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Auch Juden brauchen das Evangelium

Die Evangelisation unter Juden ist seit vielen Jahren in der Kritik. Dabei spielen unterschiedliche Argumente eine Rolle. Manche meinen, dass es für Juden einen besonderen Weg zu Gott ohne die Umkehr zu Jesus als Messias geben könne, andere halten die Mission von Juden nach dem Holocaust für aussichtslos. Aber es gibt viele gute und biblische Argumente, warum es weiter wichtig ist, dass Christen Juden das Evangelium sagen.

Bereits bevor ich das Buch von Avi Snyder Jews don’t need Jesus and other misconceptions las, bemerkte ich einen tiefen Wunsch, ein Vorwort zu einem Werk zu diesem Thema zu schreiben. Nachdem ich es nun gelesen habe, brennt der Wunsch umso mehr.

Bevor ich wusste, dass dieses Buch geschrieben wurde, hatte ich zu meinem Internetseiten-Team von desiringGod.org gesagt: „Ich wünsche, dass wir mehr in Sachen Evangelisation unter Juden unternehmen“. Warum war ich von dieser Aufgabe aufgewühlt, und bin sogar es noch mehr, nachdem ich jetzt das Buch gelesen habe?

Es leben rund 60.000 jüdische Menschen in der Metropol­region, die ich mein Zuhause nenne, mehr als fünf Millionen sind es in den USA und über 14 Millionen in der Welt. Die große Mehrheit von ihnen akzeptiert Jesus nicht als ihren Messias und Retter. Tatsächlich glauben sie, dass es das Ende ihres Jüdischseins bedeuten würde.

Obwohl in den ersten Tagen der christlichen Kirche tausende Juden Jesus annahmen (3000 werden in Apg 2,41 genannt und weitere rund 2000 in Apg 4,4), beschuldigten einige die Christen, sie verfolgten die Absicht, den Tempel zu zerstören und die Gebote zu verändern, die Mose gegeben hatte (Apg 6,14). Paulus, der erste und größte christliche Missionar, selbst ein Jude und früherer Pharisäer, widersprach und bestand darauf, dass er nichts anderes sage „als das, was die Propheten angekündigt haben und wovon bereits Mose gesprochen hat. Der Messias, sagten sie, muss leiden und sterben, und er wird als Erster von den Toten auferstehen, um dem jüdischen Volk und allen anderen Nationen das Licht des Evangeliums zu bringen“ (Apg 26,22-23).

Es gab in jeder Generation immer Juden, die das geglaubt haben, dass Jesus eben nicht gekommen ist, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen (Mt 5,17). Aber die große Traurigkeit wahrer Christen ist, verbunden mit Demütigung und Trauer über die Art, wie Juden über die Jahrhunderte behandelt wurden, dass die meisten Juden sich weiter von Jesus abwenden, der doch der Einzige ist, der die Verheißungen Gottes in den jüdischen Schriften erfüllt.

Diese Ablehnung brachte dem großen jüdischen Missionar und Apostel große Qual. Die ergreifendsten Worte, die Paulus jemals im Hinblick auf seine jüdischen Landsleute schrieb, lauten in Römer 9,1-3: „Was ich jetzt sage, sage ich vor Christus. Mein Gewissen bestätigt es und der Heilige Geist bezeugt mir, dass es die Wahrheit ist: Mein Herz ist von tiefer Traurigkeit erfüllt und es quält mich unablässig, wenn ich an die Angehörigen meines Volkes denke, an meine Brüder und Schwestern, mit denen ich durch die gemeinsame Abstammung verbunden bin. Für sie hätte ich es auf mich genommen, verflucht und für immer von Christus getrennt zu sein.“

„Tiefe Traurigkeit und unablässige Qual!“ Das ist einfach erstaunlich. Nichts anderes hat Paulus derart belastet. Ich habe mich oft gefragt, wie Paulus weitermachen konnte. Er hatte offenbar ein seltenes Geheimnis gelernt, dass es nämlich möglich ist, zutiefst ruhig zu sein und zur gleichen Zeit tief besorgt. Tatsächlich sagte er einmal, er lebe traurig und doch allezeit freudig (2Kor 6,10). Aus dieser geheimnisvollen Mischung aus Trauer und Freude fließt sein Gebet für sein jüdisches Volk: „Liebe Geschwister, ich wünsche von Herzen und flehe zu Gott, dass die Angehörigen meines Volkes gerettet werden“ (Röm 10,1). Das bedeutet, dass seine Trauer und seine Gebete aus der herzbewegenden Realität kamen, dass sie nicht gerettet waren, dass nämlich Juden, die Jesus ablehnen, das ewige Leben verwerfen. Als die Botschaft von Paulus über Jesus in Antiochia in Pisidien abgelehnt wurde, da sagte er (Apg 13,46):

„Zuerst musste euch das Wort Gottes gesagt werden. Weil ihr es aber abweist und euch des ewigen Lebens nicht für würdig haltet, wenden wir uns jetzt den Nichtjuden zu.“

Der Vorrang der Juden im Hinblick auf das Evangelium bedeutet nicht, dass sie nicht verurteilt werden, wenn sie die gute Nachricht von Jesus dauerhaft ablehnen.

Das ist der eigentliche Grund, warum ich zu Avi Snyders Buch gezogen wurde, noch bevor ich es las. Die gute Nachricht von Jesus, der gekommen ist und für die Sünder starb und auferstand, galt zuerst für Israel. Aber dieser Vorzug bedeutet für das jüdische Volk nicht, dass sie dem Gericht entkommen, wenn sie die gute Nachricht von Jesus dauerhaft ablehnen.

In der christlichen Mission ist dem jüdischen Volk ein Vor­rang gegeben. Jesus selbst kam zuerst für „die verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (Mt 10,6; 15,24) und nicht für die Heiden. Erst später erging die gute Nachricht für Israel auch an alle Völker (Mt 8,11; 21,43; 28,19-20). Die ersten Missionare der christlichen Kirche hielten den Vorrangdes jüdischen Volkes in der Evangelisation aufrecht. Römer 1,16: Die Botschaft des Evangeliums „ist ja Gottes Kraft und rettet jeden, der ihr glaubt. Das gilt zunächst für Juden, aber auch für alle anderen Menschen.“ Das hat Gott so angelegt: „Als Gott nun seinen Diener [Jesus] berief, hat er ihn zuerst zu euch [den Israeliten] gesandt. Euch wollte er segnen, indem er jeden von seinen bösen Taten abbringt“ (Apg 3,26).

Aber weder Jesus noch seine Apostel lehrten, dass dieser Vorrang bedeute, dass Israel aus dem Gericht gerettet würde trotz der Abkehr von Jesus. Jesus kam nicht als einer unter vielen Wegen zu Gott. Er kam als der wahre und einzige jüdische Messias und Mittler zwischen Gott und Mensch. „Ich bin der Weg! Ich bin die Wahrheit und das Leben! Zum Vater kommt man ausschließlich durch mich“ (Joh 14,6). Und er lehrte klar, dass ihn abzulehnen heißt, Gott ablehnen. Ihn anzunehmen war der Lackmus-Test, ob jemandes Behauptung Gott zu kennen wahr ist.

Er sagte zum Beispiel:

  • „Weil ihr nicht wisst, wer ich bin, wisst ihr auch nicht, wer mein Vater ist. Würdet ihr mich kennen, dann würdet ihr auch meinen Vater kennen.“ (Joh 8,19)
  • „Doch wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat.“ (Joh 5,23)
  • „Ich weiß, dass ihr Gottes Liebe nicht in euch habt. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen und ihr lehnt mich ab.“ (Joh 5,42-43)
  • „Wenn Gott euer Vater wäre, dann würdet ihr mich lieben. Denn ich bin von Gott zu euch gekommen, in seinem Auftrag und nicht aus eigenem Entschluss.“ (Joh 8,42)
  • „Denn wer den Sohn leugnet, hat keine Verbindung zum Vater. Wer sich aber zum Sohn bekennt, gehört auch zum Vater.“ (1Joh 2,23)
  • „In den Prophetenschriften heißt es ja: ‚Sie werden alle von Gott unterwiesen sein.‘ Wer also auf den Vater hört und von ihm lernt, kommt zu mir.“ (Joh 6,45)

Es ist also nicht nur der Apostel Paulus, der sagt, dass das jüdische Volk, wenn es Jesus als Messias ablehnt, auch das ewige Leben ablehnt, sondern Jesus selbst hat genau das Gleiche gesagt: „Wer an den Sohn glaubt, wer ihm vertraut, hat ewiges Leben. Wer dem Sohn aber nicht gehorcht, wird das ewige Leben nie zu sehen bekommen, denn Gottes Zorn wird auf ihm bleiben“ (Joh 3,36).

Aber trotz dieser schwerwiegenden Warnungen, hält das Neue Testament an einer spektakulären Hoffnung für Israel fest. Der Apostel Petrus ruft Israel zur Umkehr: „Kehrt zu ihm um, damit der Herr eure Schuld auslöscht und die Zeit der Erholung anbrechen lässt, und damit er euch den Messias sende, den er für euch bestimmt hat, nämlich Jesus“ (Apg 3,19-20).

Und dann, deutlicher als sonst jemand im Neuen Testament, entfaltet Paulus die Hoffnung des Evangeliums für Israel. Es gibt nicht nur einen „Überrest“, der aus Gnade in jeder Generation an Jesus glauben wird (Röm 11,5), sondern es wird auch der Tag kommen, an dem die „Vollzahl“ Israels sich zu Jesus wenden und gerettet wird (Röm 11,12).

Als ein Nichtjude bin ich sozusagen ein wilder Olivenzweig, kein natürlicher. Der „Olivenbaum“ des abrahamitischen Bundes ist nicht mein natürlicher. Aber weil Jesus der Messias für alle Völker ist, bin ich gegen die Natur eingepfropft. Ich habe meine Errettung als Einfügung in den jüdischen Baum. In diesem Bild argumentiert Paulus: „Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum herausgeschnitten und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden!“ (Röm 11,24). Dann sagt er überraschenderweise: „Und so wird ganz Israel errettet werden“ (Röm 11,26).

Das Bild vom Ölbaum, dessen natürliche Zweige die Juden sind und die eingepfropften Zweige die Nichtjuden, enthält auch die Perspektive einer herrlichen Zukunft Israels in der Beziehung zu Jesus.

Dieses Bild des Neuen Testaments einer herrlichen Zukunft Israels in der Beziehung zu Jesus zusammen mit dem Bild von der tragischen Gegenwart Israels außerhalb einer Beziehung zu Jesus, das ist es, was den Wunsch das Vorwort für dieses Buch zu schreiben bestärkte, noch bevor ich es gelesen hatte.

Dann habe ich es gelesen. Nur ein Jude mit einer tiefen Liebe zu seinem Volk konnte dieses Buch schreiben. Ich sage das nicht allein wegen des persönlichen Mitgefühls des Autors, das das Buch erfüllt, sondern auch weil nur eine jüdische Person die Einwände gegen das Zeugnis der Botschaft von Jesus Christus so klar herausarbeiten kann. Das bedeutet auch, dass das Buch emotional und intellektuell auf die Zeit nach dem Holocaust abgestimmt ist, die besonders im Westen zugleich eine pluralistische Welt ist.

Avi Snyder wuchs in einem konservativen jüdischen Elternhaus in New York City auf und kam 1977 durch ein Traktat von Jews for Jesus und dem Zeugnis christlicher Freunde zum Glauben an Jesus. Er hat am Fuller Theological Seminary Missiologie studiert und seit 1978 bei Jews for Jesus in den USA, Großbritannien, der früheren UDSSR, Deutschland und Ungarn mitgearbeitet. Derzeit lebt er mit seiner Frau Ruth in Budapest und leitet die Arbeit von Jews for Jesus in Europa und Russland.

Avi Snyder hat die insgesamt 16 Einwände gegen jüdisches und nichtjüdisches Bemühen, Juden für den Glauben an Jesus zu

gewinnen selbst erfahren. Ich sage „erfahren“, nicht nur einfach davon gehört, weil er aus echten Bezie­hungen heraus spricht, wo diese Einwände einem tiefen Gefühl entsprechen. Er schreibt kenntnisreiche, bib­lische und persönliche Ant­worten zu jedem einzelnen Einwand.

Nichts davon ist rein theoretisch. Wenn du zum Beispiel sagen würdest: „Es ist für einen Juden unmöglich nach dem Horror des Holocaust noch an Jesus zu glauben“, dann wird er sagen:

„Ich wünschte, ich könnte dich ermutigen, Manfred und Laura Wertheim, Rachmiel Frydland, Vera Schlamm, Eleazer Erbach, Rose Price oder Carl Flesch zu fragen, ob es so ist, dass der Holocaust es für einen Juden unmöglich macht, zum Glauben zu finden. Das sind nämlich einige von vielen Juden, die durch das Inferno des Holocaust gegangen sind und zum Glauben an Jeschua fanden.“

Wenn du sagen würdest: „Du machst dir ja nicht klar, welch eine unaussprechliche Geschichte des Umgangs der christlichen Kirche mit den Juden es durch die letzten 2000 Jahre gegeben hat“, so würde er diese Klage ausbreiten:

„Es können so viele Verbrechen gegen Juden zurückgeführt werden auf die antijüdische Lehre der Kirche: An­klagen der Kirchenväter gegen Gottesmörder; judenfeind­liche Gesetze im dunklen Mittelalter; das Abschlachten europäischer Juden durch Kreuzfahrer auf ihrem Weg das Heilige Land zu „befreien“; die Ausweisungen, die Folter, die Tötungen und die gewaltsame Taufe durch die Inquisition; die Ritual­mord­an­klagen und die Pogrome in Europa und Russland; mehr noch: Die antisemitischen Lehren in der Kirche waren ebenso ein erheblicher Faktor der Unterstützung für die Nazis wie das wohlwollende Weg­schauen von vielen in der Kirche während des Holocaust. Es ist nicht verwunderlich, dass es für uns Juden so schwer ist, Jeschua überhaupt fair und unvoreingenommen zuzuhören.“

Würdest du sagen: „Der Glaube an Jesus als Messias wäre das Ende meiner jüdischen Existenz“, antwortete er:

„Der Glaube an Jeschua ist keine Be­­drohung für eine jüdische Existenz, sondern eine Bekräftigung unserer Identität als Juden. Der Gott, der uns durch den Glauben an Jesus rettet, ist der gleiche Gott, der unsere jüdische Identität durch den gleichen Glauben sogar noch vertieft. Viel häufiger erleben Juden, die an Jesus glauben, eine vertiefte Verbindung zu ihrem jüdischen Erbe und ihren Wurzeln. Indem wir zu Jesus kommen, entdecken wir, dass wir nach Hause kommen.“

Und wenn du, wie mancher Deutsche sagen würdest: „Ich empfinde, dass wir Deutschen das Recht verloren haben, mit Juden über den Herrn zu sprechen.“, dann würde er dir freundlich widersprechen:

„Du hast nicht nur das Recht, du hast die Verantwortung, es zu tun. Ich glaube, das Gott Juden aus drei Gründen wieder zurück nach Deutschland bringt. Erstens wegen seiner Liebe für das jüdische Volk, zweitens wegen seiner Liebe zur Kirche in Deutschland und drittens wegen seiner Liebe zum deutschen Volk. Gott will, dass mein Volk das Evangelium hört und gerettet wird. Er will, dass deutsche Gläubige wissen, welche Freude es bedeutet, Gottes Volk zu Ihm zu führen. Gott will, dass Deutsche das Evangelium von jüdischen Lippen hören. Und ich denke, dass er will, dass die Welt Juden und Deutsche gemeinsam das Evangelium verkünden sieht. Was für ein Zeugnis der Liebe des Herrn ist das, was für eine Zeugnis der versöhnenden Kraft des Kreuzes.“

Ein Buch wie dieses wird immer gebraucht, nicht nur wegen der Missverständnisse und legitimen Ängste von Juden, sondern ebenso wegen der Fehler und Ängste von Christen. Aber gerade jetzt, wo ganze christliche Denominationen jedem Bemühen Juden für Jesus zu gewinnen abschwören, wird dieses Buch mehr als je benötigt.

Der Ton, den es anschlägt, ist vollkommen klar: Es ist keine Liebe, seinem Herzen zu folgen, wenn dein Herz eine Theologie vertritt, die der Wahrheit widerspricht.

Schweigen, wenn es um das Evangelium geht, ist nicht Liebe. Schweigen ist der Feind der Errettung des jüdischen Volkes. Schweigen ist der Feind für die Errettung jedes Menschen.

„Vor achtzig Jahren führte die Tendenz, dem Herzen zu folgen, statt Theologie zu betreiben, zu Preisgabe, Verrat und Vernichtung von einem Drittel meines Volkes. Heute führt die gleiche Tendenz dazu, dass das geistliche Wohlergehen des jüdischen Volkes höchster Gefahr ausgesetzt wird. Ironischerweise erschien diese Tendenz das erste Mal als das Ergebnis eines offenen Hasses, während sie heute im Namen der Liebe auftritt.“

Das sind starke Worte. Aber Juden, die ihre Heiligen Schriften kennen, sind starke Worte gewohnt. „Mein Volk kommt um, weil ihm die Erkenntnis fehlt“ (Hos 4,6). Es sind nicht Hass, nicht Ignoranz, nicht Naivität und nicht Mutmaßungen, die Avi Snyder motivieren, bei seinem Volk dafür einzutreten, dass sie sich zu Jesus wenden und bei uns, dass wir sein Anliegen teilen: Es ist Liebe!

„Um Zions willen darf ich nicht schweigen, um Jerusalems willen will ich nicht ruhen, bis das Recht aufstrahlt in ihm wie das Morgenlicht, und seine Rettung wie eine Fackel in der Nacht.“ (Jes 62,1)

Als Nichtjude hat mich dieses Buch dazu bewegt Jesus mehr zu lieben und Juden mehr zu lieben. Bestimmt liegt Avi Snyder richtig:

„Schweigen, wenn es um das Evangelium geht, ist nicht Liebe. Schweigen ist der Feind der Errettung meines Volkes. Schweigen ist der Feind für die Errettung jedes Menschen.“