ThemenGeschichte der Christen

H.F. Kohlbrügge und die Bedeutung der Bibel

Herrmann Kohlbrügge war zu seiner Zeit ein umstrittener Theologe und Pastor. Er hatte aber eine klare Haltung zur Bibel und hat seine Theologie konsequent aus der Bibel ableiten wollen. Das macht seine Gedanken bis heute wertvoll.

Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803-1875) war ein einflussreicher und umstrittener reformierter Erweckungsprediger des 19. Jahr­hunderts.1 In Amsterdam geboren und aufgewachsen wandte er sich in seiner Studienzeit vom damals herrschenden Rationalismus ab. Insbesondere widmete er sich in dieser Zeit dem Heidelberger Katechismus, der Philosophie, der Theolo­gie und den orientalischen Sprachen. Nachdem er eine Zeitlang unter dem Einfluss von Terstee­­gens Mystik stand, wandte er sich der Theologie Luthers zu. Luthers „Allein aus Glauben“ führte bei Kohlbrügge zu einer persönlichen Bekehrung. Er fühlte sich von Gott zum Prediger berufen und trat mit einem daraus resultierenden Sendungsbewusstsein auf, dass ihm viel Kritik eintrug.2

1. Kohlbrügges Leben als reformierter Erweckungsprediger

Nach dem Studium der Theologie wurde er 1826 Hilfsprediger in einer lutherisch geprägten Minderheitsgemeinde in Amsterdam. Seine Predigten stießen auf heftigen Widerspruch und Kohlbrügge verlor seine Anstellung. Sein anschließendes Weiterstudium in Utrecht schloss Kohlbrügge mit einer Promotion ab (1829)3 , obwohl die Prüfer seine Arbeit aufgrund ihrer Frömmigkeit erst als unwissenschaftlich ablehnten.4 Zunehmend orientierte sich Kohlbrügge an der niederländischen Erweckungsbewegung um den Juristen und Schriftsteller Willem Bilderdyk (1756-1830), Groen van Prinsterer (1801-1876) und den vom Judentum zum christlichen Glauben übergetretenen Dichter Isaac da Costa (1798-1860).5 Während eines Besuchs in Wupper­tal (1833) erfuhr Kohlbrügge eine geistliche Erweckung. In Predigten wandte er sich gegen den bei deutschen Theologen damals vorherrschenden Rationa­lismus, der an die Stelle der Offenbarung die menschliche Vernunft setzte, und den kirchlichen Liberalismus, der die Frömmigkeit des Menschen pries, statt reformatorisch seine Unzulänglichkeit zu benennen.

Seine Bewerbung auf eine Pfarrstelle in Wuppertal wurde abgelehnt. Kohlbrügge bekam stattdessen durch das Konsistorium in Koblenz sogar Redeverbot für die gesamte Rheinprovinz. Ab 1843 leitete Kohlbrügge erste Gottesdienste einer Gruppe um Daniel und Carl von der Heydt, die sich aus der reformierten Gemeinde Elberfeld losgelöst hatte. 1846 wurde er Mitglied der reformierten Gemeinde in Elberfeld. Es folgten zahlreiche Auseinandersetzungen mit dem Presbyterium der Gemeinde. Entgegen den Forderungen anderer Pfarrer konnte Kohl­brügge aufgrund eines Toleranzedikts des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. in Wuppertal bleiben und gründete eine freie „Niederländisch-reformierte Gemeinde“, deren Prediger Kohlbrügge wurde. Erste Gottesdienste fanden im Gasthof „Auf dem Wall“ statt, der einem Gemeindeglied gehörte (Obermayer). 1848 bezog die Gemeinde ihre neue Kirche in der Deweerth­straße in Elberfeld. Unter Kohlbrügges Leitung entstand ein neues Konzept der städtischen Armenpflege. Schon bald wurde Kohlbrügge zu einem gern gehörten Erweckungsprediger. Seine Predigten wurden auch als lose Blätter herausgegeben und fanden in ganz Deutschland und den Niederlanden Verbreitung.6) Ab 1856 predigte Kohl­brügge in verschie­denen niederländi­schen Kirchen und unternahm 1864 eine Predigtreise nach Böhmen und Mähren. Seine Verkündigung war stark von Luther geprägt, auf den er sich immer wieder berief.

„In einer Predigt über Röm 7,14 wies K. auf die Radikalität der Sünde des Menschen auch und gerade in seinem Bemühen um Heiligung hin und betonte, dass Gott Gottlose und nicht Heilige gerecht macht.“7

Kohlbrügge starb 1875. Seine Theologie wurde unter anderem durch seinen Schwiegersohn, den Theologieprofessor Eduard Böhl (1836–1903), durch Adolf Zahn (1834-1900) und Karl Barth (1886-1968) fortgeführt. Die bis heute existierende Reformierte Gemeinde (Katernbergerstr. 61) hatte in der Zeit des Nationalsozialismus enge Kontakte zur Bekennenden Kirche und hält die Erinnerung an Hermann Friedrich Kohlbrügge bis in die Gegenwart wach.

2. Kohlbrügge und die Bibel

Da Kohlbrügge keine eigene systematische Theologie verfasst hat, müssen seine Lehrüberzeugungen aus den zahlreichen Predigten abgeleitet werden, die er im Laufe der Jahre hielt.8 Kohlbrügge legte Wert darauf, in seiner Verkündigung nicht auf zeitgenössischen theologischen Entwürfen oder gängigen philosophischen Modellen aufzubauen. In allen seinen Predigten beruft sich Kohlbrügge immer wieder bewusst auf die Bibel als göttliche Autorität, die hinter seinen Ausführungen steht.9

3. Hilfe der Bibel im alltäglichen Leben

Auch ganz persönlich in den Höhen und Tiefen seines Lebens sah sich Kohlbrügge von dem Gott geführt und gekräftigt, der sich in der Bibel offenbart. Die von der Bibel ausgehende Hilfe und alltägliche Orientierung zeigen für Kohlbrügge, dass Gott und kein Mensch hinter dieser Offenbarung stehen muss.

„Kraft habe ich nicht, mich selbst zu belehren, Kraft fand ich nicht, Gottes Gebot zu bewahren, wie ich auch gewillt war und mein Bestes tat, – Kraft fand ich nicht, um mich zu Gott zu wenden … Kraft fand ich nicht, um eine einzige Sünde, eine lächerliche Sünde, schwach wie ein Spinngewebe, wie ein vermodernder Faden zu zerreißen, – Kraft fand ich nicht zum Widerstand gegen die Welt und ihre Schmach, – und gerade da, da ich so kraftlos war, habe ich es erlebt, dass der Herr seines Volkes Stärke ist. … Das habe ich erfahren von meiner Jugend auf: Ich bin durch alle Ratlosigkeit hindurchgekommen, aber nicht Menschen, sondern der Herr allein, der hat gehört, der hat geholfen, als ich am Rande des Abgrundes lag! Bleibt bei der Wahrheit, welche ich euch mitgeteilt habe, auf welcher ich lebe und sterbe, und wovon ich weiß, dass es das ist, was alle Jahrhunderte hindurch die besten Lehrer der Kirche, auch unsere teuren Reformatoren auf Grund des Wortes Gottes gelehrt haben. … Ich weiß, dass es Gottes Wort ist in reinem Gold und Silber; denn ich habe es nicht aus dem Ärmel geschüttelt, sondern aus tiefstem Leiden heraus habe ich es euch mitgeteilt …“10

Grundlage für das praktische Christenleben ist nach Kohlbrügge das unveränderliche Gesetz Gottes:

„Diese drei Stücke: Christus, unser Elend und das Ewigbleibende des Gesetzes sind das Augenmerk aller meiner Predigten. Wo diese drei Stücke nicht sind, da ist kein wahres Leben, sondern da besteht das Christentum aus einem Gedankensystem, welches lauter heimliche Schande und Schalkheit ist (2Kor 4,2).“11

4. Autorität und Authentizität der Bibel

Gott erfüllt alle seine Verheißungen durch sein Wort und seinen Geist. Das wird nach Kohlbrügge durch die Bibel und die Erfahrung bestätigt. Der Erfahrung wollte er allerdings nicht dieselbe Autorität zusprechen wie dem Wort Gottes. Es könne nämlich vorkommen, dass die Erfahrung in bestimmten Lebenssituationen fehlt oder falsche Gefühle weckt und trotzdem sei das Wort Gottes weiterhin glaubwürdig und wahr. Der Leser könne sich absolut sicher sein, dass in der Bibel Gott zu ihm spricht.

„Wenn es in der Schrift heißt: So spricht der Herr, so ist dieses Sprechen ein Sprechen in das Ohr des Herzens hinein vermittelt des geschriebenen Wortes. Was da auf dem Blatt des Buches steht, kommt durch den Heiligen Geist für den Heilsverlegenen vernehmbar in das Herz hinein, sodass die begnadete Seele spricht: Du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.“12

Für Kohlbrügge hat die Bibel mehr Autorität als das Wort des damals herrschenden Königs. Für ihn sind Aussagen der Bibel gleichzusetzten mit einer direkten, persönlichen Ansprache Gottes an den Leser. Im Anschluss an Ausführungen Kohlbrügges über das „ewige, unerschaffene Wort“ schreibt er:

„Fragt man nun, ob ich auch von dem Wort spreche, das wir Bibel nennen, so antworte ich: Wenn ich etwas von meinem König geschrieben oder gedruckt lese oder in seinem Namen direkt aus seinem Herzen heraus höre und vernehme, so sage ich: Da haben wir unseren König, da, da! Und dabei sollen wir es bewenden lassen …“13

Immer wieder hebt Kohlbrügge das Pri­vileg der Christen hervor, in einem zuverlässigen und absolut glaubwürdigen Wort Gottes lesen zu können.

„Welch eine Fürsorge und Barmherzigkeit Gottes ist es, dass wir dies Wort auf dem Papier lesen können und sodann erfahren mögen, wo wir uns dran halten, was es ist, tut und gibt. Aber des Herzens Härte, Dünkel und Unverstand weiß das nicht zu schätzen. Hat aber einer ein Staatspapier, einen Wechsel oder einen großen Kassenschein oder ein Testament, worin ihm eine Erbschaft vermacht ist, in der Hand, so weiß er sich fein zu verlassen auf das, was auf dem Papier geschrieben steht.“14

Der Christ könne den Aussagen der Bibel mindestens ebenso sehr vertrauen wie den Angaben in einem beurkundeten Testament.

5. Die Bibel als inspirierte Offenbarung Gottes

Kohlbrügge hielt es für eine Gnade Gottes, dass er seine Worte in einem Buch hat aufschreiben und sorgfältig überliefern lassen. Jesus Christus selbst rede in der Bibel zum Glaubenden. Wirklich verstehen könne aber nur derjenige die Bibel, dem Gott sie durch den Heiligen Geist aufschließt. Dabei wolle Gott durch sein Wort nicht nur zuverlässige Informationen weitergeben, sondern Veränderung im Leben und Denken des Lesers bewirken.

„Wir hören Gott reden in dieser Bibel, reden durch das uner­schaf­fene Wort, seinen Sohn Jesus Christus, reden zu uns, die wir von uns aus Lügner sind, … Gott redet vom Bibelblatt zu uns, entweder unmittelbar, indem er durch seinen Geist das, was er hat schreiben lassen, in unsere Herzen einprägt, sodass wir es alsbald glauben, oder mittelbar, indem er den Trost und die Lehre, die er durch seine Apostel und Propheten gibt, in unsere Herzen als einen Trost und seine Lehre allmählich gründen und befestigen lässt.“15

Unzweifelhaft steht für Kohlbrügge fest, dass die ganze Bibel von Gott durch den Heiligen Geist eingegeben (inspiriert) ist und deshalb als absolut glaubwürdig und irrtumslos angesehen werden muss.

„Der Heilige Geist, Geist aller Wahrheit und Gerechtigkeit, hat die Apostel notwendig immer solche Worte schreiben lassen, welche am rechten Platz waren, so dass … damit ausgesprochen wurde, was dieser Geist zum Trost der Gemeinde gesagt wissen wollte.“16

Keinesfalls dürften die biblischen Schriften lediglich als menschliche Überlegungen und Meinungen betrachtet werden, meint Kohlbrügge:

„Der Heilige Geist hat schon vor unserer Geburt dafür gesorgt, dass das Buch da war, dessen Worte er selbst den Schreibern eingegeben [hatte], Worte, durch welche er so zu uns spricht, wie es kein Mensch vermag.“17

Kohlbrügge legt allerdings Wert darauf, dass Gott in dem Prozess der Inspiration die Persönlichkeit seiner menschlichen Schreiber nicht außer Kraft setzte.

„Gott hat sich zwar sterblicher Menschen bedient, um zur rechten Zeit und Unzeit seine Worte niederzuschreiben. Aber es waren Menschen von ihm gesandt … Diese haben die Worte geredet und niedergeschrieben, … die Sachen, welche der Herr zu ihnen geredet hat, ihnen geoffenbart und welche der Heilige Geist für die geeignetsten gehalten [hat, um] zu strafen, zu lehren und zu trösten.“18

In einer Predigt über Psalm 18 konkretisiert Kohlbrügge seine Sicht vom Prozess der Abfassung biblischer Schriften:

„Von Christus war David erfüllt, nicht etwa in den Gedanken, in den Überlegungen des Verstandes, sondern Christus war im Geist wahrhaftig in ihm. Wer redete demnach die Worte dieses Liedes? David? … wenn ein Menschenkind an und für sich solche Worte reden könnte, dann fände man solche Lieder auch bei den Dichtern dieser Welt. Weil Christus diese Worte geredet [hat], sind und bleiben es lebendige Worte, … David ist dabei nicht ein bloßes Werkzeug gewesen, wie etwa ein lebloses Ding, eine Pfeife oder Harfe, sondern Christus hat David seinen Geist erteilt …“19

6. Die Bibel ist wahr, weil sie sich im Leben bewährt

Insbesondere die Anwendbarkeit und alltägliche Selbstbestätigung biblischer Aussagen waren für Kohlbrügge ein starker Hinweis auf deren göttliche Herkunft.

„Die Wirkung des im Wort [der Bibel] zu uns redenden Heiligen Geistes, das Sich-sodann-bewahrheiten dieses Wor­tes in allen Fällen des Lebens ist ein unumstößlicher Beweis für des Wortes Göttlichkeit; ja, es kann ein Mensch mit aller Gewissheit wissen, dass Gott zu ihm vom Bibelblatt redet.“20

Nicht abstrakte theologische Definitionen und Begründungen können nach Kohl­brügge die Zuverlässigkeit und Göttlichkeit der Bibel belegen, sondern vielmehr die Wirkung, die vom Wort Gottes ausgeht.

„Denn wo das Wort kommt, alsbald macht es die Dinge ganz anders, als sie früher waren. Da ist mit einem Mal eine neue Schöpfung, ein neuer Bund, ein neuer Mensch. Denn da kommt Christus und bringt mit seinem Leben, seinen Geist, seine Gnade, seinen Frieden, wahre Freude, ewigen Ablass von allen Sünden, wahrhaftige Erlösung von dem Teufel und dem Tod. Da kommen alle alten Dinge nicht mehr in Betracht. Es ist ein ganz neuer Zustand in den man übergegangen ist.“21

7. Gott spricht auch durch die deutsche Bibel

Obwohl Kohlbrügge der wissenschaft­lichen Erforschung der Bibel offen gegenüberstand, ist sie für ihn nicht der entscheidende Schlüssel zu ihrem Verständnis. Nicht zuerst die Kenntnis der alten Sprachen und das Abwägen verschiedener Lesarten lassen die Bibel als Wort Gottes verstehen, sondern der Heilige Geist, der sie jedem suchenden Leser öffnet. Gott benutzt demnach auch die deutsche Übersetzung seines Wortes, um sich den Menschen zuverlässig und glaubwürdig zu offenbaren.

Der Heilige Geist kümmert sich auch nicht viel um allerlei vorgegebene Lesarten

„Der Heilige Geist in uns zeugt, dass der Geist, der in der Schrift [spricht] … und den Glauben wirkt, die Wahrheit ist. So wird der Mensch gewisslich wissen, dass die Bibel Gottes Wort ist, und seien nun das Hebräische oder das Chaldäische des Alten oder das Griechische des Neuen Testaments die allein authentischen Sprachen, so wird er sich dadurch nicht anfechten las­sen. Er lässt den Gelehrten ihr Hebräisch und Griechisch … Er kümmert sich auch nicht viel um allerlei vorgegebene Lesarten in den verschiedenen Abschriften der Bibel, als sie noch nicht gedruckt war. Der wahre Gläubige ist von Gott gelehrt, und der gnädige Gott hat dafür gesorgt, dass er mit den Deutschen deutsch reden kann, und dazu weder die lateinische noch die hebräische noch die griechische Sprache braucht, es sei denn zur Gründung und Festigung der Lehre zur gegebenen Zeit.“22

Obwohl Kohlbrügge selbst die alten Sprachen erlernte und für seine theologische Arbeit berücksichtigte, war es ihm doch wichtig hervorzuheben, dass nicht die Ergebnisse der Wissenschaft, sondern das Zeugnis des Heiligen Geistes letztlich die Wahrheit der Bibel belegt. Inspiration könne nicht objektiv bewiesen werden, sondern sei eine Angelegenheit des Glaubens, allerdings nicht eines Glaubens als Form des Hoffens oder Vermutens, sondern eines Glaubens, den der Heilige Geist durch die Bibel bewirke. Man könne das Wort Gottes auch nicht hinter dem Buchstaben der Bibel finden, so Kohlbrügge. Solche Versuche führten lediglich zu Willkür und Spekulation. Gott bewirke den Glauben durch das geschriebene und das gepredigte Wort, das den Menschen träfe, der dadurch seine eigene Wirklichkeit und die Wirklichkeit Gottes erkenne, ebenso seine Sünde und die Heiligkeit Gottes.

8. Die Bibel redet individuell – auch ohne großes Vorwissen

Die Absicht Gottes, sein Verhältnis zum Menschen und den Weg zur Befreiung aus Schuld und Sünde aufzuzeigen, wird in der Bibel überdeutlich. Auch diese Einheitlichkeit und Stimmigkeit der Heiligen Schrift ist für Kohlbrügge ein deutlicher Hinweis auf ihre göttliche Herkunft.

„Ein jedes Wort, eine jede Phrase drückt auf das Bestimmteste und Kräftigste aus, was das Wort sagen will. Alles ist da im Zusammenhang, alles Einklang, die vollendeteste Harmonie. Jedes Wort und jedes Bild drückt die Sache aus, wie sie ist. … Es ist alles wahr, und alles Gesagte königlich, der Majestät des Allerhöchsten würdig. Die Worte der Heiligen Schrift haben nur einen Sinn, sie sind nach dem Buchstaben zu nehmen, wie: Es werde Licht – und es ward Licht, oder bildlich nach dem Bild, das in dem Buchstaben enthalten ist, wie: Mache dich auf, und werde Licht. Die Heilige Schrift ist insofern deutlich und verständlich, als Gott darin zu Menschen redet und er nach seiner Weisheit so zu den Menschen redet, dass sie ihn verstehen können. Ein Kind von zweieinhalb Jahren … kann so viel von Gottes Wort verstehen, als ihm nottut, um selig zu werden. Und so ist die Schrift auch verständlich genug für Erwachsene, dass sie Gottes Willen erkennen … Wiederum stehen ja hohe Dinge darin, die schwer zu verstehen sind, und diese Dinge sind hoch wegen ihrer Einfachheit.“23

Weil Gott die Bibel für verschiedene Menschen in verschiedenen Lebens­situ­ationen gebraucht, kann sie nicht nur neutral, wissenschaftlich begriffen werden. Das Besondere ihres Charakters liegt gerade darin, dass sie Leben verändert und dass sie von Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Bildung verstanden werden kann.

9. Gut begründete Fehlinterpretationen der Bibel

Missverständnisse und Fehlinterpre­tationen in der Auslegung der Bibel gehen laut Kohlbrügge auf die falsche Motivation und Lebensführung des Lesenden zurück.

„So wird auch ein Heuchler die Schrift lesen und oft mehr wissen und verstehen als der Einfältige und Aufrichtige, aber er macht die Anwendung nicht auf sich selbst gegen seine Schoßsünden und so gereicht ihm seine Kunst zum Verderben. Und die da lieber grübeln als nach dem Wort tun, machen aus der Schrift alles, was sie wollen, um ihre Träume damit sich zurecht zu legen; und wie sie verdreht sind, so verdrehen sie die Schrift und bleiben verdreht. Und die gerne in der Welt und in der Sünde sitzen bleiben, heben aus der Schrift allerlei hervor, was die Propheten und Apostel nicht so gemeint, um ihrem Gewissen Schweigen aufzuerlegen.“24

Scheinbare Widersprüche und Unstim­mig­keiten gehen nach Kohlbrügge wesentlich häufiger auf den mangelnden Willen des Auslegers zurück, sich dem Wort Gottes zu unterstellen, als auf wirkliche Schwierigkeiten in der Schrift.

„Die bekla­gens­werte Gewohn­heit, die uns eigen ist, unsere Begriffe und Gefühle beim Lesen der Schrift in die Schrift hineinzutragen, machen, dass wir das Wort Gottes … deuten nach dem engen Gesichtskreis, in welchem wir uns mit unserer Kurzsichtigkeit befinden.“25

Der Leser der Bibel steht nach Kohlbrügge in der beständigen Gefahr, sein Weltbild und die gängigen Überzeugungen seiner Zeit als absoluten Maßstab zu verstehen, nach dem auch die Aussagen der Bibel zu beurteilen und ausgelegt werden müssten. Das jedoch sei ein fataler Irrtum, weil doch Gott mit seinen Aussagen weit über der Erkenntnis und dem Forschungsstand jeder menschlichen Epoche stehe.

Gegen die theologischen Schwärmer der Vergangenheit argumentiert Kohl­brügge, die Bibel sei nicht nur toter Buchstabe, der gegen die direkte Führung durch den Heiligen Geist ausgespielt werde. Für ihn ist die Bibel „lebendig und kräftig“. Der Mensch hingegen in seiner vermeintlichen Einsicht sei geistlich tot und spiele sich doch als Meister der Schrift auf. Oft verwechselten die sich auf den Geist berufenden Christen allerdings den Buchstaben des Gesetzes oder die eigenen Wünsche und Gefühle mit dem Wort Gottes. Zu Recht lehnten sie einen „Traditionalismus“ oder eine „veräußerlichte Gesetzlichkeit“ ab. Mit dem echten Wort Gottes habe das aber nur wenig zu tun. Vorgebliche Führungen durch den Heiligen Geist müssten immer anhand des autoritativen Wortes Gottes, der Bibel, überprüft werden.

10. Die Bibel durch die Bibel auslegen

Kohlbrügge hebt hervor, dass die Schrift selbst als ihr bester Ausleger zu betrachten sei.

„Schrift will durch Schrift erklärt sein; und man mag einzelne Stellen aus der Schrift hervorheben, um darauf gewisse Lehrbegriffe zu bauen.“

Man wird jedoch nie

„ein gutes Gewissen haben vor Gott durch die Auferstehung Jesu Christi aus den Toten, man wird zu seinem Schaden zu guter Letzt erfahren, dass man etwas anderes gesucht [hat] als den lebendigen Gott und seine Gerechtigkeit, wenn man die Schrift nicht verstehen lernt und versteht aus dem Heiligen Geist.“26

Die bloße theologische Diskussion und Systematisierung fördere zwar das Wissen und Ansehen der Betreffenden. In Wirk­lichkeit aber wolle Gott durch sein Wort ins Leben hinein sprechen, Schuld vergeben und Leben verändern. Gerade darin erweise sich ihre göttliche Herkunft.

Das Leben des Christen beruht nicht auf einer mystischen Geistesleitung, sondern auf einer Verankerung im Wort Gottes

Gerech­tig­keit, Friede und Freude im Heiligen Geist ist nur für den zu erfahren, der in allem bleibt, was Gott in seiner Schrift sagt, hebt Kohlbrügge hervor. Das Leben des Christen beruht nicht auf einer mystischen Geistesleitung, sondern auf einer Verankerung im Wort Gottes.

„Auf den Unterricht, auf die Lehre, auf das Wort legt alles, was übergeistlich ist, wenig Wert. Es bewegt sich in Scheindemut, in dem Zauberkreis seiner selbsterwählten Geistlichkeit, schreit: Geist, Geist! Und bedient sich nur des Wortes, wie sich der Teufel desselben bedient und stets bedient hat, sodass ihr Geist und geistliches Wesen die erste Macht bilden soll. Dagegen hat das Wort oder die Lehre bei ihnen eine untergeordnete Macht, das [heißt] eigentlich gar keine Macht.“27

Wer sich auf Offenbarungen und Wirkun­gen des Heiligen Geistes beruft, darf sich nach Kohlbrügge niemals gegen oder über die Bibel stellen, sondern immer nur darunter.

Durch die Bibel bewirke Gott Verge­bung der Schuld, eine Wiederverbindung des Menschen zu Gott, Trost im Leid, Stärke in Anfechtung usw.28

„Nur das Wort bleibt ewiglich, und derjenige mit dem Wort, der sich dem Wort unterwirft und in dem Wort bleibt, um alles von dem Wort zu erwarten.“29

Kohlbrügge proklamiert: Das Wort Gottes ist so „herrlich und gewiss, dass es über alles geht, auch über meinen Glauben: Vergebung der Sünde hängt nicht ab von meinem Glauben, sondern vom Wort.“30


  1. Vgl. Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, Stutt­gart, UTB 2006, S.195f 

  2. Vgl. Zur Erinnerung an H. F. Kohlbrügge, Elberfeld 1875, S. 16f 

  3. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Specimen philologico-theologicum inaugurale exhi­bens in Psalmum Quadragesimum Quintum, Diss. Utrecht 1829 

  4. Vgl. Hermann Klugkist Hesse: Hermann Friedrich Kohlbrügge, Wuppertal 1935, S. 56ff (http://www.licht-und-recht.de/kohlbruegge/Hesse__H_F_Kohlbruegge.pdf)  

  5. Vgl. Michiel Kagchelland / Raf Vander­strae­ten: Die Anfänge der protestantischen Erweckung in den Niederlanden: Religionspädagogische Deutungen der Hochwasserkatastrophe von 1825, in: Zeitschrift für Pädagogik 49 (2003) 5, S. 695-717 

  6. Vgl. Hermann Klugkist Hesse: Hermann Friedrich Kohlbrügge, Wuppertal 1935, S. 203 ff (http://www.licht-und-recht.de/kohlbruegge/Hesse__H_F_Kohlbruegge.pdf 

  7. Frank Reiniger: Kohlbrügge, Her­mann Friedrich, in: Biographisch-Biblio­graphi­sches Kirchenlexikon (BBKL), Band 4, Herzberg 1992, Sp. 300–305 

  8. Zahlreiche Predigten Hermann Friedrich Kohlbrügges sind aufbereitet im Internet einsehbar unter: http://www.licht-und-recht.de/ 

  9. Vgl. Theodor Stiasny: Die Theologie Kohlbrügges, Düsseldorf, Elfried W. Bron­ger Reformierter Verlag 1935, S. 103-108 

  10. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Das Wort ward Fleisch. Betrachtung über das 1. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus, 1844 / Central Verlagshaus der Reformierten Kirche 1903, S. XV 

  11. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Das Wort ward Fleisch. Betrachtung über das 1. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus, 1844 / Central Verlagshaus der Reformierten Kirche 1903, , S. XVI 

  12. Hermann Friedrich Kohlbrügge: 6 Predig­ten, gehalten vor der Eröffnung der Kriegs­läufte im Jahre 1870, Elberfeld, W. Lange­wiessche 1870, S. 53 

  13. Hermann Friedrich Kohlbrügge: 20 Pre­dig­­ten. Im Jahr 1846 gehalten, Halle, Buch­handlung des Waisenhauses 1857, 19253, S. 141 

  14. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Schrift­auslegungen Bd.15, Elberfeld, Verlag der Niederländisch-Reformierten Gemeinde, H.W. Kaufmann, 1922, S.52 

  15. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Schrift­ausle­gungen Bd.19, Elberfeld, Verlag der Niederländisch-Reformierten Gemeine; Geschwister Schroer 1919, S. 361 

  16. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Licht und Recht. Predigten von H.F. Kohlbrügge, Elber­feld, H. W. Kaufmann 1887, Heft 1, S. 24 

  17. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Festpre­digten, 1876, Verlag der Niederländisch-reformierte Gemeinde; Stuttgart, Steinkopf 1935, S. 367 

  18. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Schrift­aus­legungen Bd.19, Elberfeld, Verlag der Niederländisch-Reformierten Gemeine; Ge­­schwister Schroer 1919, S. 363 / Licht und Recht. Predigten von H.F. Kohlbrügge, Elberfeld, H. W. Kaufmann 1894, Heft 7, S.23 

  19. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Licht und Recht. Predigten von H.F. Kohlbrügge, Heft 3, Elberfeld, H. W. Kaufmann 1890, S. 81 

  20. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Schrift­auslegungen Bd.19, Elberfeld, Verlag der Niederländisch-Reformierten Gemeine; Geschwister Schroer 1919, S. 364 

  21. Hermann Friedrich Kohlbrügge: 20 Pre­digten. Im Jahr 1846 gehalten, Halle, Buchhandlung des Waisenhauses 1857, 19253, S. 261 

  22. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Schrift­auslegungen Bd.19, Elberfeld, Verlag der Niederländisch-Reformierten Gemeine; Geschwister Schroer 1919, S. 366 

  23. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Schrift­auslegungen Bd.19, Elberfeld, Verlag der Niederländisch-Reformierten Gemeine; Geschwister Schroer 1919, S. 372 

  24. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Schrift­auslegungen Bd.19, Elberfeld, Verlag der Niederländisch-Reformierten Gemeine; Geschwister Schroer 1919, S. 372 

  25. Hermann Friedrich Kohlbrügge: 20 Pre­digten. Im Jahr 1846 gehalten, Halle, Buchhandlung des Waisenhauses 1857, 19253, S. 182 

  26. Hermann Friedrich Kohlbrügge: 20 Pre­digten. Im Jahr 1846 gehalten, Halle, Buchhandlung des Waisenhauses 1857, 19253, S. 164 

  27. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Licht und Recht. Predigten von H.F. Kohlbrügge, Elberfeld, H. W. Kaufmann 1894, Heft 7, S.23 

  28. Vgl. Theodor Stiasny: Die Theologie Kohl­brügges, Düsseldorf, Elfried W.Bronger Reformierter Verlag 1935, S. 108 

  29. Hermann Friedrich Kohlbrügge: 20 Pre­digten. Im Jahr 1846 gehalten, Halle, Buchhandlung des Waisenhauses 1857, 19253, S. 123 

  30. Hermann Friedrich Kohlbrügge: Festpre­digten, 1876, Verlag der Niederländisch-reformierte Gemeinde; Stuttgart, Steinkopf 1935, S. 82