift vor allem mit dem Verstand und der Wissenschaft zu interpretieren, als auch den Anspruch der Spiritualisten, die behaupteten, Gott würde sich auch ohne Bibel per direkter Offenbarung bei ihnen melden.

Weil die Bibel von Gott kommt, kann man ihr bedingungslos vertrauen, sowohl geistlich als auch historisch und ethisch.

Gott sei ganz bewusst in Jesus Christus Mensch geworden. Damit habe er sich zumindest zeitweilig an die materielle Wirklichkeit gebunden. In dieser irdischen Welt könne Gott nun auch nur durch das in der Bibel beschriebene Leben Jesu Christi verstanden werden. Die einzige zur Verfügung stehende Quelle für das Leben und die Lehren Jesu ist die Bibel. Da sie von Gott kommt, könne man ihr bedingungslos vertrauen, sowohl geistlich als auch historisch oder ethisch.9 Mit den von ihm eingeführten Zeremonien, Taufe, Abendmahl, Lehre, Gemeindezucht und Handauflegung, will Jesus Christus die Kirche leiten und den Gläubigen dienen. Diese Handlungen dürften nicht als Selbstzweck, als äußere Tradition oder als heilswirksames Sakrament verstanden werden. Die Bibel ist für Marpeck nicht nur ein informatives Buch, sondern Ort der realen Gegenwart Gottes. Wer in der Bibel liest, hört das Reden Gottes in die konkrete Lebenswirklichkeit hinein. Durch seine in der Bibel niedergeschriebenen Worte verändert Gott das Denken und Handeln aller Menschen, die sich willentlich darauf einlassen.

Derselbe Heilige Geist, der das Wort Gottes bei seiner Abfassung inspiriert habe, sei nun auch bei seiner korrekten Auslegung nötig. Gott „redet das Wort durch seinen heiligen Geist vom Himmel in die inneren Ohren der gläubigen Menschenherzen als ein lebendiges Wort Gottes, welches Wort und Geist dann Gott und er Christus selbst ist“.10 Die Bibel und eine vom Geist Gottes geführte Predigt gehören für Marpeck untrennbar zusammen. In beidem spreche Gott autoritativ zum Menschen. „Es ist die evangelische Predigt, als Gottes Wort vom Heil mündlich reden, und aus den Büchern der Schrift lesen hören ein Ding.“11 Jesus Christus sei gegenwärtig sowohl in der Bibel, als auch in der geistgeleiteten Predigt und in den Christen, die sich für sein Reden öffnen.

Der Heilige Geist bewirke aber nicht nur das richtige Verstehen der biblischen Aussagen. Gleichzeitig verändere er auch das Denken und Handeln des Christen. Wer lediglich gebildet über die Bibel spricht, nicht aber nach den Prinzipien Gottes lebt, der kann den Heiligen Geist nicht haben, ist Marpeck überzeugt.12

Da zum richtigen Verständnis der Bibel unbedingt der Heilige Geist nötig sei, konnten auch seine Jünger die Aussagen Jesu vor Pfingsten noch nicht ausreichend verstehen. Das zeigen, nach Marpeck, auch einige kritische Ermahnungen, mit denen Jesus gelegentlich das Handeln und Reden seiner Nachfolger korrigieren musste (z.B. Mt 16,23).

Das Bekenntnis zu der fehlerfrei von Gott inspirierten Bibel gehörte für Marpeck zum grundlegenden Wesen der Gemeinde.

„Von der Kirche wurde ein Mitzeugnis verlangt, in dem sie mit dem Bekenntnis zur Heiligen Schrift zugleich bezeugt, diese Schrift sei in Wahrheit Gottes lebendiges Wort […].“13

Vor allem das Neue Testament

Calvin und Zwingli betonten die Kontinuität des Handelns Gottes im Alten und Neuen Testament. Deshalb hatten sie keine Probleme damit, mosaische Gebote auf die Gemeinde und den Staat anzuwenden und in israelitischen Kulthandlungen Vorbilder für den christlichen Gottesdienst zu erkennen.

Marpeck betonte die Unterscheidung von Altem und Neuem Testament. Er gab dem AT nur noch eingeschränkte Bedeutung.

Marpeck hingegen betonte die Diskontinuität zwischen den beiden Testamenten. Nach ihm gab es zwei grundsätzlich verschiedene Heilszeiten, zwei Bundesschlüsse zwischen Gott und den Menschen.14 Der neue Bund zeige sich in der durch die Taufe vermittelten Sündenvergebung. Das Gesetz Gottes begegne dem Menschen nicht mehr in den Paragraphen und Buchstaben des Alten Testamentes. Jetzt schreibe der Heilige Geist dem Christen Gottes Grund­prinzipien für jegliches Handeln direkt ins Herz: Glaube, Hoffnung, Liebe (vgl. 1Kor 13).

„Nun, worauf doch die alte Kirche gebaut ist, so vermag sie doch in keiner Weise und gar nicht mit der neuen Kirche verglichen werden, ist ihr auch nicht von Gott befohlen, daß sie die Sünden verzeihen sollte und Gewalt hätte, Sünden zu vergeben und zu behalten, wie die Taufe in der Kirche Christi befohlen und eingesetzt ist […] die Sünde zu verzeihen und zu behalten.“15

Das Alte Testament ist für Marpeck nur noch von eingeschränkter Bedeutung. Die Offenbarung Gottes für die Gemeinde ist das Neue Testament. Mit ihren Aussagen untermauert Marpeck deshalb vor allem auch seine Theologie. Das Alte Testament sei vielmehr die Vorgeschichte des Neuen, eine Vorbereitung und Ankündigung der Erlösung durch Jesus Christus, aber oftmals unklar und schemenhaft. Das Alte Testament zeige dem Menschen, wie es zu seinem chaotischen Zustand ohne Gott gekommen ist. Durch die Gebote Gottes führe es außerdem jedem seine eigene Unfähigkeit und Schuldigkeit vor Augen, argumentiert Marpeck.

„Und solchen Menschen, die zuvor durch das Gesetz zerschlagen, zerschmettert und zerbrochen sind, für solche Zerschneidung ist Christus der Arzt.“16

Die volle Tragweite der Erlösung durch Jesus Christus komme, so Marpeck, auch erst vor dem Hintergrund der aussichtslosen Verhältnisse im Alten Testament, gänzlich zum Ausdruck. Insofern sei auch für den Christen das Alte Testament nach wie vor von Bedeutung, weil es ihm immer wieder neu die Herrlichkeit der Sündenvergebung und die nun mögliche enge Gemeinschaft mit Gott deutlich werden lässt.

Ankündigung und Erfüllung

Für seine Ethik solle sich der Christ nicht auf das Alte Testament berufen.

Stärker als katholische und reformatorische Theologen schränkte Marpeck die Bedeutung des Alten Testaments für die neutestamentliche Gemeinde ein. Deshalb sei unter anderem auch die Ethik des Alten Testaments für den Christen nicht mehr verpflichtend. Konsequenterweise dürfe sich der Christ auch nicht mehr auf das Alte Testament berufen, wenn er staatliche Gewaltanwendung befürworte, wie die Reformatoren es gemacht hätten.

Für Marpeck gelten auch im öffentlichen Leben die neutestamentlichen Gebote der Feindesliebe und Gewaltlosigkeit; im Gegen­satz zur Praxis der revolutionären Täufer, die zeitgleich mit Gewalt in Münster das Königreich Gottes aufzurichten versuchten. Auch das Gebot der Sonntagsruhe oder die Aufforderung zur Abgabe des Zehnten gehörten nach Marpeck zur vergangenen Welt des Alten Testaments.

In einer von ihm 1547 veröffentlichten Themenkonkordanz („Testament­erläuterung“) stellt Marpeck gegensätzliche Aussagen des Alten und Neuen Testamentes einander gegenüber, um deren Unterschied deutlich zu machen: Auf der einen Seite Gesetz, Schuld und Gericht, auf der anderen Vergebung, Wiedergeburt und Ewiges Leben. „Die Zeit des Alten Testaments vor Christi Mensch­werdung, Tod, Aufer­stehung und Himmelfahrt wird gestern genannt, und die Zeit des Neuen Testaments als nach Christi Menschwerdung, Tod, Auferstehung und Erhöhung wird heute genannt.“17 Die Bibel redet, nach Marpeck, dreifach von dem Heilshandeln Gottes, in seiner Ankündigung (Israel), in seiner Durchführung (Gemeinde) und in seiner Erfüllung (Ewigkeit).18

„Die Schrift Alten und Neuen Testaments [reden] dreifach: Erstlich von der Figur gestern […] zum anderen vom Wesen, das heute gekommen ist, als die Erlösung von Sünden […] zum dritten vom Wesen, das morgen kommen wird als zu Christi Wiederkunft vom Himmel.“19

Dem alten Bund Gottes steht heute ein neuer Bund mit der Gemeinde gegenüber. Im Alten Testament finden sich vor allem die Ankündigungen des Heilshandelns Gottes, im Neuen Testament deren Erfüllung.20

Sündenfall und Erbsünde

Das eigentliche Problem des Sündenfalls bestand, nach Marpeck, darin, dass die ersten Menschen Gottes Herrschaft und Autorität ablehnten, um ihr eigener Herr zu werden und selber über richtig und falsch zu bestimmen. Dieser Aufstand gegen Gott, die Loslösung von seinem Willen, geschah im vollen Bewusstsein, das Falsche zu tun. Für Marpeck war es wichtig festzustellen, dass der Mensch erst dann für seine Taten verantwortlich sei, wenn er wissentlich zwischen Gut und Böse unterscheiden könne.

Marpeck sah die Sünde des Menschen vor allem von seinem Denken und Entscheiden abhängig, weshalb er Neugeborene für sündlos hielt.

Unter anderem auch deshalb sprach er sich gegen die Kindertaufe aus, weil man in frühem Alter eben noch nicht in der Lage sei, richtig und falsch zu erkennen. Kinder, so Marpeck, seien noch sündlos, auch wenn sie eine Anlage zu Eigensucht und Sünde vererbt bekommen hätten. In frühem Alter sei diese Veranlagung allerdings noch nicht aktiviert und deshalb weitgehend bedeutungslos. Außerdem sei durch das Auftreten Jesu, als zweitem Adam, die Erbsünde für Kinder generell neutralisiert. Erst wenn sie den Unterschied zwischen Gut und Böse begreifen könnten, käme die Lust zu sündigen und dann unweigerlich auch die Schuld.21

Der Mensch versuchte aber nicht nur gegen die Ordnung Gottes zu rebellieren, gleichzeitig erkannte er immer mehr sein eigenes Versagen und seine objektive Schuld. Durch prophetische Ankündigungen tröstete Gott die alttestamentlichen Gläubigen. Adam und Eva, Abraham und Isaak, Mose und Josua, David und Salomo hofften auf die zukünftige Vergebung Gottes. Da sie aber noch nichts vom stellvertretenden Tod Jesu wussten, erfuhren sie noch keine wirkliche Sündenvergebung. Denn die alttestamentlichen Opfer und Gebete konnten, nach Marpeck, keine Schuld neutralisieren.

Um auch den Menschen früherer Zeiten eine realistische Chance zur Erlösung von ihren Sünden zu bieten, ging Jesus Christus nach seinem Tod ins Totenreich. Dort predigte er den Verstorbenen und erläuterte ihnen den Heilsweg Gottes. Dadurch hätten sie, so Marpeck, die Gelegenheit, Gottes Erlösung zu erkennen und für ihr Leben zu akzeptieren. (vgl. 1Pet 3,19) Während ihres irdischen Lebens hätten die alttestamentlichen Gläubigen lediglich „in der Hoffnung der Menschwerdung und des Kommens Christi bis zu ihrem Ende verharrt […] und [seien] mit solcher Hoffnung nach ihrem leiblichen Tode in die Hölle [Totenreich] gefahren“.22

Gegen manche katholischen Inter­pretationen sah Marpeck im Körper und speziell in der Sexualität des Menschen keine direkte Verbindung zur Erbsünde. Wäre das der Fall, dann müssten, nebst Jesus Christus selbst, auch alle Propheten und Apostel ihr ganzes irdisches Dasein lang sündig gewesen sein, da sie immer in einem von der Sexualität geprägten Körper lebten. Auch der durch Gott von der Sünde befreite Christ habe schließlich noch einen Körper und Sexualität, argumentierte Marpeck. Sünde sei weniger von der Geschlechtlichkeit als vom Denken und Entscheiden des Menschen abhängig.

Kindertaufe und Glaubenstaufe

Gottes Gebote im Alten Testament zeigten dem Menschen sein Versagen und seine eigene Unfähigkeit, aus sich selbst heraus gut zu sein. Doch selbst diejenigen, die sich bemühten, nach den biblischen Geboten zu leben, täten das nur aus Furcht vor dem göttlichen Gericht und nicht aus Einsicht und Liebe, wie eigentlich notwendig. Auch die Beschneidung sei lediglich eine äußerliche Pflichterfüllung gewesen. Erst durch die neutestamentliche Wassertaufe würde der Christ mit Heiligem Geist erfüllt und könne sich dadurch in Gottes Denken hineinversetzen und habe nun auch die Kraft dementsprechend zu handeln.23 „Darum sind alle [alttestamentliche] Zeremonien hin und gefallen, seit Christus der Sohn Gottes als wahrer Trost und Erlöser selber gekommen ist.“24

Marpeck hielt die Taufe für ein Symbol der persönlichen Entscheidung für Gott und der innerlichen Bejahung der Erlösung durch den Tod Christ.

Marpeck lehnte die von den Reformatoren behauptete Parallele ­zwischen der alttestamentlichen Be­schnei­dung und der neutestament­lichen Taufe grundsätzlich ab. Die Be­schneidung sei in erster Linie ein juristisches Bundeszeichen, das in der grundlosen Zusage Gottes zu dem von ihm erwählten Volk Israel begründet wäre. Die Taufe hingegen sei ein äußerliches Zeichen für die willentliche, innerliche Bejahung eines Menschen zu seiner Erlösung durch den Tod Jesu Christi.25 Dieses Symbol einer persönlichen Entscheidung für Gott an einem Kind zu vollziehen, sei vollkommen widersinnig, weil man in diesem Alter nicht einmal in der Lage sei, zu verstehen, worum es eigentlich gehe. Auch sei im Zusammenhang mit der Beschneidung im Alten Testament nie von einer geistlichen Wiedergeburt die Rede. Insbesondere im Johannesevangelium aber stelle Jesus Christus eine Verbindung zwischen der Taufe, der Vergebung der Sünden und der Wiedergeburt her.

Jeder Bibelvers ist wichtig

Konsequenter als Zwingli und Calvin berücksichtigte Marpeck jede einzelne Aussage des Neuen Testaments gleichberechtigt in seinen Über­legungen. Er wollte seine Lehre nicht nur an einigen wenigen Kerngedanken festmachen, sondern die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der biblischen Aussagen nebeneinander bestehen lassen. Dafür entwickelte er ein nicht so imposantes und kohärentes theologisches System wie die anderen großen Reformatoren. Marpeck aber bemühte sich wirklich, ernst zu machen mit Luthers Forderung nach sola scriptura, wobei er das Alte bewusst dem Neuen Testament unterordnete.


  1. Vgl. Martin Rothkegel: Pilgram Marpeck, in: Mennonitisches Lexikon (MennLex), hg. Hans-Jürgen Goertz, Bd V, Bolanden Weierhof 2014, http://www.mennlex.de/doku.php?id=art:marpeck_pilgram, 15.1.2015. 

  2. Vgl. J.Rempel: Pilgram Marpeck, in: Donald K. McKim Hrsg.: Historical Handbook of Major Biblical Interpreters, Inter Varsity Press, Downers Grove / USA 1998, S. 220. 

  3. Vgl. Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Bd. III, Renaissance. Reformation. Humanismus, C.H.Beck Verlag, München 1997, S. 188f. 

  4. Vgl. Martin Rothkegel: Pilgram Marpeck, http://www.mennlex.de/doku.php?id=art:marpeck_pilgram, 15.1.2015. 

  5. Vgl. William Klassen: Pilgram Marpeck. Freiheit ohne Gewalt, in: Radikale Reformatoren, hg. Hans Jürgen Goertz, C.H. Beck Verlag, München 1978, S.148f. 

  6. Vgl. Martin Rothkegel: Pilgram Marpeck, http://www.mennlex.de/doku.php?id=art:marpeck_pilgram, 15.1.2015. 

  7. Christian Hege Hrsg.: Pilgram Marpecks Vermahnung. Ein Wiedergefundenes Buch, Sonderdruck aus der Gedenkschrift zum 400jährigen Jubiläum der Mennoniten oder Taufgesinnten 1525-1925, Ludwigshafen 1925, S. 195. 

  8. Vgl. Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung, S. 192f. 

  9. Vgl. J.Rempel: Pilgram Marpeck, S.220. 

  10. Johann Loserth (Hg). Pilgram Marpeck: Verantwortung, in: Quellen und Forschungen zur Geschichte der oberdeutschen Taufgesinnten im 16. Jahrhundert. Pilgram Marbecks Antwort auf Kaspar Schwenckfelds Beurteilung des Buches der Bundesbezeugung von 1542, Wien, Leipzig 1929, S. 516. 

  11. Johann Loserth Hrsg.: Pilgram Marpeck: Verantwortung, S. 522. 

  12. Vgl. J.Rempel: Pilgram Marpeck, S. 222. 

  13. William Klassen: Pilgram Marpeck. Freiheit ohne Gewalt, S.153. 

  14. Vgl. Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung, S. 196f. 

  15. Christian Hege Hrsg.: Pilgram Marpecks Vermahnung, S. 195. 

  16. John C. Wenger Hrsg.: Pilgram Marpeck’s Confession of Faith Composed at Strassburg, December 1531 – January 1532, in: Mennonite Quarterly Review 12 / 1938, S. 181. 

  17. Johann Loserth Hrsg.: Pilgram Marpeck: Verantwortung, S. 581. 

  18. Vgl. William Klassen: Covenant and Community. The Life, Writings and Hermeneutics of Pilgram Marpeck, Grand Rapids, Michigan, 1968. 

  19. Johann Loserth Hrsg.: Pilgram Marpeck: Verantwortung, S. 583. 

  20. Vgl. J.Rempel: Pilgram Marpeck, S. 221. 

  21. Vgl. Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung, S. 194. 

  22. Johann Loserth Hrsg.: Pilgram Marpeck: Verantwortung, S. 317. 

  23. Vgl. J.Rempel: Pilgram Marpeck, S. 223 

  24. John C. Wenger Hrsg.: Pilgram Marpeck’s Confession of Faith, S. 187. 

  25. Vgl. Stephen B. Boyd: Pilgram Marpeck: His Life and Social Theology, Duke University Press, Durham /USA 1992.