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ThemenOrientierung

Dienst im Vorgarten des Vatikans – ein Interview mit Leonardo de Chirico

Viele römisch-katholische Christen kennen das Evangelium von Jesus Christus nicht. Die Bibel spielt beim Zeugnis an sie eine wichtige Rolle. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, was den römischen Glauben als System ausmacht, denn die Katholische Kirche hat sich dem Wesen der Reformation bis heute verschlossen.

? Was führte Sie dazu, eine Gemeinde in Rom zu gründen?

! Das war eine Kombination aus verschiedenen Faktoren: Ein wachsendes Bewusstsein für die Berufung, die meine Frau und ich haben, die Ermutigung durch die Vereinigung der reformierten Baptistengemeinden, zu der wir gehören, die wachsende Aufmerksamkeit dafür, die großen Städte der Welt mit dem Evangelium zu erreichen und die Tatsache, dass Rom kaum evangelisiert wurde, die Stadt ist voller Religion aber man findet nur wenig Evangelium.

? Was sind die größten Widerstände für Gemeindegründung in Italien und besonders in Rom?

! Italien wurde von der Gegenreformation geprägt. Das Evangelium, das dem Land gebracht wurde, ist ein unklares und verdrehtes Evangelium. Das Leben der Bibel war verboten, die Kirche hatte eine extreme Kontrolle über die Gesellschaft; die Art, wie die Menschen ihren Glauben leben, war und ist weiterhin voll von heidnischen Elementen. Und auf all dem hat der moderne Säkularismus eine neue Schicht an Skeptizismus gelegt. Das macht den Widerstand noch größer. Rom ist etwas einheitlicher, weil die Römisch-Katholische Kirche hier auch ein politischer Staat ist und so Religion und weltliche Macht immer vermischt. Rom sieht heute aus wie die Stadt Ephesus, wie sie in Apg 19 beschrieben ist, wo der Tempel und die Wirtschaft verwoben waren in einer raffinierten Allianz.

? Sind römisch-katholische Christen dem Evangelium gegenüber sehr ablehnend? Und wenn ja, warum?

! Das Hauptproblem ist, dass die meisten Katholiken davon ausgehen, dass sie das Evangelium schon kennen, weil sie annehmen, die Römisch-Katholische Kirche hätte es sie gelehrt. Würden sie nun diese Kirche ablehnen, wie es viele Römer tun, dann denken sie, dass sie damit auch das Evangelium ablehnen. Wir müssen ihnen zeigen, dass das so nicht der Fall ist. Es ist eine Sache, sich von der Römisch-Katholischen Kirche zu distanzieren. Aber wir versuchen, ihnen zu zeigen, dass das Evangelium etwas anderes ist, das notwendig in einer biblischen Weise gehört werden muss, außerhalb des römisch-katholischen Zusammenhangs.

? Ist die Reformation beendet?

! Reformation nach dem Wort Gottes ist eine andauernde Aufgabe für die Kirche: Ecclesia reformata, semper reformanda (die reformierte Kirche ist die sich immer reformierende Kirche). Bis Christus wiederkommen wird, wird das nicht beendet sein. Soweit die Frage die Reformation des 16. Jahrhunderts betrifft, sind die Themen, die damals herausgestellt wurden, so relevant, wie sie es immer waren: Das Formalprinzip der Refor­mation, die überragende Autorität der Schrift, ist längst nicht in Rom akzeptiert. Nach der römischen Lehre überragt und erweitert die Tradition das geschriebene Wort. Es ist die Kirche, die letztlich entscheidet, was wahr ist. Die letzten drei Dogmen, die durch die römische Kirche bestimmt wurden – 1854 das Dogma von der unbefleckten Empfängnis der Maria, 1870 das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes und 1950 das Dogma der Himmelfahrt Marias – sind für das Gewissen römisch-katholischer Christen bindend, obwohl allen jegliche biblische Rechtfertigung fehlt. Die Bibel, obwohl sie Rom wichtig ist, erscheint unvollständig.

Das gleiche gilt für das Materialprinzip der Reformation, die Rechtfertigung aus Glauben allein: Rom lehnt die forensische Dimension der Recht­ferti­gung ab und konstruiert ihre Bedeu­tung in einem synergistischen und sakramentalen Rahmen, der letztlich der biblischen Rechtfertigung entgegengesetzt ist. Die Römisch-Katho­lische Kirche hat auf die Reformation zuerst mit einer Verdam­mung der Lehren der Reformation reagiert und sich dann auf einen langen Weg des Aggior­namento begeben, das heißt, sie hat ihre Lehren und Praktiken als Reaktion zwar aktualisiert, ohne aber dabei den theologischen Kern zu ändern. Das heißt, sie blieb ganz unreformiert.

» Die römisch-katholische Kirche hat weder das Formalprinzip der Reformation, das ist die Autorität der Heiligen Schrift, ganz angenommen, noch das Materialprinzip der Reformation, das ist die Rechtfertigung aus Glauben allein.

? Sie haben zwei Grundlagen für das römisch-katholische System benannt. Eine davon ist die Beziehung zwischen dem Christen und der Kirche. Wie versteht man diese Beziehung im Katholizismus und was ist die evangelische Antwort?

! Im römischen Katholizismus gibt es eine Tendenz zu glauben, dass die Kirche die Menschwerdung von Jesus Christus in einer wesentlichen Weise weiterführt. Das führt dazu, dass die Ekklesiologie, die Lehre von der Kirche, mit der Christologie verschmilzt. Die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf wird unscharf, indem man auf die Kirche überträgt, was allein dem dreieinen Gott angehört. Wegen dieser unklaren Beziehung zwischen Ekklesiologie und Christologie hat die Kirche ein Selbstverständnis entwickelt, das es ihr als Institution ermöglicht, absolute Macht zu beanspruchen (das königliche Amt Christi), alleinige Mittlerschaft (das priesterliche Amt Christi) und die oberste Autorität in der Lehre (das prophetische Amt Christi). Und das tut sie im Namen von Christus. Diese Abweichungen von der biblischen Lehre ergeben sich aus der fehlerhaften Christus-Kirche Verbindung. Die großen Punkte der protestantischen Reformation – allein die Schrift, allein Christus, allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Ehre Gottes – sind biblische Heilmittel gegen die götzendienerischen Tendenzen in jeder Kirche.

? Was ist das größte Missverständnis, das Evangelikale über den römischen Katholizismus haben?

! Meiner Meinung nach liegt der Fehler darin, dass man die Aufmerksamkeit auf die Teile und Stücke des römisch-katholischen Systems legt und dabei das große Bild aus den Augen verliert, das es zu dem macht, was es ist. Dieser selektive und aufteilende Ansatz schützt einen davor, den institutionellen Ausblick, die theologische Schichtenbildung, die historische Entwicklung und die umfassende Vision der römischen Kirche wahrzunehmen. Das System aber ist so geformt, dass es das römische Element (der Herrschaftsanspruch, der im hierarchischen System Roms steckt) und das katholische Element (die allumfassende Strategie, die alle Entwicklung und Bewegung aufnehmen will) miteinander verbindet. Viele Evangelikale sehen im römischen Katholizismus, was sie gerade sehen wollen und/oder können (z.B. den römisch-katholischen Freund oder Verwandten; eine Bewegung, die ihnen symphatisch erscheint; eine einzelne Praktik, die sie unterstützen oder nicht mögen; einen populären Papst usw.), aber nicht was er ist. In diesem Fall würden die einzelnen Teile zu einem Ganzen werden. Der römische Katholizismus ist kein Bündel aus unverbundenen Elementen, sondern eine wohlgeformte Weltsicht, die von einer weltweiten Institution verkörpert wird. Es ist an der Zeit, den atomistischen Ansatz aufzugeben und zu einer systematischen Betrachtung des Ganzen zu kommen.

» Viele Evangelikale sehen im römischen Katholizismus, was sie gerade sehen wollen, eine symphatische Bewegung, einen populären Papst oder ethische Richtlinien, die sie mögen, aber sie verkennen das ganze System.

? Wie sehen Glaube und Leben des durchschnittlichen Katholiken aus?

! In einem Kontext, in dem die Mehrheit römisch-katholisch ist, sind viele Menschen nur nominell in dieser Religion. Sie denken, dass sie zur Kirche gehören, weil sie dort getauft wurden, aber wenn es um die Überzeugungen geht wählen sie aus, was ihnen passt. Sowohl in Europa als auch in Amerika ist der normale Katholik mehr als alles andere tief in die Marien-, Reliquien- und Heiligenverehrung verwickelt. Darüber hinaus ist der römische Katholizismus teilweise so tief in die Kultur eingebettet (z.B. durch familiäre Bindungen oder die Nationalität), dass er für den Einzelnen schwer unterscheidbar wird von seiner persönlichen oder sozialen Identität. Es stellt eine große Herausforderung dar, das Evangelium in einen solchen Kontext zu bringen. Dort wo der römische Katholizismus nicht die Mehrheit stellt, hat er die Tendenz, sich der vorherrschenden Mainstream-Religiosität anzupassen. So ist das z.B. in den USA mit den sogenannten evangelikalen Katholiken – das sind Menschen, die eine Art von evangelikaler Sprache benutzen, wenn sie über ihren Glauben reden und Dinge tun, die auch Evangelikale tun, wie etwa persönlich beten oder die Bibel lesen. Ich lehne es ab, den Begriff „Evangelikale Katholiken“ dafür zu benutzen, weil der Katholizismus sich nicht allein an die Schrift, die Gnade und den Glauben gebunden hat. Man kann einfach nicht evangelisch und römisch-katholisch zu gleicher Zeit sein. Man kann evangelisch und katholisch nur kombinieren, wenn man eine unklare und verdrehte Idee davon hat, was evangelisch sein meint.

? Wie können wir dazu beitragen, evangeliumszentrierte Gemeinden in katholischen Regionen zu fördern?

! Es gibt weniger als 1% Evangelische in der italienischen Bevölkerung. Der Bedarf ist also groß und Hilfe willkommen. Allerdings wäre solche Hilfe wichtiger, die sich in dauerhafter Partnerschaft an die Seite von örtlichen Gemeinden stellt, als irgendwelche einmaligen Fallschirmabwurf-Initiativen. Zweitens wäre es wichtig, solche Dienste zu ermutigen, die Eigenständigkeit anstreben, besser als eine Kultur der dauerhaften Ab­hängigkeit zu schaffen. Drittens brauchte jede Hilfe eine Perspektive für einen längeren Zeitraum, was der schwierigen geistlichen Situation geschuldet ist, in die wir gehen.

? Warum diszipliniert die römische Kirche die Katholiken im Westen nicht, die kirchliche Lehren über Geburtenkontrolle, Ehe und Scheidung und anderes ablehnen?

! Beim 2. Vatikanischen Konzil hat die römisch-katholische Kirche in den 1960er Jahren ihre Vision davon erneuert, eine Kirche des Volkes zu sein und keine Kirche der Gläubigen. Seitdem hat es nur noch wenig bis gar keine Disziplinierung derjenigen Katholiken mehr gegeben, die von den Regeln abwichen. Diese Tendenz zeigt sich auch wieder im Pontifikat von Papst Franziskus. Seine grundlegende Botschaft heißt, dass die Gnade alles zudeckt und dass die Menschen eher bestärkt werden müssen, wo sie auf einem guten Weg sind, als herausgefordert ihre Sünde zu bereuen und dem Evangelium zu glauben.

? Wie sollten sich evangelische Christen ihren römisch-katholischen Nachbarn und Freunden gegenüber verhalten?

! Meine Daumenregel ist, so viel wie möglich die Bibel auszulegen. Katholiken mögen einiges an christlichem Vokabular kennen, aber das ist grundsätzlich getrübt durch falsche Traditionen und durch ein verzerrendes kulturelles Gepäck. Es ist auch wichtig die persönlichen und gemeinschaftlichen Aspekte des Glaubens aufzuzeigen, um lebbare Alternativen für das tägliche Leben anzubieten. Das Evangelium ist doch nicht nur eine Botschaft für den Einzelnen, wie er in den Himmel kommen kann, sondern eine umfassende Botschaft mit der Herrschaft von Christus im Zentrum, die dem ganzen Leben die Richtung gibt.