ThemenFrage & Antwort

War Jesus eine Zeit von Gott verlassen?

Frage: War Jesus tatsächlich von Gott verlassen, wie es seine Klage am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ zu sagen scheint?

Die klassische Meinung bejaht, dass Jesus von Gott verlassen wurde? Aber ist das möglich? Ist es nicht nur eine Ableitung (Deduktion)? Oder wird es biblisch belegt und wann soll das stattgefunden haben? Irgendwann am Kreuz oder erst im Tod? Belegen aber nicht die anderen Worte Jesu am Kreuz (Vater, vergib; In deine Hände befehle ich meinen Geist), dass er nicht von Gott verlassen war?

Und außerdem erscheinen mir auch einige andere Verse dazu in Widerspruch zu stehen, dass Jesus mit dem Ruf aus Psalm 22 eine wirkliche Gottverlassenheit meinen kann.

Joh 8,29 Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.

Joh 16,32 Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.

2Ko 5,19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

Ps 22,12.20 Sei nicht ferne von mir, …

Ps 22,25 Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und als er zu ihm schrie, hörte er’s.

Antwort:

Die angegebenen Verse zeigen deutlich, dass es sich bei der Gottverlassenheit von Jesus nur um einen zeitlich begrenzten Zustand gehandelt haben kann. Wenn die Verlassenheit von Jesus aber begrenzt war, dann sprechen sie auch nicht dagegen. Sie zeigen die andere Seite und dafür gilt, dass der Sohn Gottes von Ewigkeit her in ungetrübter Gemeinschaft mit Gott gelebt hat. Er allein hat Gott jemals wirklich gesehen. Er war allein im „Schoß des Vaters“ (Joh 1,18). Er ist der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und trägt das Abbild des ewigen Wesens Gottes in sich (Heb 1,3; Kol 1,15). Er ist der einzige, der ganz mit dem Vater und seinem Geist eins ist (Joh 10,30; 17,21). Die Herrlichkeit und Majestät von Jesus ist untrennbar damit verbunden, dass er untrennbar mit Gott verbunden ist.

Es bleibt unbegreiflich, wie der ewige Sohn wirklich Mensch werden konnte und dabei seine Gottheit zugleich in Fülle an sich tragen und auch auf sie verzichten konnte.

Darum ist es von Anfang an unbegreiflich, wie der ewige Sohn, der die ewige göttliche Herrlichkeit von Ewigkeit her hat (Joh 17,5) und bis in alle Ewigkeiten besitzt (Heb 13,8), überhaupt Mensch werden konnte, sich erniedrigen und seine Gottheit dabei völlig an sich tragen (Kol 2,9) und zugleich seine Gottheit ablegen (Phil 2,6-7: Kenosis). Wir können von dieser Situation her gar nicht anders, als dass wir aus den Bibelversen Ableitungen machen und die unlogische Situation dem menschlichen Verstand nahebringen. Dass wir dabei auf scheinbar widersprüchliche Aussagen angewiesen sind, zeigt uns jedenfalls, dass das, was wir in der Bibel lesen, keine menschliche Phantasie ausgedacht hat, sondern nur der göttlichen Weisheit entsprungen sein kann, die alles menschliche Denken und Vorstellen übersteigt. Die Bibel redet von Tatsachen, die nicht ausdenkbar sind, unsere Logik übersteigen, aber zugleich keineswegs absurd sind. Sie enthalten auf den ersten Blick Widersprüche, sind aber unter Berücksichtigung ihrer Komplexität ohne Widersprüche.

Gottverlassen­heit heißt für Jesus, dass er, der das Leben ist, den Tod auf sich nimmt.

Das Thema Gottverlassenheit hängt mit der Frage zusammen, ob der Herr des Lebens, der das Leben selber ist, sterben kann. Hier wurde auch in der frühen Zeit der Kirche das eigentliche Problem gesehen und von einem Teil der Christenheit so beantwortet, dass Jesus nur scheinbar starb. Es sehe so aus, als ob, aber in Wirklichkeit sei er nicht tot gewesen. Oder man trennte den Leib vom Wesen und sagte, dass der Körper zwar starb, aber Jesus sonst vom Tod unberührt blieb.

Durchgesetzt hat sich aber eine andere Entscheidung, die auch im apostolischen Glaubensbekenntnis in Worte gefasst wurde. Jesus starb wirklich und war im Reich des Todes. Jesus hat auch im Vorhinein darüber Auskunft gegeben, dass er das Leben so in sich hat und das Leben selbst ist, dass niemand ihm das Leben nehmen kann, sondern dass er es selbst gibt (Joh 10.17-18; 14,6). Und doch war es unmöglich, dass der Fürst des Lebens in der Gewalt des Todes bleibt, in die er für die Schuld der Menschen eine Zeit lang übergeben war (Apg 2,24; 3,15). So sagt es Petrus in seiner Predigt im Tempel.

Daraus folgt der erste Schluss auf die Gottverlassenheit von Jesus. Jesus hat sich freiwillig eine begrenzte Zeit in die Gewalt des Todes begeben. Im Vertrauen auf seinen Vater wartete er dort darauf, dass der ihn aus dem Tod auferwecken würde. Verlassenheit heißt aber nicht, dass der Tod ein für Gott unzugängliches Reich oder Herrschaftsgebiet hätte. Vor Gott fliehen kann man auch nicht in den Tod, weil er auch dort ist (Ps 139,8). Wenn aber der Urheber des Lebens selber den Tod schmeckt, dann unter vorübergehender Aufgabe oder Abwesenheit der Gottheit (Phil 2,6-7).

Gottverlassen­heit heißt für Jesus, dass er, der ohne Sünde war, zur Sünde gemacht wurde.

Dass Jesus starb, hatte aber seinen Grund darin, dass er die Schuld der Menschen auf sich nahm. Auch das soll man sich nach der Bibel nicht so vorstellen, als ob Jesus die Sünden der Menschen wie einen schweren Rucksack trug und sie dann im äußersten Meer versenkte. Jesus, der selber ohne Sünde war und dem die Sünde als Feindschaft mit Gott völlig unbekannt war, wurde für uns zu Sünde gemacht. So drückt es Paulus in 2Kor 5,21 aus. Für mich ist das der Schlüsselvers für die Gottverlassenheit.

Sünde, das sind nach dem Verständnis der Bibel nicht nur die Vergehen und einzelnen Taten des Ungehorsams, sondern die Rebellion gegen Gott, die sich mit dem Wesen des Menschen seit dem ersten Ungehorsam fest verbunden hat. Jesus Christus aber kannte diese Sünde überhaupt nicht. Er lebte doch seit Ewigkeit in völliger Einheit mit dem Vater.

In seinem Leben auf der Erde trifft ihn diese Sünde zunächst leiblich, weil der Sohn erfährt, dass der Vater nicht geehrt wird (Joh 5,22-23). Dann aber machte er sich eins mit dieser unserer Sünde. Der Gottessohn wird Gottes Feind, nicht durch eigene Sünde, sondern weil er sich mit unserer Schuld identifiziert. Er nahm unsere Krankheit auf sich, lud unsere Schuld auf sich (Jes 53,5). Er wird geschlagen und gestraft, weil er mit unserer Schuld schuldig war.

Wenn es diese völlige Identifikation nicht gegeben hätte, dann könnte es auch die andere Identifikation nicht geben, in der ich sagen kann: „Ich bin mit Jesus gestorben und begraben in seinen Tod“ (Röm 6,2-11; Gal 2,19-20; Kol 3,3). Ich wurde für meine Sünden bestraft, als Jesus ein für allemal für mich gestraft wurde.

Was Jesus im Garten Gethsemane fürchtete, war die Gottverlassen­heit, die er vielleicht nur einen Augenblick erleiden musste.

Nun kann es wieder nicht anders sein, als dass Jesus zur Sünde gemacht wurde in Gottverlassenheit. Gott kann sich doch nicht mit der Sünde eins machen, er ist unantastbar vom Bösen (Jak 1,13). Deswegen kann der Sünder auch nicht ins Paradies, es sei denn, er wurde zur Gerechtigkeit gemacht (2Kor 5,21).

Wir sollten wenigstens eine Ahnung davon bekommen, was es bedeutete, von Gott verlassen zu sein: das ist die Hölle. Wie kann es nur sein, dass so viele damit leichtfertig spielen?

Es stellt sich auch die Frage, was Jesus eigentlich fürchtete, als er im Garten Gethsemane inständig und unter Qualen darum bat, dass der „Kelch“ an ihm vorübergehen möge (Mt 26,39). Nach meiner Überzeugung ging es hier nicht in erster Linie um Schmerz, Verachtung und Sterben, sondern wesentlich um die Gottverlassenheit. Der, der in Ewigkeit niemals auch nur im Entferntesten mit Gott uneins war, sondern in ewiger Liebe mit ihm verbunden, der sollte den ganzen Zorn Gottes über die Sünde zu spüren bekommen. Und das geschah eben nicht nur so als ob, sondern tatsächlich. Menschen mögen leichtfertig damit spielen, dass Gott ihnen fern bleiben kann. Der Gottessohn aber wusste, was das bedeutet: Das ist die Hölle. Er fürchtete das, obwohl es nur kurz und vorübergehend war.

Wann genau und wie lange hat Gott Jesus verlassen? Wir wissen es nicht. Es war vielleicht nur ein kleiner Augenblick, wie Jesaja 54,7-8 andeuten. Für Jesus war es schrecklich, obwohl er genau wusste, dass das nur vorübergehend war und Gott ihn gewiss aus dem Tod erwecken wird. Vielleicht waren es die Stunden zwischen Sterben und Auferstehen oder auch nur ein Teil davon.

Das aber ist für uns auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir wenigstens eine Ahnung bekommen, wie schrecklich echte Gottverlassenheit wäre. Wichtig ist, dass wir uns freuen, weil wir wissen, dass Jesus das für uns ertragen hat und wir es darum nicht mehr ertragen müssen. Wichtig ist, dass wir uns darum mit ganzem Herzen auf das Sterben unseres Herrn am Kreuz verlassen und unsere ganze Hoffnung auf ihn setzen.