ThemenPredigten und Bibelarbeiten

Ein richtiger Mann – Boas im Buch Rut

Das moderne Männerbild ist in die Krise gekommen. Leider sind auch Christen hier allzu oft dem Zeitgeist nur hinterher gelaufen. Dabei lohnt der Blick in die Bibel. Hier wird uns eine Berufung des Mannes in Familie, Gemeinde und Gesellschaft gezeigt, die am besten mit dem Begriff „dienende Leiterschaft“ bezeichnet werden kann.

Vor einigen Jahren hat der Kinderpsychiater Wolfgang Berg­mann Alarm geschlagen. Er schrieb das Buch „Kleine Jungs, große Not“1. In diesem und einigen anderen Ratgebern ist die Rede von Buben, die durch das unsichere Gefüge der Kleinfamilie und durch die Überbehütung der Mütter nicht erwachsen werden und immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Nicht nur die kleinen Jungs sind in Not, auch die großen. Sie stecken, will man den Soziologen glauben, in einer tiefen Identitätskrise. Und sie werden nicht erwachsen. Bettina Weber schreibt im Tages-Anzeiger über die Ratlosigkeit der Männer bezüglich ihrer eigenen Rolle:

Den Mann als Ernährer im herkömmlichen Sinn gibt es nicht mehr, Frauen verdienen selbst genug Geld, sie sind sogar oft besser ausgebildet als Männer und verdrängen diese aus ihren angestammten Hoheitsgebieten. Es herrscht unter dem einst starken Geschlecht offenbar Ratlosigkeit bezüglich der eigenen Rolle, und solange man die nicht findet, verharrt man sicherheitshalber in der, die so viel Spass macht: in der des ewigen Buben.2

Den Männern mangelt es an positiven Rollenvorbildern. Ein solches Vorbild habe ich in meinem Bibelstudium entdeckt. Es geht um Boas im Buch Rut. Wie stärkt mich sein Beispiel in meiner Männlichkeit?

  • Boas widerlegt die Entschuldigung „alle um mich herum sind so, also darf ich auch so sein“.
  • Boas bestärkt mich darin, aufmerksam zu sein für die Bedürfnisse von anderen.
  • Boas beeindruckt mich durch seine Integrität und seine Initiative.

1. Ein richtiger Mann orientiert sich nicht an seinen Kollegen.

Das Buch Rut beginnt mit dem wichtigen Satz: „Und es geschah in den Tagen, als die Richter regierten.“ Diese einführende Bemerkung rahmt die ganze Geschichte von Boas und Rut ein.

Wie war es um die Gesell­­schaft bestellt in jener Zeit? Das erfahren wir aus dem Buch Richter, das in unseren deutschen Bibeln dem Buch Rut direkt vorangeht. Der letzte Vers des Richterbuches widerspiegelt die Lage der Nation: „Und jeder tat, was in seinen eigenen Augen Recht war.“ (Richter 21,25)

Das Volk Israel gab ein jämmerliches Bild ab: Sie huldigten allen Göttern der Nachbarvölker. Gottes Gesetz, auf das sie Mose vor nicht allzu langer Zeit verpflichtet hatte, war in Vergessenheit geraten. Der Name „Jahwe“ war nur noch eine Worthülse.

Und in eben jenen Tagen gab es eine Familie aus Bethlehem, die wegen einer Hungersnot ins Nachbarland Moab zog.

Und es geschah in den Tagen, als die Richter regierten, da entstand eine Hungersnot im Land. Damals zog ein Mann aus Bethlehem in Juda fort, um sich im Gebiet von Moab niederzulassen samt seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Und der Name dieses Mannes war Elimelech, und der Name seiner Frau Naemi, seine beiden Söhne aber hießen Machlon und Kiljon; sie waren Ephratiter aus Bethlehem in Juda. Und sie kamen in das Gebiet von Moab und lebten dort. Elimelech aber, Naemis Mann, starb, und sie blieb allein übrig mit ihren beiden Söhnen. Und diese nahmen sich moabitische Frauen; der Name der einen war Orpa, und der Name der anderen Rut. Und sie wohnten etwa zehn Jahre dort. Danach starben auch sie beide, Machlon und Kiljon, so dass die Frau ohne ihre beiden Söhne und ihren Mann allein übrigblieb. (Rut 1,1-4)

In dieser nüchternen Beschreibung steckt große Tragik: Bethlehem heißt wörtlich „Haus des Brotes“. Aber es war kein Brot mehr da. Die Familie flüchtet aus dem Land, das eigentlich von Milch und Honig überfließen sollte (lies z.B. 5. Mo­se 8,7-9). Hungersnot war nach der Ankündigung von Moses Gesetz eine Folge des Ungehorsams (lies 5. Mose 28,15ff). Doch niemand scheint auf den Gedan­ken gekommen sein, dass die Nahrungsmittel­knappheit von daher rührte. Der Text berichtet nur zusammenfassend, dass die beiden Söhne der Familie moabitische Frauen geheiratet haben. Dabei hatte Gott angeordnet, dass ein Moabiter nicht in die Gemeinde Israels kommen sollte (5. Mose 23,4-5). Und was geschieht? Sowohl der Vater wie die beiden Söhne werden dahingerafft. So war kein Ernährer mehr da. In der damaligen Zeit bedeutete dies Armut für die hinterbliebenen Frauen.

Diese einleitende Geschichte beinhaltet bereits eine wichtige Botschaft für uns Männer. Heute höre ich manchmal die Aussage, gerade wenn es um ethische Themen geht, also um die Frage, wie wir unser Leben gestalten sollen: „Das war halt damals so. Heute lässt sich dies und das nicht mehr durchhalten.“ Das Argument hinkt. Die biblische Ethik war schon immer „kontra-intuitiv“, also den Gepflogenheiten der Zeit entgegenlaufend. Darum bin ich skeptisch gegen diese Art von Einwürfen. Ich sehe für uns Männer zwei Gefahren:

Die erste ist Überschätzung. Wir rechnen in unserem Alltag zu wenig damit, dass wir Sünder sind. David, ein Mann nach dem Herzen Gottes (1. Samuel 13,14), bringt genau dies in einem der Bußpsalmen zum Ausdruck. Nach seiner fürchterlichen Verfehlung – Mord und Ehebruch – wird er sich bewusst, dass er als Sünder geboren wurde (Psalm 51,7). Ich bin in meinem Sein als Mann nicht nur unzulänglich und begrenzt im Sinne von „nobody is perfect“. Das lassen wir ja augenzwinkernd noch gelten. Nein, es geht weiter: Wir Männer sind Sünder, nicht nur in unserem Tun, sondern auch in unserem Sein. Es wird deshalb nicht reichen, ein fürsorglicher Ehemann und Vater, ein zuverlässiger Arbeitnehmer und Steuerzahler zu sein. Wir Männer brauchen dringend die Erlösung durch Christus. Genau dies hat Jesus einem renommierten religiösen Führer seiner Tage deutlich gemacht: Wenn du nicht von neuem geboren wirst, kannst du das Reich Gottes nicht sehen (Johannes 3,5).

Für alle, die neues Leben von Gott geschenkt bekommen haben, lauert eine nächste Gefahr:

Wir Männer unterschätzen uns. Petrus sagt, dass wir über die volle Ausrüstung zu einem Leben mit Gott verfügen (2. Petrus 1,3-4). Vielfach treffe ich ein entgegengesetztes Verständnis bei uns Männern an: Wir versuchen aus eigener Kraft gute Ehemänner, Väter und Arbeitnehmer zu sein. Wenn wir darin versagen, beginnen wir die inneren Ansprüche zurückzuschrauben. Das ist schade!

So tun wir einerseits gut daran, uns nicht zu überschätzen. Unsere Kraft und unser Wille werden nicht reichen, um ein richtiger Mann zu sein. Andererseits darf es uns nicht gleichgültig sein, wozu wir durch Gottes Gnade und mit seiner Kraft in der Lage sind. Wir sind nicht mehr Sklaven der Sünde; wir sind weder unserem Wagen, noch dem Fußball, noch der Game-Konsole, aber auch nicht unserer Bequemlichkeit, unserem Entscheidungs­un­wil­len, unserem Stolz, unseren finanziellen Ansprüchen wehrlos ausgeliefert. Ich möchte gerne als Mann in die Geschichte eingehen, der am Ende nicht mit den geübtesten Daumen, der längsten Märklin-Modelleisenbahn, einer beeindruckenden Publikationsliste, einer makellosen Karri­ere oder einem gediegenen Wein­keller aufzuwarten hat. Sondern als einer, der durch das Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit immer wieder gedemütigt und durch das Erleben der göttlichen Unterstützung im geistlichen Kampf nicht unterlegen ist.

Ein richtiger Mann ist jemand, den sein Sünder­sein demütig hält

Ein richtiger Mann ist jemand, den sein Sünder­sein demütig hält, und den seine Be­rufung als Heiliger anspornt zu einem geheiligten Lebensstil.

2. Ein richtiger Mann ist du-orientiert

Vor einigen Jahren sorgte in den frommen Kreisen das Buch „Der ungezähmte Mann“3 für Furore. Nach der Beschreibung des Autors war Jesus ein Haudegen, die Apostel hartgesottene Männer. Der Autor äußert sich eher abschätzig über den „netten Kerl,“ der einer regelmäßigen Arbeit nachgeht und erweckt den Eindruck, dass ein Mann, der sich nicht von Felsenklippen stürzt, Stromschnellen herunterjagt oder Elche erlegt, nach seinem falschen Selbst lebt und nicht nach seinem wahren und wilden Selbst. Mit diesem männlichen Kontrastbild kann ich wenig anfangen. Es erinnert mich eher an die Heldenfiguren einiger Filme, die im realen Leben genau das machen, was ich nicht will: Mich meiner Verantwortung zu entziehen. Zudem verläuft mein Leben ganz anders: Ich habe vor acht Jahren meinen Wagen verkauft, wir wohnen in einer Mietwohnung, ich arbeite Teilzeit. Ich fische nicht, jage nicht und schieße nicht. Inwiefern dient uns bei der Suche nach einer Alternative Boas als Modell?

Boas war, so kann man annehmen, ein reicher Gutsherr. Er residierte in Bethlehem. Wahrscheinlich war er Ange­höriger des Ältestenrates der Stadt. Wie alt er war und in welchem Zivilstand er sich befand, erfahren wir aus dem Text nicht. Das Buch Rut ist eigentlich nur auf eines ausgerichtet: Auf die Erzählung, wie die Ausländerin Rut den Gutsherrn Boas ehelichte und wie aus dieser Verbindung ein Vorfahre des Königs David und schließlich der Messias hervorging (Rut 4,18-22). Doch wir erfahren eine Menge Details über die Art und Weise des Umgangs, den Boas pflegte. Wenn wir sein Beispiel auf dem Hintergrund des Richterbuches anschauen, wird der Kontrast umso deutlicher:

  • Während Barak, der Heerführer Israels, zaudert und zögert und sich erst auf das Betreiben einer mutigen Prophetin in Bewegung setzt (Richter 4), ist bei Boas Zielstrebigkeit auszumachen.
  • Wo Gideon, ein anderer Richter ebenfalls viel Anlauf braucht, um von Gott in Betrieb genommen zu werden, und gegen Ende seines Lebens mit Götzendienst ins Schlittern kommt (Richter 6-8), bleibt Boas geradlinig.
  • Wo Jephta ein unausgegliche­nes Tem­pe­rament und viel Unberechen­barkeit in seine Herrschaft bringt (Richter 11), bleibt Boas berechenbar.
  • Wo Simson von der einen Frau zur nächs­ten rennt (Richter 13-16), bleibt Boas sauber.
  • Wo ein Mann seine Nebenfrau zur Verge­waltigung frei gibt (Richter 19-21), schützt Boas vom ersten Moment an eine Ausländerin auf den eigenen Feldern.

Und siehe, Boas kam von Bethlehem her und sprach zu den Schnittern: Der HERR sei mit euch! Und sie antworteten ihm: Der HERR segne dich! Und Boas fragte seinen Knecht, der über die Schnitter bestellt war: Zu wem gehört diese junge Frau? Und der Knecht, der über die Schnitter bestellt war, antwortete und sprach: Das ist die moabitische junge Frau, die mit Naemi aus dem Gebiet von Moab zurückgekommen ist. Und sie hat gesagt: Lass mich doch auflesen und zwischen den Garben sammeln hinter den Schnittern her! Und sie kam und blieb vom Morgen an bis jetzt; sie bleibt nicht lange zu Hause sitzen!

Da sprach Boas zu Rut: Hörst du, meine Tochter? Du sollst auf keinen anderen Acker gehen, um aufzulesen; und begib dich auch nicht weg von hier, sondern halte dich da zu meinen Mägden. Dein Auge sei auf das Feld gerichtet, wo sie schneiden, und geh hinter ihnen her! Habe ich nicht den Knechten geboten, dass dich niemand antasten soll? Und wenn du Durst hast, so geh hin zu den Gefäßen und trinke von dem, was die Knechte schöpfen!

Da fiel sie auf ihr Angesicht und neigte sich zur Erde und sprach: Warum habe ich vor deinen Augen Gnade gefunden, dass du dich um mich kümmerst, da ich doch eine Fremde bin? Da antwortete Boas und sprach zu ihr: Es ist mir alles erzählt worden, was du an deiner Schwiegermutter getan hast nach dem Tod deines Mannes, wie du deinen Vater und deine Mutter und dein Heimatland verlassen hast und zu einem Volk gezogen bist, das du zuvor nicht kanntest. Der HERR vergelte dir deine Tat, und dir werde voller Lohn zuteil von dem HERRN, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um Zuflucht zu suchen unter seinen Flügeln! (…)

Und zur Essenszeit sprach Boas zu ihr: Komm her und iss von dem Brot und tunke deinen Bissen in den Essig! Und sie setzte sich neben die Schnitter. Er aber gab ihr geröstetes Korn, und sie aß und wurde satt und ließ übrig. Und als sie wieder aufstand, um Ähren aufzulesen, gebot Boas seinen Knechten und sprach: Lasst sie auch zwischen den Garben auflesen und tut ihr nichts zuleide! Und ihr sollt auch aus den Ähren-Bündeln etwas für sie herausziehen und es liegen lassen, damit sie es auflesen kann, und ihr sollt sie deswegen nicht schelten! (Rut 2,4-16)

Die gesetzliche Lage war von Gott eindeutig geregelt worden: Eine Person, die für ihren Lebensunterhalt nicht aufkommen konnte, durfte auf den Feldern Nachlese halten (lies z.B. 3. Mose 19,9). Ausdrücklich hatte Jahwe durch Mose geboten, die Ränder der Felder nicht abzuernten. Ich glaube nicht, dass Boas mit dem Ältestenrat der Stadt ein Problem bekommen hätte, wenn er diesem Gebot nicht nachgekommen wäre. Im Gegenteil. Es scheint ja eine große Rechtsunsicherheit geherrscht zu haben. Die Armen litten besonders unter einem solchen Zustand. Umso mehr erstaunt, wie Boas auftrat.

Zuerst einmal kommt er selbst vor Ort aufs Feld. Er war nicht ein Mann, der im Glashaus residierte, sondern in die glühende Hitze des Feldes hinausging. Zweitens nimmt er sehr schnell wahr, was sich auf seinem Feld abspielt. Er bemerkt die Frau, die fleißig hinter den Schnittern Ähren auflas. Wahrnehmen ist das eine, das andere ist das Handeln. Er fragt seinen Aufseher, wer diese Frau ist. Er sorgt für ihre Verpflegung. Er sorgt dafür, dass sicherlich genügend Ähren liegen blieben. Und er schärft seinen Männern ein, dieser Frau auf keinen Fall sexuelle Gewalt anzutun. Dieser Vorgehensweise gewinne ich einiges ab:

  • Wahrnehmen ist das eine. Das bedeutet, dass ich meine eigenen Gedanken zurückstelle. Manchmal gelingt mir das nicht. Ich bin so voll von meinen eigenen Projekten, dass ich nicht richtig zuhöre.
  • Vor Ort gehen das nächste: Hin­schauen ist eines, hingehen das andere. Ich habe so viele Ausreden, warum dies nicht geht: Ich bin müde. Ich habe noch so viel anderes zu tun.
  • Handeln: Im Rahmen seines Hand­lungs­spielraums traf Boas weise Anordnungen zum Schutz der Schwächeren. Wenn ich in mein Leben blicke, dann sehe ich meine Frau, die mit sechs Männern4) im gleichen Haushalt lebt. Wahrnehmen? Vor Ort gehen? Handeln? Das hört sich wie eine Handlungsanleitung für meinen Alltag an.

Männer, wir sind gerufen, unseren Blick wegzu­wenden von unseren vielen Spiel­zeugen. Stellen wir uns unserer Verantwortung? Für mich sind es die Bücher, für dich die Arbeit, der neue Wagen, der Computer, die Sportsendungen. Wir werden einmal nicht dafür gelobt werden, dass wir in fünf Jahren kein Spiel verpassten, sondern als treue Knechte unseres Herrn in unserem täglichen Umfeld uns selbst verleugnet haben. Und das nicht um des Verleugnens willen, sondern weil wir dadurch Gott ehren und unsere Freude an ihm finden. Und damit leben wir genau in der Bestimmung, die Gott für uns vorgesehen hat.

3. Ein richtiger Mann ist integer und zeigt Initiative.

Männer, die am Wochenende 12 Stunden mit ihren Games und mit Fernsehen beschäftigt sind

Die zu Beginn angesprochene Iden­titäts­krise des Mannes hat längst auf uns Christen durchgeschlagen. Kevin DeYoung, Blogger, Buchautor und Pastor Mitte Dreißig ortet bei den christlichen Männern ähnliche Symptome wie die Journalistin, die ich zitiert habe: Er redet von Männern, die am Wochenende 12 Stunden mit ihren Games be­schäftigt sind und fernsehen und sich am Sonntag nach dem Gottesdienst gleich wieder ver­ziehen. Und er spricht von Heerscharen von verzweifelten Single-Frauen, die sich sehnlich einen Mann wünschen, der Verantwortung über­nimmt, Pläne hat, eine Konversation führen kann, der nicht länger mit seinem Glauben spielt, ein Mann, der für eine Familie sorgen kann, am Abend mit den Kindern betet, dem es wichtig ist, am Sonntag zu Kirche zu gehen.5

Auch die zweite Begegnung von Boas mit Rut ist lehrreich. Bestärkt durch die erfahrene Hilfeleistung und aufgefordert von der Schwiegermutter, zieht Rut ihr bestes Gewand an und sucht Boas nachts in seiner Tenne auf. Offenbar übernachtet er draußen, vielleicht um das Korn zu bewachen. Rut legt sich zu seinen Füßen und wartet auf seine Reaktion. Boas schnellt aus seinem Schlaf auf. Und dann? Für jeden Dreigroschenroman wären die nächsten Schritte klar gewesen: Er hätte die Frau genommen und mit ihr Sex gehabt. Nein, das passierte nicht:

Als nun Boas gegessen und getrunken hatte und sein Herz guter Dinge war, ging er und legte sich hinter einen Garbenhaufen. Und sie kam leise und hob die Decke auf zu seinen Füßen und legte sich dort hin. Als es nun Mitternacht war, da schrak der Mann auf und beugte sich vor, und siehe, da lag eine Frau zu seinen Füßen! Da fragte er: Wer bist du? Sie aber antwortete: Ich bin Rut, deine Magd! So breite deine Flügel über deine Magd; denn du bist ja Löser!

Er aber sprach: Gesegnet seist du vom HERRN, meine Tochter! Du hast jetzt noch edler gehandelt als zuvor, dass du nicht den jungen Männern nachgelaufen bist, weder den armen noch den reichen! Nun, meine Tochter, fürchte dich nicht! Alles, was du wünschst, das will ich für dich tun; denn jedermann im Tor meines Volkes weiß, dass du eine tugendhafte Frau bist. Und nun, es ist wahr, dass ich ein Löser bin; aber es ist noch ein anderer Löser da, der näher verwandt ist als ich. Bleibe über Nacht! Und morgen dann – wenn er dich lösen will, nun, so löse er dich! Gefällt es ihm aber nicht, dich zu lösen, so will ich dich lösen, so wahr der HERR lebt! Bleibe bis zum Morgen liegen!

So lag sie bis zum Morgen zu seinen Füßen. Dann stand sie auf, ehe noch einer den anderen erkennen konnte, denn er sprach: Es soll nicht bekannt werden, dass eine Frau auf die Tenne gekommen ist! Und er sagte: Gib den Überwurf her, den du anhast, und halte ihn auf! Und sie hielt ihn auf. Da maß er sechs Maß Gerste ab und lud es ihr auf und ging in die Stadt. (Rut 3,7-15)

Charakter kommt dann zum Tragen, wenn dich niemand sieht

Charakter kommt dann zum Tragen, wenn dich niemand sieht. Rut begibt sich hier in Gefahr, sie demonstriert ihre Abhängigkeit. Nach dem Gesetz war Boas als naher Verwandter in der Löser-Pflicht. Als „Löser“ hatte er Rut zu heiraten und für männliche Nachkommen zu sorgen (siehe 5. Mose 25,5-9). An diese Pflicht wollte Rut Boas erinnern. Boas erkennt dies sofort an. Ich glaube nicht, dass er einfach so gehandelt hat, weil er in Rut eine attraktive Frau sah. Zumindest erwähnt der Text nichts davon. Was er hingegen betont, sind Boas‘ anerkennende Worte. Er lobt ihre Treue. Sie hatte pflichtbewusst für ihre Schwiegermutter gesorgt und nicht ihre eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt. Und sie gelangt nun an ihn mit einer berechtigten Bitte. Wie reagierte er darauf?

  • Er übernimmt Verantwortung. Die­ser Zug war Boas seit der ersten Begeg­nung eigen. Rut ist auf sein Feld gekommen, also sorgt er für ihre Rechte und schützt sie. Dass Rut ihn nun bittet, Löser zu werden und sie zu heiraten, bedeutete eine noch viel größere Verbindlichkeit. Es würde erbrechtliche Konsequenzen haben. Boas nimmt den Ball an.
  • Er geht den rechtmäßigen Weg. Auf dem gesellschaftlichen Hintergrund, den ich vorhin beschrieben habe, wäre Boas günstiger gekommen, die ganze Angelegenheit informell zu regeln. Er hätte Rut als Magd einstellen und ihre sexuellen Dienste als Nebenfrau in Anspruch nehmen können. Doch Boas beschreitet den rechtmäßigen Weg nach dem Gesetz und präsentiert den Fall dem Ältestenrat der Stadt.
  • Er schob Angelegenheiten nicht auf die lange Bank, sondern packte sie schnell an. Boas geht am nächsten Tag hin und regelt die Sache mit dem näheren Verwandten. (Dieser schlägt die Pflicht aus erbrechtlichen Überlegungen aus!)

Boas ermutigt mich in meinem Mann-Sein. Wo andere Männer das Vakuum bedenkenlos für sich ausnützen, schlägt er eine andere Richtung ein. Wie sieht dieser Weg aus? Ich fasse zusammen:

Er orientiert sich an Gottes Gesetz und zeigt so in seinem Alltag, wessen Diener er ist. Er ist nicht von seinen Projekten absorbiert, sondern nimmt seine Umgebung und Verantwortung wahr. Auch im kleinen Rahmen bleibt Boas integer. Was er versprochen hat, packt er zügig an.

Könnte es sein, dass ein Teil der heutigen Geschlechterverwirrung daher rührt, dass solche Männer fehlen? Ich blicke um mich herum und sehe sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche

  • desorientierte Männer, die immer länger zögern, zu heiraten und für mehrere Kinder Verantwortung zu übernehmen;
  • Männer in fortgeschrittenem Alter, deren Ehe auseinander bricht und die sich in einem unverbindlichen Rahmen das holen, worauf sie meinen ein Recht zu haben.
  • Ich sehe aber auch viele junge Fami­lienväter in meiner Generation, die mit der Mehrfach-Rol­le Ehe­mann, Vater, (Teil­zeit-)Arbeit­nehmer, Haus­mann etc. überfordert sind.
  • Ich beobachte die Generation der Babyboom-Männer, die sich für den letzten Abschnitt ihres Lebens vorgenommen haben nochmals richtig auf den Putz zu hauen.

Die Gemeinde scheint wenig mehr bereit zu halten als eben entweder einige Trostpflaster „Gott nimmt dich an, wie du bist“; oder aber sie bietet die Alternative eines hart­gesottenen Kerls, der seine Passion zur Jagd wiederentdecken muss. Ich plädiere für einen dritten Weg: den der dienenden Leiterschaft. Boas war ein dienender Leiter, der sich wohltuend vom „motzenden Tyrannen“ und auch vom „zaudernden Waschlappen“ abhebt.


  1. Wolfgang Bergmann. Kleine Jungs, grosse Not. Beltz: Weinheim 2009. Ich denke außerdem an Wolfgang Bergmann. Warum unsere Kinder ein Glück sind. Beltz: Weinheim 2009. Wolfgang Bergmann. Gerald Hüther. Computersüchtig: Kinder im Sog der modernen Medien. Beltz: Weinheim 2010. Wolfgang Bergmann. Ich bin der Größte und ganz allein. Patmos: Düsseldorf 2009. 

  2. Bettina Weber. Wenn Männer nicht erwachsen werden. http://www.tagesan­zeiger.ch/leben/ gesellschaft/Wenn-Maen­­­ner-nicht-erwa­ch­sen-werden-/story/ 15307863 

  3. John Eldridge. Der ungezähmte Mann. Brunnen: Giessen 2007. 

  4. Der Verfasser meint sich und seine Söhne. (d.Red. 

  5. Kevin De Young. http://thegospelcoalition.org/blogs/kevindeyoung/2011/11/03/dude-wheres-your-bride/ (16.01.2012). Ausführlicher siehe Kevin DeYoung. Just do it! Moody Publishers: Chicago 2009.