ThemenBibelstudien, Bibelverständnis

Verdreht, entstellt, geirrt? Wird das AT von den Autoren des Neuen Testaments falsch zitiert?

Rund 10% des NT sind Zitate oder Bezüge auf das Alte Testament. Wie aber gehen die Autoren bei der Verwendung des AT vor? Entstellen sie die Aussagen oder deuten sie willkürlich in ihre Richtung? Eine genaue Untersuchung zeigt, dass die neutestamentlichen Autoren das AT als ihre Heilige Schrift lesen und im gemeinten Sinn auf die Erfüllung in Jesus Christus deuten.

Mehr als ein Zehntel des Neuen Testamentes (NT) sind Zitate oder Anspielungen auf das Alte Testament (AT). Hierbei ist die Zitierweise der neutestamentlichen Autoren einer der kompliziertesten Aspekte der Bibelauslegung. Sie fordert unsere wichtige Überzeugung heraus, dass die Bibel absolut zuverlässig und fehlerfrei ist. Sie stellt ebenso Anfragen an unseren eigenen Umgang mit biblischen Texten in Predigt und Seelsorge („Dienst des Wortes“). Nach dem Studium dieses Artikels werden Sie mit gutem Gewissen sagen können, dass die Zitate richtig sind und hierfür eine Vielzahl von Gründen benennen können.
Mit einem Bekenntnis zur Richtigkeit der neutestamentlichen Zitate aus dem AT stehen wir u.a. in guter Tradition zur Chicago–Erklärung zur Biblischen Hermeneutik (1982):

Wir verwerfen die Auffassung, dass die Schrift so ausgelegt werden dürfe, dass dadurch der Eindruck entsteht, ein Abschnitt korrigiere einen anderen oder spreche gegen ihn. Wir verwerfen die Auffassung, dass spätere Schreiber der Schrift ältere Abschnitte der Schrift falsch ausgelegt hätten, wenn sie diese zitierten oder sich auf sie bezogen. (aus: Artikel XVII)

Artikel XVIII: Wir bekennen, dass die Auslegung von Bibelstellen innerhalb anderer Bibelstellen immer richtig ist und niemals von der einen Bedeutung des inspirierten Textes abweicht, sondern diese vielmehr erläutert. Die eine Bedeutung der Worte eines Propheten schließt das Verständnis dieser Worte durch den Propheten ein, aber ist nicht auf dieses beschränkt. Diese Bedeutung enthält notwendigerweise die Absicht Gottes, die sich in der Erfüllung dieser Worte erweist.

Wir verwerfen die Auffassung, dass die Schreiber der Bibel immer die vollen Konsequenzen ihrer eigenen Worte verstanden hätten.

1. Das Problem

Dem aufmerksamen Bibelstudenten stößt auf, dass die neu­testamentlichen Au­toren das heilige Alte Testament – vorsichtig ausgedrückt – recht flexibel wieder­geben. Kein wirkliches Problem sind dabei die nur äußerlichen Unterschiede in einzelnen Wörtern oder im Satzbau, die den Inhalt der alten Botschaft nicht verändern. Her­aus­for­dern­der sind hingegen Unter­schiede, bei denen wir uns fragen, ob der neutestamentliche Autor womöglich die historischen und grammatischen Grundlagen des Textes verlassen hat und beim Umgang mit ihm eine unerlaubte Freiheit an den Tag legt.

Ein paar Beispiele:

  • Babylonische Invasion oder Herodes: Wieso versteht Matthäus 2,8 den Text aus Jeremia 31,15 als eine Prophezeiung der Tötung von unschuldigen Babys durch Herodes? Jeremia bezieht sich doch offensichtlich auf die babylonische Invasion von Judäa? Verbiegt Matthäus hier womöglich den alten heiligen Text?
  • Aus Ägypten habe ich Dich gerufen: Hosea 11,1 bezieht sich auf den Auszug Israels aus Ägypten. Matthäus verwendet dieselben Worte im Zusammenhang mit der Rückkehr von Jesus Christus und seinen Eltern aus Ägypten (Mt 2,15).
  • Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden: Nichts aus dem Kontext von 5Mo 25,4 deutet an, was Paulus dann in 1Kor 9,9 lehrt.

Die Frage ist also: Zitierten Jesus und die Apostel das Alte Testament mit Rücksicht auf den Kontext des jeweiligen Textes – oder war ihnen der Kontext womöglich gar nicht besonders wichtig? Stehen ihre Aussagen vielleicht im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht des alttestamentlichen Textes? Provokativ gefragt: Verkündigten Jesus und seine Nachfolger die richtige Lehre anhand der falschen Texte?

Darf ein bibeltreuer Christ solche Fragen stellen? ­– Ja, er darf und er sollte! Weil wir der völligen Irrtumslosigkeit und Fehlerfreiheit, der absoluten Wahrheit der Heiligen Schrift vertrauen, setzen wir uns ehrlich und aufrichtig mit eben dieser Offenbarung Gottes auseinander. Es ist kein Zeichen von Unglaube oder gar Bibelkritik, wenn wir uns solche Fragen stellen: Wir sehen, dass es Unterschiede gibt zwischen dem, was wir heute von einem Zitat erwarten, und dem Umgang der neutestamentlichen Redner und Autoren mit ihren Quellen, und stellen uns dann aufrichtig dieser Problematik.

Es ist kein Zeichen von Unglaube oder Bibelkritik, wenn wir uns kritischen Fragen nach der Zuverlässigkeit der Zitate stellen.

Schluss­end­lich gipfelt die Frage­stellung nach dem Umgang mit biblischen Texten in eine weitere, ebenso praktische: Jeder Bibelausleger muss sich fragen, wie sein eigner Umgang mit dem vom Heiligen Geist geschenkten Text aussieht und inwiefern er selbst berechtigt ist, die vermeintliche Vor­gehensweise neu­­tes­tamentlicher Au­­toren zu übernehmen. Unser Um­­gang mit der Bibel muss sich an einer biblischen Her­­­me­­neutik mes­sen.

2. Was ist überhaupt ein Zitat?

Jeder, der Anfragen beantworten will, prüft zu Beginn, ob der vorgehaltene Vorwurf überhaupt in sich stimmig ist. Erst danach macht er sich auf die Suche nach möglichen Gründen und Ursachen.

Wenn also die Frage lautet, ob die neu­testamentlichen Autoren falsch zitiert haben, dann muss man sich zunächst fragen: Was ist denn überhaupt ein Zitat? Woher nehmen wir das Wissen, dass ein Text als Zitat gemeint war?

2.1 Sind Zitate immer wörtliche Wiedergaben?

Ein Redner sagt während einer Laudatio: „Ich möchte gerne den Künstler wörtlich zitieren…“ – woraufhin ein Zuschauer einwarf: „Zitate sind immer wörtlich!“

Norman L. Geisler schreibt in der Baker Encyclopedia of Christian Apologetics:

„Nicht jedes Zitat muss ein exaktes Zitat sein. Manchmal verwenden wir indirekte und manchmal direkte Zitate. Es war und ist heute ein perfekter literarischer Stil, die Substanz der Aussage wiederzugeben, ohne präzise dieselben Wörter zu verwenden. Dieselbe Bedeutung kann vermittelt werden, ohne dieselben wörtlichen Ausdrücke zu verwenden.“

2.2 Wollte der Autor überhaupt zitieren?

Dass es textliche Abweichungen zwischen AT und NT gibt, bezweifelt niemand: Entsprechende Bibelstellen sind nicht schwer zu finden. Zu prüfen ist hingegen, ob das vermeintliche Zitat vom damaligen Autor auch als Zitat gemeint war.

Die Autoren im NT haben oft nur auf Stellen des Alten Testaments angespielt. Diese aber nicht wirklich zitiert.

Neutestamentliche Schreiber haben oft nur Allusionen verwendet. Dieses Fremdwort stammt aus dem Lateinischen und bedeutet: [auf etwas] anspielen, [etwas] andeuten. Hierbei werden Ausdrücke verwendet, die nicht direkt, sondern andeutungsweise eine Handlung mit einem Fall aus der Geschichte oder Literatur vergleicht.

Das bedeutet, dass solche Formulierungen überhaupt gar kein Zitat sein sollen. Roger Nicole erklärt, dass wir einen hohen Grad von Übereinstimmung mit dem Original nur dann erwarten dürfen, wenn die Zitatabsicht durch eine einleitende Formel verdeutlicht wird. Dies darf auch nur dann geschehen, wenn das vermeintliche Zitat der einleitenden Formel direkt folgt. Wir werden hierauf zurückkommen, wenn wir zusammengesetzte Zitate bedenken.

2.3 Welche Bibelübersetzung wurde verwendet?

Die neutestamentlichen Redner und Autoren verwendeten selbst bei guten Hebräischkenntnissen oft die damalige griechische Übersetzung, die sogenannte Septuaginta (LXX). Darin sind sie uns heutigen Predigern gleich: Wir predigen nicht auf Griechisch, sondern auf Deutsch und zitieren dabei meist eine vorliegende Übersetzung. Das allein kann schon Unterschiede erklären.

Wer mit Übersetzungen zu tun hat, weiß: Wenn eine freiere Übersetzung die Bedeutung des Originals besser wiedergibt als eine wortwörtliche, dann ist die freiere vorzuziehen. Die vorliegende Ausarbeitung basiert auf etlichen englischen Texten; wann immer ich wörtlich übersetzte, stellte ich fest, dass das Ergebnis eher schwerlastig ist und eine 1:1 – Abbildung von Diktion und Grammatik nicht selten ein Hindernis zum Verständnis ist.

2.4 Was zitieren die Autoren?

In der wissenschaftlichen Arbeit ist es heutzutage geboten, die Primärquelle zu zitieren. Der Wissenschaftler soll möglichst das Originalwerk zitieren, nicht jemanden, der jemanden zitiert, der ein Zitat des Originals in seinem Werk zitiert.

Mitunter stellt dann der Wissen­schaftler fest, dass das Original in einer anderen Sprache als der Zielsprache geschrieben ist. Deswegen war es früher gute Übung an den theologischen Ausbildungsstätten, solide Kenntnisse mindestens des Koine-Griechisch und des Hebräischen zu vermitteln. Leider wird auch hierauf mehr und mehr verzichtet.

Dennoch sind dies moderne Grund­sätze und wir müssen fragen, ob sie auch von den neutestamentlichen Autoren verlangt werden dürfen.

2.5 Wen zitieren die Autoren?

Der Autor dieses Artikels ist ein waschechter Berliner. Stellen Sie sich vor, wir begegneten uns und ich stelle mich mit den Worten vor: „Ich bin ein Berliner“. Was wäre Ihre Assoziation?

Viele von uns, gerade die Älteren, assoziieren mit diesen Worten eine Aussage des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy am 26. Juni 1963 in Berlin. Meinte ich das aber?

  • Vielleicht verwendete ich es als Zitat – dann hätte ich unvollständig zitiert. Macht diese Verkürzung mein Zitat dann ungültig?
  • Vielleicht verwende ich es als Allusion. Damit setze ich mich keineswegs mit JFK gleich oder vergleiche meine Situation mit der damaligen politischen Weltgeschichte: Ich hätte nur auf die geschichtliche Aussage angespielt, um meiner Aussage einen bestimmten Geschmack zu verleihen.
  • Aber vielleicht meinte ich überhaupt nicht diesen Ausspruch von JFK. Der Satz hat auch ohne historische Quelle seine Richtigkeit. Vielleicht wusste ich wie viele junge Menschen von heute nicht einmal, wer JFK ist und dass er solches gesagt hatte. Vielleicht spielte ich stattdessen auf Madeleine Albright an. Die US-amerikanische Politikerin sagte während der Jugoslawienkriege in einer Rede „Ich bin Sarajevoerin!“. Dann wäre mein angebliches JFK-Zitat eine Bezugnahme auf ihre Aussage, das ich für meine Zwecke auf Berlin anpasste.

Nur wenn der Autor seine Aussage als Zitat kennzeichnet, können wir auch sicher sein, dass er wirklich zitiert.

Ich möchte für die Gefahr sensibilisieren, eine Passage als Zitat zu klassifizieren, nur weil wir meinen, ihre Quelle zu kennen. Dies ist aber solange eine (richtige oder falsche) Unterstellung, solange der Autor seine Passage nicht als Zitat ausweist. Zudem wissen wir auch nicht, ob die von uns zugewiesene alttestamentliche Stelle wirklich die zitierte Quelle ist.

Es ist womöglich hilfreich sich zu erinnern, dass zwischen der originalen Verfassung der alttestamentlichen Worte und ihrer angeblichen Zitierung im NT zwischen 400 und mehr als 2000 Jahre liegen! In der Zwischenzeit wurden diese Texte u.a. von Rabbis ausgelegt, gepredigt und in den jeweiligen Schulen aufgegriffen. Möglicherweise zitiert der neutestamentliche Autor kein biblisches Original, sondern Schriften oder Wortspiele der Rabbiner. Wenn möglich, sollte bei einem angeblichen Zitat nachgeforscht werden, wie das alttestamentliche Wort im Judaismus verstanden und verwendet wurde. Snodgrass trägt hierzu folgendes Beispiel vor:

Die Verwendung von 5Mo 18, 15-19 ist ein gutes Beispiel eines Textes, das ein Leben im Judaismus hatte. Der Text beginnt mit „Einen Propheten wie mich wird dir Jahwe, dein Gott, aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören“.

Das Original war kein messianischer Text, aber die Verheißung eines Propheten wie Mose wurde (vielleicht wegen 5Mo 34,10) idealisiert, so dass Hoffnung auf einen eschatologischen Propheten aufkam: 5Mo 18,18 wird sowohl im Samaritanischen Pentateuch als auch im Dokument 4Q Testimonia der Rollen vom Toten Meer messianisch verstanden. Diese Erwartung eines eschatologischen Propheten ist offensichtlich in Joh 1,21, wo Johannes der Täufer gefragt wird, ob er der Prophet ist und in 6,14, wo Leute ausrufen, dass Jesus „wahrhaftig der Prophet ist, der in die Welt kommen soll.“ In Apg 4,3 verwendet Petrus diese Erwartung, um seinen Zuhörern die Identität Jesu zu belegen.

Eine solche Verwendung entspringt einem Kontext, in dem bestimmte Annahmen zu einem Text existierten und solche Annahmen zum Werkzeug wurden, um etwas anderes zu beschreiben.

2.6 Die „Testimonia“

Die frühen Christen benutzten sogenannte „Testimonia“. Dies waren Zusammenstellungen alttestamentlicher Texte, die thematisch unter apologetischen, liturgischen und katechetischen Aspekten zusammengestellt wurden. John William Drane erläutert:

In der jungen Christenheit gab es Listen von Prophezeiungen, die Jesus erfüllt hatte. Sie dienten offenbar als praktische Quelle für Prediger und Gemeinden.

Eine wichtige Aussage des jungen Christentums war, dass Jesus Christus die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen war. Nun brauchten die Christen eine klare Zusammenstellung, welche Prophezeiungen Jesus erfüllt habe und wie dies zu beweisen sei. In Qumran wurden mehrere dieser Listen gefunden, aber es gab auch über diese Gruppe hinaus Interesse an solchen Zusammenstellungen. Die Wissen­schaft bezeichnet sie als „Testimonia“, da sie Zeugnisse (Testimonia) der Schrift bezüglich Christus wiedergeben.

Snodgrass erklärt, dass solche Listen eine praktische Quelle für Prediger und heidenchristliche Gemeinden waren.

Somit sind Testimonia ein Fenster in die frühe Gemeinde und deren Umgang mit Theologie und alttestamentlichen Zitaten.

3. Grundtextliche Herausforderungen bei Zitaten

Zur Zeit des Neuen Testaments benutzte man fast keine Satzzeichen.

Die NT-Schreiber unterlagen nicht denselben Regeln wie heutige wissenschaftliche Werke. Einerseits, weil sie überhaupt nicht als akademische Schrift gedacht waren, andererseits, weil sie die in heutigen Zitaten so wichtigen Satzzeichen nicht verwenden konnten, da es sie schlicht und einfach noch gar nicht gab.

3.1 Die nt. Autoren hatten keine Anführungsstriche.

Daher ist es selten möglich zu bestimmen, wo ein vermeintliches Zitat beginnt und endet, und somit kann man nur vermuten, welchen Umfang das Zitat wirklich haben sollte.

Moderne Übersetzungen der Bibel setzen Anführungsstriche nachträglich, was eine durchaus hilfreiche redaktionelle Arbeit ist. Diese Anführungsstriche sind aber nicht Bestandteil des ursprünglichen Textes und unterliegen nicht der göttlichen Inspiration des biblischen Textes; sie haben den (durchaus annehmbaren) Rang einer Interpretation.

In bestimmten Fällen mag es sehr gut sein, dass die Autoren kürzere Zitate vornahmen als redaktionell angenommen, und sie den Text dann aus eigenem Antrieb fortführten und hierbei bestimmte Wörter oder Formulierungen der Quelle verwendeten, ohne diese aber weiterhin als Zitat zu verstehen.

3.2 Die nt. Autoren hatten keine Auslassungszeichen […].

Daher können wir nicht sehen, wo sie Auslassungen vorgenommen haben. Diese Auslassungen sollten deshalb aber nicht als unzulässig verworfen werden.

Lukas 4, 18-19 berichtet davon, dass der Herr Jesus aus Jesaja 61,2 vorliest. Sein Zitat über seine Sendung endet mit „auszurufen ein angenehmes Jahr des Herrn“. Der alttestamentliche Vers geht eigentlich weiter, aber der Herr Jesus bricht ab und gibt daraufhin die Buchrolle zurück und stellt dann fest: „Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt“ (4,21).

Jes 61,2 liest eben neben dem zitierten „auszurufen das Gnadenjahr Jahwes“ auch noch „und den Tag der Rache für unsern Gott“. Er liest das Zitat nur bis zur benannten Stelle, weil der hintere Teil des Originaltextes zu jener Zeit eben gerade noch nicht erfüllt war: Jesus zitiert, was sich auf sein erstes Kommen bezieht.

3.3 Die nt. Autoren hatten keine Klammern oder Geviertstriche.

Sie hatten keine Klammern oder Geviertstriche (die zum Schrecken der Buchsetzer umgangssprachlich Bindestriche genannt werden), um ihre bearbeitenden Kommentare in das Zitat einzufügen. Daher sollte es uns nicht verwundern, wenn wir Hinzufügungen antreffen, die aus einem oder mehreren Wörtern bestehen.

Heutige Bibelübersetzungen stellen sich der Herausforderung, dies entsprechend zu kennzeichnen, wie das folgende Beispiel aus der Revidierten Elberfelder Übersetzung zeigt.

Die beiden alttestamentlichen Quellen –

2Mo 20,12 Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage lange währen in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt. 

5Mo 5,16 Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie der HERR, dein Gott, <es> dir geboten hat, damit deine Tage lange währen und damit es dir gutgeht in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!

– werden von Paulus im Epheserbrief zitiert. Die Übersetzer helfen dem Leser durch das nachträgliche Setzen von Anführungsstrichen und Geviertstrichen:

Eph 6, 2.3 „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ – das ist das erste Gebot mit Verheißung – „damit es dir wohlgehe und du lange lebst auf der Erde.“

Originaltext und Einfügung sind so klar ersichtlich.

3.4 Die nt. Autoren hatten keine Fußnoten.

Die im Computerzeitalter so einfach einzufügenden Fußnoten sind ein idealer Ort für eine Angabe der Quelle oder Hinweise zu vorgenommenen Veränderungen des Originaltextes. Aber so etwas war damals nicht üblich.

4. Wie zitieren die Autoren?

4.1 Sie nehmen kleinere sprachliche Anpassungen vor

Mitunter finden kleinere sprachliche Anpassungen statt. Diese sind am leichtesten zu begründen. Oft werden sie verwendet, um die Quelle sprachlich besser in den neutestamentlichen Text einzupassen:

4.1.1 Sie ersetzen Pronomen durch Nomen (und umgekehrt)

Die Schreiber des Neuen Testaments ersetzen manchmal ein Nomen durch ein Pronomen:

Jes 40,3 „Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt den Weg des HERRN! Ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott!“

-> Mt 3,3 „Denn dieser ist der, von dem durch den Propheten Jesaja geredet ist, der spricht: “Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Pfade!“

Sie ersetzen auch ein Pronomen durch ein Nomen:

Psalm 118,26 liest: „Gesegnet ist Er, der da kommt im Namen des Herrn“  Lukas 19,38 gibt wieder: „Gesegnet ist der König, der im Namen des Herrn kommt“.

Beide Arten von Änderungen sind alltäglich und völlig in Ordnung.

4.1.2 Sie setzen Nomen/Pronomen in die Mehrzahl.

Ps 78,2 Einzahl: „Ich will meinen Mund zu einer Gleichnisrede öffnen“

-> Mt 13,35 Mehrzahl: „Ich will meinen Mund zu Gleichnisreden öffnen“ 

-> Jesaja 7,14 Einzahl: „Sie wird ihn Immanuel nennen“ (Jes 7,14).

-> Mt 1,23 zitiert in der Mehrzahl: „Sie werden ihn Immanuel nennen“.

Beides ist in praktischer Hinsicht dasselbe.

4.1.3 Sie verwenden Synonyme.

Jes 40,3 wird neutestamentlich mit einem Synonym wiedergegeben, also mittels eines inhaltsgleichen Wortes:

Jes 40,3 spricht von Straße: „Ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott!“

-> Mt 3,3 verwendet das Synonym Pfade (hier zusätzlich noch in der Mehrzahl): „macht gerade seine Pfade!“

4.1.4 Sie ändern die Reihenfolge

Als Jesus fünf der Zehn Gebote zitiert, weicht er von deren Reihenfolge in 2 Mose 20 ab. Eine inhaltliche Änderung oder eine neue Priorisierung der Gebote kann daraus nicht abgeleitet werden.

4.2 Sie umschreiben

Die Autoren des NT übertragen die Bedeutung einer ganzen Passage in eine Umschreibung, in der die Quelle erkennbar bleibt.

Manchmal übertragen die neutestamentlichen Autoren die Bedeutung einer alttestamentlichen Passage locker als Umschreibung, sie paraphrasieren. Ein Beispiel kann Mt 13, 35 sein: „[…] ich werde aussprechen, was von Grundlegung der Welt an verborgen war.“ Dies könnte eine entsprechende Umschreibung der Aussage von Ps 78,2 sein: „Ich will meinen Mund öffnen zu einem Spruch, will hervorbringen Rätsel aus der Vorzeit.“

Eine solche Para­phra­sierung wird auch heutzutage empfohlen! In seinen formalen Richtlinien für die Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit schreibt W.G. Campbell:

„Eine sorgfältige Umschreibung, die der Quelle vollständig gerecht wird, ist einem langen Zitat vorzuziehen.“

4.3 Sie fassen ein alttestamentliches Konzept zusammen

Mitunter zitieren Autoren keine konkrete Passage; sie fassen die Lehre der kanonischen Bücher zu einem bestimmten Thema zusammen und umschreiben sie in einer für das Neue Testament passenden Form: hierbei bringen sie sprachlich zum Ausdruck, dass sie dem grundlegenden Gedanken des Alten Testamentes Rechnung tragen oder mit ihm übereinstimmen.

Franklin Johnson nennt solche Passagen in seiner Sammlung alttesta­mentlicher Zitate quotations of substance, was man vielleicht mit „Inhalts­zitaten“ übersetzen könnte.1

Arnold G. Fruch­­tenbaum sieht z.B. in Mt 2,23 ein Beispiel für eine solche Zusam­menfassung eines alttestamentlichen Kon­zeptes: „[Jesus] kam und wohnte in einer Stadt, genannt Nazareth; damit erfüllt würde, was durch die Propheten geredet ist: ‘Er wird Nazarener genannt werden’.“ Eine solche prophetische Aussage findet sich aber im Alten Testament nicht. Matthäus redet sogar von „den Propheten“, also in der Mehrzahl, weshalb sich doch wenigstens zwei Aussagen finden lassen sollten, aber es gibt nicht einmal eine.

Die Verwendung der Mehrzahl „die Propheten“ ist für Fruchtenbaum ein Hinweis für jene Kategorie, die Johnson quotations of substance nannte, also für eine konzeptionelle Zusammenfassung alttestamentlicher Aussagen: Im ersten Jahrhundert waren Nazarener verachtet und wurden abgelehnt.

Wir kennen die sarkastische Frage aus Joh 1,46: „Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ Die Bezeichnung Nazarener wurde verwendet, um zu verachten und zu beschämen. Und das war es, was die Propheten, z.B. in Jes 53,3 ankündigten: Der Messias würde verachtet werden und dies wird mit der Bezeichnung Nazarener zusammengefasst.2

Es geht also auch darum, dass ein alttestamentliches Prinzip ein neutestamentliches Ereignis bestätigt. In Apostelgeschichte 15 muss sich das Jerusalemer Konzil mit der Notwendigkeit der Beschneidung von Heidenchristen beschäftigen. Im Laufe der Erörterung zitiert Jakobus Amos 9,11-12, in dem es um die Wiedererrichtung der verfallenen Hütte Davids geht. Jakobus zitierte dies nicht, um zu sagen, dass diese Bibelstelle zur gegenwärtigen Zeit erfüllt sei; vielmehr betont er, dass ein Heil für Nichtjuden durchaus im Einklang mit den Prophetenworten steht: Wenn Heiden nach Amos Teil des zukünftigen Königreichs Gottes sind, möge man doch bitte kein Problem haben, wenn Gott sie auch im gegenwärtigen Zeitalter in sein Volk ruft. Deshalb sollten Heidenchristen auch nicht beschnitten werden müssen.

4.4 Sie beziehen ein Zitat auf eine konkrete Person

Manchmal identifiziert sich der Redner mit einem Zitat. Johannes der Täufer zitierte Jesaja 40,3:

Die Stimme eines Rufenden [ertönt]: In der Wüste bereitet den Weg des HERRN, ebnet in der Steppe eine Straße unserem Gott!

Er erklärt dann, dass er jener sei, von dem Jesaja redete (Joh 1,23).

Er sprach: Ich bin „die Stimme eines Rufenden, [die ertönt] in der Wüste: Ebnet den Weg des Herrn!“, wie der Prophet Jesaja gesagt hat.

Das Zitat ist keineswegs falsch, sondern richtig: Die alte Botschaft wird konkreter erklärt, in diesem Fall: Der Rufende, der bei Jesaja anonym bleibt, bekommt ein Gesicht und einen Namen!

4.5 Sie unterstützen neutestamentliche Aussagen

In Matthäus 22, 32 zitiert Jesus 2. Mose 3,6, „Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ um seine Aussage zu unterstützen, dass Gott ein Gott der Lebenden ist und dass Auferstehung vom Tode daher eine Realität ist. Der Lehrstreit mit den Sadduzäern, die die Auferstehung leugneten, war damit anhand der Bibel geklärt.

Der Umgang mit der Bibel in der Bibel ist äußerst vorbildlich und wert, nachgeahmt zu werden.

Ein solcher Umgang mit der Bibel und mit Zitaten ist äußerst vorbildlich und nachahmenswert! Wer das hermeneutische Prinzip der „Analogie des Glaubens“ praktiziert, tut recht so: Die Bibel widerspricht sich nicht, weil unser unveränderlicher Gott sich nicht widerspricht. Daher können und müssen wir unsere Aussagen mit eindeutigen biblischen Zitaten belegen.

Ein zweites Vorgehen dieser Art findet sich in Markus 10,8, wo Jesus anhand von 1Mo 2,24 über die Ehe spricht: Das Thema Scheidung beantwortet er mit einem alttestamentlichen Zitat!

Die Wahrheit, dass die „Botschaft vom Kreuz Torheit denen ist, die verloren gehen“ (1Kor 1,18) wird in Vers 19 mit dem Zitat von Jes 29,14 belegt: „Denn es steht geschrieben: Ich werde die Weisheit der Weisen vernichten, und den Verstand der Verständigen werde ich verwerfen.“

4.6 Sie zeigen die Erfüllung einer alttestamentlichen Aussage auf

Nach Mt 1,22-23 war die so genannte Jungfrauengeburt eine Erfüllung der Prophezeiung aus Jes 7,14:

Mt 1,22f: „Dies alles geschah aber, damit erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, der spricht: ‚Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emmanuel nennen‘, was übersetzt ist: Gott mit uns.“

Ebenso bezieht sich Matthäus auf den Geburtsort von Jesus, Bethlehem, als Er­fül­lung der Prophezeiung in Micha 5,2.

Zitate dieser Kategorie sind uns vermutlich die liebsten!

4.7 Sie verbinden mehrere (vermeintliche) Zitate

Mitunter werden zwei Zitate kombiniert und dem prominenteren der beiden alttestamentlichen Autoren zugeordnet.

Dies ist vermutlich der Fall in Markus 1, 2-3: „wie in dem Propheten Jesaja geschrieben steht: ‚Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg bereiten wird.‘ ‚Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade gerade!‘“

Vers 2 zitiert Maleachi 3,1 und Vers 3 zitiert Jesaja 40,3, und doch leitet Markus diese Verse ein mit: „wie in dem Propheten Jesaja geschrieben steht“.3

Ich konnte zwei Lösungs­ansätze finden:

4.7.1 Sie benennen nur die prominentere Quelle

Von den beiden Propheten wird Jesaja als der offensichtlich prominentere genannt. Zudem eröffnet das Jesajabuch im hebräischen Alten Testament jenen Teil, der als „Propheten“ bekannt ist und der mit Maleachi abschließt.

4.7.2 Sie verwenden Einleitungs­formeln

Roger Nicole hält aneinandergereihte Zitate nur dann für echte Zitate, wenn jedes davon mit den Worten „und wieder“ oder „wiederum“ eingeleitet wird, zum Beispiel:

  • Röm 15,11 Und wieder: „Lobt den Herrn, alle Nationen, und alle Völker sollen ihn preisen!“
  • 1Kor 3,20 Und wieder: „Der Herr kennt die Überlegungen der Weisen, dass sie nichtig sind.“
  • Hebr 1,5 Denn zu welchem der Engel hat er jemals gesagt: „Mein Sohn bist {du}, {ich} habe dich heute gezeugt?“ und wiederum: „{Ich} werde ihm Vater und er wird mir Sohn sein?“
  • Hebr 2,13 Und wiederum: „Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen.“ Und wiederum: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat.“
  • Hebr 10,30: Denn wir kennen den, der gesagt hat: „Mein ist die Rache, ich will vergelten“; und wiederum: „Der Herr wird sein Volk richten.“

Fälle, in denen der Einleitungsformel mit erstem Zitat ein weiteres vermeintliches Zitat folgt, das aber nur mit „und“ oder „aber“ angehängt ist, oder gar ohne Bindeglied auskommt, bezeichnet Nicole als ziemlich unsicher („quite precarious“) und würde daher kein formales Zitat unterstellen wollen.

4.8 Sie haben ein semitisches Vorverständnis

Die Autoren des NT verbinden mitunter zwei Zitate und nennen nur die prominentere Quelle ausdrücklich.

Wie nutzen neutestamentliche Autoren das AT? Sie hatten hierbei gewisse Ein­stellungen, Prägungen bzw. Vor­annahmen, die zu kennen wichtig ist. Dazu gehört das semitische Verständnis von Indi­viduum und Gemeinschaft, das unserem heutigen, westlichen Verständnis nicht gleicht.4

Im semitischen Denken, so schreibt Snodgrass, ist die Tat eines Einzelnen nicht einfach nur die Tat eines Einzelnen, da es Auswirkungen auf die Gemeinschaft hat. Denken wir an Achan, der gesündigt hatte (Josua 7) – leiden musste aber das ganze Volk. Umgekehrt gilt genau dasselbe: In Psalm 118 geht es eigentlich um das Volk Israel, aber ein Individuum spricht in Vers 10: „Alle Nationen hatten mich umringt. Im Namen Jahwes – ja, ich wehrte sie ab.“ Der Sprecher steht als Teil des Ganzen (pars pro toto, wie die Lateiner sagen): Er ist der Repräsentant der Nation.

Dieses Konzept ist uns nicht unbekannt, weil wir die Aussage kennen: „einer ist für alle gestorben <und> somit sind alle gestorben“ (2Kor 5,14).

Der Dienst von Jesus Christus als Repräsentant ist diesem Denken sehr ähnlich. Das zu wissen, hilft zu verstehen, wie alttestamentliche Texte auf ihn (und durch ihn) angewandt werden. Die christologischen Titel „Diener“, „Sohn des Menschen“ und „Sohn Gottes“ waren allesamt Titel, die zunächst an Israel vergeben wurden. Jesus übernahm diese Titel, weil er die Aufgabe Israels übernommen hatte. Er war der Repräsentant Israels und in Solidargemeinschaft mit dieser Nation.

Gottes Absichten mit diesem Volk wurden nun in seinem Dienst aufgenommen. Und daher können die Beschreibungen, die zunächst für Israel galten, von ihm und für ihn übernommen werden.

4.9 Sie beziehen alttestamentliche Situationen auf Christus

Bei dieser Kategorie erinnern wir uns wohl automatisch an die Emmausjünger. Das muss eine spannende Lehrzeit gewesen sein, wie Lukas berichtet (24,27): „Und von Mose und von allen Propheten anfangend, erklärte er ihnen in allen Schriften das, was ihn betraf.“

Bei einer Anzahl von Vorkommnissen beziehen sich die neutestamentlichen Autoren auf Aussagen im AT und erweitern oder dehnen diese Aussagen über den geschichtlichen Rahmen hinaus aus. Obwohl sich die Passagen in den beiden Testamenten auf völlig unterschiedliche historische Gegebenheiten beziehen, sahen die NT-Schreiber Parallelen oder Analogien in Bezug auf Christus.

Die alttestamentlichen Situationen wurden im NT erhöht, um von Christus zu sprechen. Die NT-Stellen widersprechen den Passagen des AT nicht.

Mit dem, was der Herr Jesus ihnen erklärte, wurde aber keine neue Lehre begründet, sondern aufgezeigt, wie viel im Alten Testament bereits auf Jesus hinweist bzw. wie viel er davon in seinem Leben, in seinem stellvertretenden Opfer und in seiner fortwährenden Fürsprache an der Seite Gottes (Heb 8,1) erfüllt.

4.10 Zusammenfassung

Wenn man es sehr grob zusammenfassen möchte, könnte man sagen: diese Sammlung von Zitierweisen zeigt auf, dass die neutestamentlichen Redner und Schreiber oft den Gedanken der alttestamentlichen Passagen bewahrten, anstatt jedes Mal wörtliche Zitate zu verwenden, auch wenn sie letzteres durchaus auch häufig taten. Man darf aber aus diesen Unterschieden keinen Mangel ableiten. Von Jesus belehrt und vom Heiligen Geist getrieben, nutzen sie das Alte Testament, um das neue entstehen zu lassen.

5. Zwei Meinungsäußerungen zum Abschluss

5.1 Gibt es einen „sensus plenior“?

Mit dem lateinischen Begriff sensus plenior (vollerer / tieferer Sinn) wird die folgende Frage behandelt: Kann hinter einer Aussage in ihrem historischen und grammatischen Kontext und ihrer historischen Bedeutung noch eine zweite, zusätzliche Bedeutung verborgen sein? Kann also eine biblische Aussage mehr als nur genau eine Bedeutung haben? Diese hermeneutische Frage ist relevant für jeden Schriftausleger und berührt durchaus auch das in diesem Aufsatz behandelte Thema.

So empfiehlt die päpstliche Bibel­kom­mis­sion, das Alte Testament nicht in der Be­grenzung des historischen Rahmens zu belassen; der Text sei im Licht des österlichen Geheimnisses Christi und des neuen Lebens, das in die Gemeinden des Glaubens übergeht, zu beleuchten.

Auch wenn eine Bibelstelle nur einen eindeutigen Sinn hat, kann sie doch eine Vielfalt von Anwendungen haben.

Vor vielen Jahren formulierte Milton S. Terry ein hermeneutisches Prinzip: eine Bibelstelle hat nur eine Bedeutung. Er schrieb: ein grundlegendes Prinzip in der grammatisch-historischen Auslegung ist, dass Wörter und Sätze nur eine Bedeutung in einem und demselben Zusammenhang haben. Sobald wir dieses Prinzip vernachlässigen, werden wir in ein Meer der Unsicherheit und Vermutungen abdriften.

Bernard Ramm trat als Fürsprecher für dasselbe Prinzip mit anderen Worten auf:

„Wir müssen uns an die alte Formel halten: Eine Auslegung, mehrere Anwendungen. Durch sorgfältiges Studieren muss diese eine Bedeutung ermittelt werden.“

So beschreibt es auch die Chicago Erklärung zur Biblischen Hermeneutik, Artikel VII:

„Wir bekennen, dass die Bedeutung, die in jedem biblischen Text ausgedrückt wird, eine einzige, bestimmte und unabänderliche Bedeutung ist.

Wir verwerfen die Auffassung, dass die Anerkennung dieser einen Bedeutung die Vielfalt ihrer Anwendbarkeit ausschließe.“

Meine Erkenntnis reicht nicht aus, um dem sensus plenior seine Existenzberechtigung abzusprechen. Meine Erläuterungen zeigen auf, dass wir viele zunächst sonderbare „Zitate“ erklären können, ohne zwangsläufig auf den sensus plenior zurückgreifen zu müssen.

Ich möchte einladen, neu Energie aufzuwenden, nach der einen Bedeutung des Textes in seinem damaligen Kontext zu forschen. Diese Bedeutung hat durchaus unterschiedliche Anwendungen. Diese dürfen aber erst fixiert werden, wenn wir mit Schweiß und Geduld herausgefunden haben, was der damalige Autor dem damaligen Botschaftsempfänger gesagt hat.

5.2 Stellen wir uns der Überprüfbarkeit unserer Lehre!

Sollten wir nun das Alte Testament ebenso verwenden, wie es die Schreiber des Neuen Testaments taten? Können wir ihre Methodik benutzen, um die christliche Bedeutung in Texten des Alten Testaments zu finden? Snodgrass hält fest, dass diese Frage entscheidend ist, da ein Missbrauch der alttestamentlichen Botschaft in der Geschichte der Christenheit nur zu häufig vorkam.

Die Apostel waren in einer einzigartigen Situation: Sie waren ganz nahe am Dienst, am Tod und an der Auferstehung Jesu Christi. Die neutestamentlichen Autoren hatten einen einzigartigen Auftrag: das Wort Gottes niederzuschreiben.

In Situation und Auftrag unterscheiden wir uns von ihnen. Wir haben zwar den gleichen Heiligen Geist wie sie, aber wir können für unsere Predigten und Schriften niemals dieselbe Inspiration des Heiligen Geistes unterstellen, die die Autoren beim Verfassen der biblischen Texte trieb!

Lasst uns Predigt und Lehre stets so begründen, dass unsere Hörer und Leser sie anhand der abgeschlossenen Offenbarung des Wortes Gottes überprüfen können. Geben wir ihnen die Chance und ermutigen wir sie, so edel zu sein wie die ersten Christen in Beröa (Apg 17,11).

Die Schreiber des NT waren verschmolzen mit der Schrift. Sie war Grundlage, Inhalt und Rahmen ihrer Theologie. Nicht anders sollte es bei uns sein.

Ich stimme Snodgrass zu:

„Bei der Auslegung eines biblischen Textes müssen wir uns von der Absicht der damaligen Autoren leiten lassen. Dabei lesen wir die Schriften im Licht der Person und des Werkes Christi. Aber wir müssen dem widerstehen, dass wir alttestamentlichen Texten neutestamentliche Theologie aufpressen oder jedem alttestamentlichen Text eine christologische Bedeutung geben. Wir werden aber versagt haben, wenn wir uns nicht fragen, welche Funktion ein alttestamentlicher Text in der gesamten Bibel hat. Ohne das Alte Testament zu allegorisieren, müssen wir Gottes überragende Absichten mit seinem Volk erforschen.“

Die Schreiber des Neuen Testamentes waren verschmolzen mit der Schrift. Die Schrift war Grundlage, Inhalt und Rahmen ihrer Theologie. Nicht anders sollte es bei uns sein.


  1. Johnson ordnet die folgenden Stellen dieser Kategorie zu: Mt 2,23; 5,31.33; 12,3.5; 19,7; 22,24; 24,15; 26,24.54.56; Mk 2,25; 9,12f; 10,4; 12,19; 14,21.49; Lk 2,22; 6,3; 11,49; 18,31; 20,28; 21,22; 24,27.32.44–46; Joh 1,45; 5,39.46; 7,38.42; 8,17; 17,12; 19,7.28; 20,9; Apg 1,16; 3,18; 7,51; 13,22.29; 17,2–3; Röm 3,10; 1Kor 2,9; 14,34; 15,3f.25–27; 2Kor 4,6; Gal 3,22; 4,22; Eph 5,14; Jak 4,5; 2Pet 3,12–13. 

  2. Fruchtenbaum versteht auch Lukas 18,31-33 als eine solche Zusammenfassung. 

  3. Hinweis: im Textus Receptus fehlt der Name des Propheten, weswegen z.B. die Sch2000 ihn ebenso wenig nennt 

  4. Es ist mitunter schwer, sich seiner eigenen Kultur bewusst zu werden; noch schwerer ist es, sich in eine andere Kultur hineinzudenken. Westeuropäer müssten wohl zunächst ihrer Schuldkultur bewusst werden, um die Schamkultur des Nahen und Fernen Ostens besser verstehen und einordnen zu können.