ThemenGeschichte der Christen

Calvins Kampf für die Bibel

Mancher hat den Eindruck, die massive Infragestellung der Bibel sei in erster Linie ein Problem der Gegenwart. Und tatsächlich hatte die Bibel in Mitteleuropa wahrscheinlich selten eine so geringe Bedeutung für das Denken und Leben der Menschen. Obwohl überall in zuverlässiger Übersetzung kostengünstig erhältlich, wird sie kaum zur Kenntnis genommen und wenn, dann als Objekt kirchlicher Tradition. Selbst in den bibelfreundlichen Freikirchen ist das echte, persönliche Interesse am Wort Gottes stark zurückgegangen.

Angriffe auf die Heilige Schrift gab es in der Kirchengeschichte jedoch schon immer. Erstaunlich aktuell erscheinen beispielsweise die Auseinandersetzungen des Genfer Reformators Johannes Calvin (1509-1564) um die Relativierung der Bibel.1 Auch wenn sich die historische Situation von der heutigen weitgehend unterscheidet, gleichen sich die Argumentationen durchaus.

Calvin und die esoterische Uminterpretation der Bibel

Zu den Spiritualisten der Reformationszeit zählen einige Täufer, aber auch Inspirierte wie die Zwickauer Propheten und Sozialrevolutionäre wie Thomas Müntzer (1489-1525). In ihren theologischen Aussagen stützten sie sich auf Bibelverse, vor allem aber auf innere Eingebungen, die sie direkt vom Heiligen Geist empfangen haben wollten.2 Damit wichen sie langwierigen Diskussionen um die richtige Bibelinterpretation aus. Ihre Sichtweise wurde durch die Autorität höherer Eingebung zum nicht mehr hinterfragbaren, göttlichen Willen. Sie orientierten sich am vorgeblich unmittelbaren Reden des Heiligen Geistes durch Prophetien und innere Eindrücke. Den so empfangenen Botschaften Gottes schenkten sie absolutes Vertrauen, auch wenn diese eindeutigen biblischen Aussagen widersprachen.3 Für Müntzer war die Bibel primär der Bericht von den Erfahrungen der „erleuchteten Seelen“ im Umgang mit dem lebendigen Gott. Sie lade den Leser ein, ähnliche Erfahrungen zu machen. Auf diese käme es an und nicht auf die Berichte aus biblischer Vergangenheit. Die Bibel sei nur das „verbum externum“ (äußer­liches Wort), das das „verbum internum“ (innerliches Wort) braucht, um im Menschen anzukommen. Das „verbum internum“ hingegen benötige nicht unbedingt die Bibel, um Glauben zu wecken.4

Calvin misstraute dem flüchtigen Reden des Heiligen Geistes allein. Einerseits fehle ohne die Bibel jeder Maßstab, um echte und vorgebliche Offenbarungen des Geistes sachgemäß unterscheiden zu können. Andererseits habe Gott seinen Willen schon vor langer Zeit und jedem Interessierten frei zugänglich in der Heiligen Schrift mitgeteilt. Natürlich sei sowohl bei der Abfassung als auch bei dem korrekten Verständnis der Bibel der Heilige Geist aktiv. Dann aber könne der Gläubige „ohne alle Furcht vor einer Täuschung den Geist ergreifen, wo er ihn an seinem Bilde, das ist: am Wort, wiedererkennt.“5 Die Konzentration auf individuelle Mitteilungen des Heiligen Geistes sei offensichtlich Bibelkritik, da sie die Bedeutung der als zuverlässig erkannten Offenbarung Gottes einschränke. Nach Calvins Ansicht räumten die Schwärmer der Schrift gegenüber dem Heiligen Geist nur eine zweitklassige Offenbarungsqualität ein.6 Es war für ihn theologisch vollkommen unakzeptabel, den Heiligen Geist der Schrift überzuordnen. Vielmehr wirke der Heilige Geist bei den Gläubigen zuallererst in und durch die Bibel.

Für Calvin war es gefährliche Bibelkritik, persönliche Mitteilungen des Heiligen Geistes der Bibel vorzuziehen

Die außerordentliche Wertschätzung individueller Offenbarungen durch den Heiligen Geist findet sich heute sowohl in esoterischen (z.B. Neale Donald Walsch, William Paul Young) als auch in charismatischen Kreisen (z.B. Rick Joyner, Mike Bickle) oder bei Jenseitsreisen (z.B. Don Piper). Diese berufen sich durchaus auf Gott und lehnen die Bibel nicht prinzipiell ab. Sie ziehen aber die aktuellen und direkten Mitteilungen des Heiligen Geistes der Bibel vor. Persönliche Orientierung, Motivation und geistliche Prägung werden vor allem durch religiöse Erlebnisse gesucht (Prophetie, Zungenrede, Wunder). Die Bibel verliert demgegenüber an Bedeutung. Calvin lehnte ein solches Vorgehen als gefährliche Bibelkritik ab. Dabei ist noch nicht einmal die drängende Frage berücksichtigt, welches vorgebliche Reden des Heiligen Geistes wirklich von Gott stammt und welches nur menschlichen Wünschen entspringt.

Calvin und die rationalistische Relativierung der Bibel

Für die Humanisten der Reformationszeit war „der Mensch das Maß aller Dinge“ (z.B. Erasmus von Rotterdam). Auch theologische Wahrheiten sollten der verstandesmäßigen Prüfung unterzogen werden.7 Fände der Mensch in der Bibel Unstimmigkeiten, könnten diese sicher nicht von Gott stammen. Man könne eben nicht alle Aussagen der Bibel wirklich auf Gott zurückführen. Hinter den biblischen Schriften stünden vor allem Menschen, die ihre Gedanken und Erlebnisse mit Gott niedergeschrieben hätten. Deren Aussagen gelte es nun zu prüfen und dann neu zu gewichten. Nicht nachvollziehbare Wunder beispielsweise seien deshalb eher als allegorische Bilder zu betrachten.

Als 1543 darüber entschieden werden sollte, ob Castellio für ein Genfer Pfarramt in Frage käme, äußerte sich Calvin kritisch. Zwischenzeitlich hatte der Rektor in Gesprächen bestritten, dass das Hohelied von Gott inspiriert sei und interpretierte die Höllenfahrt Christi eher symbolisch. Calvin sah darin die Ehrerbietung vor der Heiligen Schrift gefährdet und lehnte die Berufung ab.8)

Bekannt geworden ist insbesondere die Konfrontation Calvins mit Michael Servet (1511-1553). Der spanische Mediziner und Theologe leugnete die Trinität aufgrund mangelnder Logik und vorgeb­licher biblischer Widersprüche. Jesus sei offensichtlich nur ein Geschöpf Gottes. Den Israeliten unterstellte er eine minderwertige Gottes- und Erlösungsvorstellung. Die Gesetze, die Gott seinem Volk am Sinai offenbarte, hielt Servet für einen zweiten Sündenfall, weil sie dem Menschen nun auch seine geistliche Verdammnis vor Augen führten. Im Unterschied zu einer materiell körperlichen Erlösung, die im Alten Testament in Aussicht gestellt würde, sah Servet in den Evangelien die Lehre von einer geistlichen Vergöttlichung des Menschen durch Jesus Christus.9 Calvin widersprach Servet vehement, sowohl schriftlich als auch mündlich. Er verurteilte Servets Umgang mit und Kritik an der Offenbarung Gottes als eindeutig abzulehnende Bibelkritik.10

Für Calvin sind alle biblischen Berichte so geschehen und gemeint, wie sie überliefert wurden

Für Calvin sind alle biblischen Berichte so geschehen und gemeint, wie sie überliefert wurden. In seiner Auslegung der Genesis wird deutlich, dass Adam und Eva für Calvin historische Personen waren, dass es sich bei der Sintflut um ein reales geschichtliches Ereignis handelt und dass der Turmbau in Babylon so stattfand, wie es in der Bibel zu lesen ist. Die absolute Zuverlässigkeit der Bibel bezog Calvin nicht nur auf die geistlichen und ethischen Inhalte, sondern wie selbstverständlich auch auf die historischen und geographischen Angaben.

Zwar kommt Wundern, nach Calvin, nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Rationale Bedenken oder Zweifel an den außergewöhnlichen Taten von Jesus aber sind Calvin fremd. Bei seiner Auslegung von Mt 13,54 warnte Calvin vor dem Unglauben der Einwohner Nazareths.11

Ließen die biblischen Berichte für Calvin Fragen offen, suchte er nach einer verständlichen Erklärung, die im Einklang mit der wörtlichen Formulierung des Bibeltextes stand. Die Aussage, dass Adam nach der Zeugung Seths noch 800 Jahre gelebt habe, bezweifelt Calvin nicht. In diesem Zusammenhang bemerkte er lediglich, es sei zu bedenken, wieviele der Patriarchen gleichzeitig gelebt hätten.12

Bei Widersprüchen zwischen den Aussagen der Evangelisten und außerbiblischen Zeugnissen ging Calvin generell von der Zuverlässigkeit der biblischen Berichte aus, da sie auf Informationen Gottes zurückgingen. Die Differenz zwischen den Angaben des Lukas (Lk 2,1) und des Josephus (Ant 18,1) bezüglich des Zeitpunkts der Volkszählung des Quirinius und damit der Geburt Jesu führte Calvin auf einen Irrtum des jüdischen Historikers zurück.13

Die in den Evangelien gelegentlich vom hebräischen Original abweichenden Zitate (z.B. Mi 5,1 / Mt 2,6) erklärte Calvin mit der Absicht der Evangelisten, lediglich den Sinn der jeweiligen Aussage richtig wiederzugeben.14

Gegenüber der historischen Kritik eines Erasmus hielt Calvin an der Gleichwertigkeit aller kanonischen Bücher der Bibel fest

Gegenüber der his­torischen Kritik eines Erasmus hielt Calvin an der Gleichwertigkeit aller kanonischen Bücher der Bibel fest. Da für ihn alle kanonischen Schriften inspiriert seien, könnten die Texte des Alten wie des Neuen Testamentes gleichermaßen den Anspruch erheben, als Wort Gottes an sein Volk zu gelten. Es sei unsinnig, zwischen echten und falschen Aussagen Gottes unterscheiden zu wollen. Gott spräche in der ganzen Bibel autoritativ zum Menschen. Nicht irdische Autoren mit ihren Gedanken seien letztlich verantwort­lich für die Entstehung der Bibel, sondern Gott selbst. Deshalb könne und dürfe auch kein Mensch das Wort Gottes bewerten oder relativieren.

Ein Großteil gegenwärtiger, universitärer Theologie in Deutschland bedient sich eines rationalistischen Zugangs zur Bibel. Die Analysen dieser Forscher und der vermeintliche gegenwärtige Stand his­torischen Wissens bestimmen darüber, wie welche biblischen Aussagen einzuordnen und zu gewichten sind. Meint man Widersprüche zum eigenen Weltbild oder zum naturwissenschaftlich Möglichen festgestellt zu haben, wird die entsprechende biblische Aussage als unhistorisch, mythologisch oder symbolisch eingeordnet, auch wenn sie selbst mit dem Anspruch auftritt, ein historisches Ereignis zu beschreiben. Mit dieser Konzeption müssen beispielsweise Wunder uminterpretiert werden, weil sie dem denkenden Menschen rational nicht erklärlich sind. Calvin lehnte ein solches Vorgehen als gefährliche Bibelkritik ab.

Calvin und die katholische Traditionalisierung der Bibel

Wie alle Reformatoren, so setzte sich auch Calvin mit der Bedeutung der Bibel in der katholischen Kirche seiner Zeit auseinander. Oftmals beschränkte man sich damals auf den liturgischen Gebrauch der Heiligen Schrift während der Messe. Gelesen wurde in der Bibel wenig, selbst von den Geistlichen der Kirche. Das lag nicht nur an der mangelnden Verfügbarkeit der Heiligen Schrift15 , sondern an den Bedenken der Kirchenleitung, selbstständiges Bibellesen könne zu theologischen Trugschlüssen führen. Nur unter Anleitung des kirchlichen Lehramtes könne man die Bibel richtig verstehen.16 Dass diese Bedenken nicht ganz unberechtigt waren, zeigte sich, nachdem Priester der Reformationszeit begannen, intensiver die Bibel zu erforschen und daraufhin zahlreiche Traditionen der katholischen Kirche in Frage zu stellen. Viele Verhaltensweisen wurden von der Kirche aber mit Hinweis auf die Bibel und deren göttliche Autorität legitimiert. Das katholische Verständnis der Sakramente, des Fegefeuers oder des Zölibats sollte sich in der Bibel wiederfinden. In diesen Argumentationen ging man gelegentlich jedoch ziemlich frei und kreativ mit biblischen Texten um.17

Calvin nahm eine gründliche Prüfung dieser kirchlichen Traditionen vor und kam zu dem Schluss, dass viele Regeln und Bräuche nicht in der Bibel zu finden wären, manche sogar in deutlichem Widerspruch zu biblischen Aussagen stünden. So ordnete er unter anderem die Aufgaben der Pfarrer, die Gemeindezucht und das Handeln nach biblischen Prinzipien neu. Bischof Sadolet warf Calvin vor, die Bibel eigenmächtig, ohne Leitung des Heiligen Geistes, auszulegen und dadurch für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.18 Aus dieser Erfahrung des traditionalistischen Missbrauchs der Bibel heraus hob Calvin die Bedeutung der Bibelkenntnis für die ganze Gemeinde hervor. Noch in seinem Testament betonte Calvin, dass er die nachprüfbare Auslegung der Bibel als eine seiner wichtigsten Aufgaben betrachtete. „Ich habe versucht, in dem Maße der mir gegebenen Gnade, sein Wort rein zu lehren, sowohl in Predigt wie durch Schrift, und die ganze Heilige Schrift treu auszulegen.“19

Die Bibel darf nicht zur Rechtfertigung oder Stabiblisierung der eigenen Tradition benutzt werden

Nicht nur in der katholischen Kirche wird die Bibel oftmals zur Rechtfertigung und Stabilisierung eigener Traditionen benutzt. Auch evangelische und freikirchliche Christen stehen in Gefahr, in der Bibel nur ihre eigenen Ideen, Vorlieben und Gewohnheiten wiederzufinden. Wenn sich eine gemeindliche oder per­sönliche Tradition bildet, gerade wenn sie frommen Erwägungen entspringt, werden schnell biblische Aussagen zu ihrer Rechtfertigung herangezogen. Bei genauerer Betrachtung sind diese Ableitungen allerdings nicht immer wirklich tragfähig. Hier wirkt die Bibel nicht mehr als Korrektur eigenen Denkens und Lebens, sondern wird aus frommen, aber falschen Motiven für eigene Zwecke missbraucht. Besonders ältere Christen neigen dazu, ihre eigene, geistliche Vergangenheit unterschiedslos in der Bibel wiederfinden zu wollen, ohne zu bemerken, wie viele, selbst gute und sinnvolle geistliche Gewohnheiten und Ansichten zwar alt und bewährt, deshalb aber nicht automatisch biblisch sein müssen. Eine unsachgemäße Vermischung eigener
theologischer Traditionen mit Aussagen des Wortes Gottes sind nach Calvin Bibelkritik.

Calvin und die libertinistische Ignoranz der Bibel

Insbesondere im wohlhabenden und selbst­bewussten Bürgertum Genfs wurde die Wahrheit von der Rettung des Menschen ohne Werke, aus Gnade allein, gerne aufgenommen. Zu Recht fühlte man sich befreit vom Druck unzähliger religiöser Tabus, Pflichten und Leistungen. Für nahezu jeden Lebensbereich waren im Laufe der Jahrhunderte detaillierte Verhaltensregeln entwickelt worden. Diese engten die persönliche Freiheit erheblich ein. Mit der Aufgabe katholischer Traditionen verbanden zahlreiche Bürger die weitgehende Abschaffung biblisch-ethischer Vorschriften. Ihr alltägliches Verhalten wollten sie vor allem nach eigenem Empfinden gestalten und neben der Errettung von Sünden auch genügend irdisches Vergnügen genießen. Aus diesem Grund schickte die Genfer Bürgerschaft Calvin 1538 ins Exil. Zu deutlich hatte er gefordert, gerade der von Gott begnadigte Christ solle sich durch eine streng an der Bibel ausgerichteten Ethik auszeichnen. Selbst als Calvin zurückgerufen worden war, musste er um jede konkrete Umsetzung biblisch-ethischer Vorstellungen kämpfen (seit 1541).

Für Calvin aber sollte es keine prinzipielle Aufspaltung von geistlichem und privatem Leben geben. Im vorbildlichen Alltagsleben sollte die Errettung des Christen für jeden sichtbar werden. Gott wolle den Menschen nicht nur retten, sondern konkret verändern – mit dessen tatkräftiger Unterstützung. Auch die ethischen Aussagen der Bibel hatten für Calvin unveränderliche göttliche Autorität. Deshalb setzte er sich beispielsweise vehement ein für die Abschaffung der Prostitution und des Ehebruchs, gegen Trunkenheit und Faulheit, für Ehrlichkeit im Geschäftsleben und Gehorsam der Kinder.20

Das Gesetz hat für Calvin nach wie vor Autorität, obwohl es ihn nicht mehr mit dem Tod bedroht.

Für Calvin war die Bibel nicht nur das grundlegende theologische Lehrbuch, sondern auch Ausgangspunkt für alltägliche politische, wirtschaftliche und sittliche Fragen.21  Das ethische Gesetz Gottes ist nach Calvin auch nach der Erlösung durch Jesus Christus weiterhin von Bedeutung. Es schrecke den Menschen ab, seine bösen Vorhaben umzusetzen und trüge dadurch zur Erhaltung des gesellschaftlichen Friedens bei (usus politicus / civilis legis).22 Außerdem führe das Gesetz dem Christen den konkreten Willen Gottes für dessen alltägliches Handeln vor Augen. Denn auch geistliche Menschen seien noch der Trägheit des Fleisches unterworfen und benötigten der Geißel, die sie „wie einen faulen und langsamen Esel zur Arbeit antreibt.“23 Auch wenn das Gesetz den Gläubigen nicht mehr mit dem Tode bedrohe, erfülle es nach wie vor eine Erziehungsaufgabe, „nicht nur zu einer äußeren Ehrbarkeit, sondern zu einer inneren geistlichen Gerechtigkeit.“24 In sofern habe das Gesetz nach wie vor Autorität, wie Calvin unter Hinweis auf die Auslegung der alttestamentlichen Gebote in der Bergpredigt durch Jesus feststellt (Mt 5,17-48).

„Wir sehen, dass Gott von Anfang an so geredet hat, dass er nicht eine Silbe später ändern würde, soweit es die Summe der Lehre angeht. Er umfasst nämlich im Gesetz die Regel vollkommen zu leben, danach zeigt er, was denn der Weg zum Leben sei, und führt das Volk … zu Christus.“25

Zahlreiche Christen beteuern heute die hohe Bedeutung der Bibel im Allgemeinen und Besonderen. Sie meinen, Gott teile sich in der Bibel dem Menschen zuverlässig mit. Insgeheim unterscheiden sie aber zwischen den soteriologischen und den ethischen Aussagen der Schrift. Alles, was über Gott, Jesus Christus, Vergebung und das Jenseits geschrieben steht, wird gerne akzeptiert. Konkrete Aussagen über die eigene Lebensführung aber werden mit verschiedenen, teilweise theologischen Argumenten zurückgewiesen. Entweder werden dann die biblischen Anweisungen zu bloßen Empfehlungen herabgestuft, oder ihre Gültigkeit wird auf die biblische Kultur beschränkt oder es werden persönliche Ausnahmegründe konstruiert. Eine solche Ausklammerung konkreter, ethisch korrektiver Aussagen der Heiligen Schrift wurde von Calvin als Bibelkritik bezeichnet. Gott wolle auch gegen persönliche Befindlichkeiten oder momentan gültige Moralvorstellungen autoritativ in das Leben des Christen hineinsprechen. Gottes Regeln waren für Calvin über kulturelle und historische Grenzen hinaus anwendbar.

Natürlich zeigen die hier genannten Beispiele der Bibelkritik nur Aspekte des theologischen und praktischen Engagements Calvins für die Bibel. Calvin wandte sich in seinen Vorträgen und Veröffentlichungen immer wieder gegen jede Kritik oder Infragestellung der Bibel, die für ihn unaufgebbare Grundlage jeglichen christlichen Lebens war. Durch Gebet, philologisches Studium, Nachdenken und Vergleichen solle der Prediger den konkreten Inhalt der Bibel erschließen und seinen Zuhörern erklären. Nie aber dürfe er sich über die biblischen Aussagen stellen und meinen, sie beurteilen oder argumentativ entkräften zu können. „Niemand“, so betonte Calvin, „kommt auch nur zum geringsten Verständnis rechter Lehre von Gott, wenn er nicht zuvor ein Schüler der Heiligen Schrift wird.“26

Für Calvin ist die Bibel absolut glaubwürdig und irrtumslos, weil sie auf einen vollkommenen Gott zurückgeht. „Die höchste Beglaubigung der Schrift wird von der Person Gottes als des Sprechers genommen.“27 Die schriftliche Form des Wortes Gottes war notwendig geworden, um dem Vergessen und den Irrtümern der Menschen entgegenzuwirken.28 Der Ausleger muss, nach Calvin, stets realisieren, dass er es in der Bibel mit dem Wort Gottes zu tun hat. Für dessen Verständnis ist er auf die Erleuchtung durch Gottes Gnade29 und das innere Zeugnis des Heiligen Geistes angewiesen.30


  1. Vgl. Michael Kotsch: Johannes Calvin, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg, 2009, S. 73-84, 109ff 

  2. Vgl. Paul Wappler: Thomas Müntzer in Zwickau und die „Zwickauer Propheten“, Mohn, Gütersloh, 1966, S. 57f 

  3. Vgl. Calvin: Institutio I,9 

  4. Helmar Junghans (Hrsg.): Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2004 ff. 

  5. CR 30,71 

  6. Calvin: Institutio I, 9,1 

  7. Vgl. Cornelis Augustijn: Erasmus: Der Humanist als Theologe und Kirchenreformer, Brill, Leiden 1996, S. 35, 256f, 317f. 

  8. CR. XI, ep. 531 (Febr. 1544 

  9. Vgl. J.Friedman, Michael Servetus. A Case Study in Total Heresy, Travaux d’Humanisme et Renaissance 163, Genf 1978 / Achim Detmers: Gleichmacherei der Testamente. Michael Servets Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit Calvins Israellehre, http://www.reformiert-info.de/side.php?news_id=3135&part_id=0&part3_id=0&navi=20 

  10. Vgl. Michael Kotsch: Johannes Calvin. Reformator und Wegbereiter, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg, 2009, S. 77-85 

  11. CO 45,426 

  12. CO 23,106 

  13. Vgl. CO 45,71f 

  14. Vgl. CO 45,84f 

  15. Die lateinische Vulgata war im späten Mittelalter in vielen kirchlichen Einrichtungen zu finden. Die studierten Theologen beherrschten durchaus genügend Latein zu deren Verständnis, wurden jedoch nicht zum Studium der Bibel angeleitet. 

  16. Vgl. Ludger Grenzmann / Karl Stackmann: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, J.B. Metzler, Stuttgart 1984, S. 6-8 

  17. Vgl. Annemarie Meichtry-Gruber: Die Sprache der Wycliff-Bibel, Peter Lang, Bern / Frankfurt 2008, S. 19f. 

  18. CR 33,393 

  19. CO 20,299f. 

  20. Vgl. Beintker: Der Weg zur modernen Demokratie und Wirtschaftsordnung, in: Traugott Jähnichen, Thomas K. Kuhn, Arno Lohmann Hrsg.: Calvin entdecken. Wirkungsgeschichtliche, theologisch-systematische, sozialethische und literarische Zugänge, LIT Verlag, Berlin / Müns­ter, 2010, S. 147ff 

  21. Z.B. CO 23,314 

  22. Vgl. Calvin: Institutio II,7,10-11 

  23. Calvin: Institutio II,7,12 

  24. Calvin: Institutio II,8,6 

  25. CO 38,688 

  26. Calvin: Institutio I, 6, 2 

  27. Calvin: Institutio I,7,4 

  28. Vgl. Calvin: Institutio I,6,3 

  29. Vgl. Calvin: Institutio II,2,21 

  30. Vgl. Calvin: Institutio I,7,4