Der Aspekt der Inspirationslehre, der im Folgenden beleuchtet werden soll, provoziert nicht selten die Erwiderung, dass man doch nicht glauben solle, Gott habe die Autoren der Bibel zu Schreibmedien werden lassen. Dann aber wird das Wirken des Heiligen Geistes am Menschen derart ausgeklammert, dass viel eher das theologische Genie oder die dichterische Kraft des Menschen im Focus steht.
Gott und Mensch in Konkurrenz?
Über den berechtigten Einspruch hinaus kann jedoch Einiges mehr zum Wirken des Heiligen Geistes an den Autoren der Bibel gesagt werden. Auch muss unterstrichen werden, dass in der Geschichte der christlichen Kirche kaum irgendwo eine mechanistische Diktattheorie vertreten wurde. Dass aber die Furcht vor falschen Verdächtigungen zum völligen Schweigen über das Zueinander des Wirkens des Heiligen Geistes und den menschlichen Verfassern der Heiligen Schrift führt, ist meines Erachtens übertriebene Vorsicht.
Wenn Inspiration der Bibel bedeutet, dass Gott selbst ihr eigentlicher Autor ist, dann scheint das auf den ersten Blick in Konkurrenz dazu zu stehen, dass sich in den Büchern der Bibel doch offenbar ausdrücklich menschliche Verfasser zu Wort melden. Die Briefe von Paulus sind deutlich als solche gekennzeichnet, als Mitautor ist gelegentlich Timotheus (2Kor 1,1; Phil 1,1; Kol 1,1; 1Thess 1,1; 2Thess 1,1; Phil 1,1) oder auch Silvanus genannt (1Thess 1,1; 2Thess 1,1). Hier waren Menschen am Werk. Aber auch andere Bücher verschweigen ihre Autoren und deren aktive Arbeit nicht. Lukas etwa recherchiert für sein Evangelium und die Apostelgeschichte verschiedene Überlieferungen, wie sie in Kreisen der ersten Christen bekannt waren (Lk 1,1-4). Die alttestamentlichen Propheten geben meist Botschaft Gottes wieder, aber auch hier verschwindet die Person des Propheten keineswegs, sondern sein Ergehen ist mit persönlicher Klage Teil der Botschaft Gottes an sein Volk (z.B Jeremia 18,18ff). Und auch wenn man auf die Ebene von Stil und Sprache geht, die in der Bibel selbst kaum thematisiert wird (vielleicht 2Pet 3,15-16), dann kann man feststellen, dass Wortwahl, Sprachstil, der Einsatz von Sprachfiguren und anderes sich von Autor zu Autor unterscheiden. Umgekehrt kann man bei Schriften des gleichen Autors (z.B. bei Johannes) bestimmte Elemente wiedererkennen.
Inspiration nur eingeschränkt?
Wer eine Inspirationslehre nur auf logischem Weg erarbeiten will und nicht die Bibel selber dabei Maßstab sein lässt, kann nur zu einem eingeschränkten Inspirationsverständnis gelangen.
Kann man angesichts dieses Befundes überhaupt von einer Inspiration der Bibel sprechen? Könnte man nicht höchstens davon sprechen, dass die Autoren von Gottes Geist inspiriert (Personalinspiration) waren und dann in ihrer jeweiligen Individualität ihre Bücher oder Briefe schrieben? Müsste man nicht, wenn Gott der Autor der Heiligen Schrift wäre, auch seinen Stil und seine Sprache durchgängig vorfinden?
Wenn es aber so ist, dass Gott gewissermaßen nur die Themen und Inhalte inspiriert hat (Realinspiration), die Autoren diese dann aber frei in Worte fassten und dabei mal „bäuerisch” und mal gelehrt schrieben, sollte man dann nicht auch die Inhalte wieder von der Form trennen, weil ja nur diese von Gott stammen?
Man könnte angesichts dieser Wahrnehmungen allerlei Überlegungen anstellen und etwa davon sprechen, dass es zwei Kräfte gegeben habe, die die Bibel hervorbrachten: der natürliche Impuls der Individualität der Autoren und der wunderhafte Impuls Gottes, der die göttlichen Inhalte betrifft. Dann wäre es naheliegend zu sagen, dass die Autoren nicht in allem, was sie schrieben, auf die Leitung durch Gottes Geist angewiesen waren. Wozu sollte Gott ein Wunder tun, wenn es nur darum geht, allgemeines Alltagswissen zu Geografie oder Geschichte aufzuschreiben? Die Kraft seines Geistes müsste dann nur tätig werden, wenn es um die eigentlich göttlichen Inhalte geht, insbesondere solche, die die Autoren nicht mit ihrem eigenen Geist erfassen konnten. Das würde dann alles umfassen, was für die ewige Rettung durch Jesus Christus wichtig ist. Und ist nicht die Erlösungslehre das eigentliche Thema der Bibel und nicht etwa irgendwelche Details zur Naturkunde oder zu Einzelheiten historischer Abläufe? Daraus folgte dann auch, dass Gedächtnisfehler oder Irrtümer in bestimmten Aussagefeldern die göttliche Inspiration gar nicht beträfen, sondern nur die menschliche Individualität der Autoren.
Wenn die vollständige Inspiration der Bibel nicht als vorgegebene Tatsache akzeptiert wird, wie sie in der Bibel selber in ihren Auswirkungen und Ergebnissen deutlich wird, sondern man eine Inspirationsvorstellung auf logischem Weg aufbauen möchte, dann sind die ausgeführten Gedankengänge durchaus plausibel.
Statt einer Form der Verbalinspiration, nach der die Bibel in Inhalten, Form und Wörtern so von Gott gewollt ist, ergäbe sich eine Form der Personal- oder Realinspiration, nach der entweder nur die Autoren und nur bestimmte Inhalte als von Gott eingegeben gelten. Diese Form des Inspirationsverständnisses findet man eher bei konservativen Theologen, auch in der evangelikalen Bewegung.
In der neueren Theologie wird in der Regel eher eine Inspirationslehre vertreten, die nur noch indirekt mit der Bibel und ihrer Qualität zu tun hat. Wort Gottes ist dort nur, was im Leser oder Hörer als solches ankommt bzw. sich als „Wort-Gottes-Erfahrung“ jeweils ereignet. Die Inspiration wird allein in der Wirkung beim Leser oder Hörer gesucht, die man allerdings weniger in der Qualität der Bibel und ihrer Botschaft als in der Qualität oder Gestimmtheit des Empfängers der Botschaft sieht. Letztlich müsste aber auch diese Ansicht erklären, warum der biblische Text irgendeinen Vorzug vor anderen Texten oder religiösen Äußerungen haben sollte. Und selbst wenn die Antwort lautete, dass Gott jeweils aktuell und individuell gerade diese Texte für sein Reden erwählt, bräuchte es dafür einen Grund, zumal wenn Theologen zugleich die historische und sachliche Zuverlässigkeit der Texte auf die Ebene von Legenden stellen.
Zuerst war die offenbarte Wahrheit da, die sich ergebenden Schwierigkeiten ändern nicht die Tatsachen, wohl aber beeinflussen sie die Ausformung der Lehre.
Ich sehe angesichts der Aussagen der Bibel keine Alternative zu einer Inspirationslehre, die sich an diesen Aussagen ausrichtet und damit ein Inspirationsverständnis vertritt, das man auch bei Jesus und den Aposteln beobachten kann. Als Folge davon wird man zur Auffassung von der Inspiration der ganzen Bibel im wörtlichen Bestand der Urschriften geleitet. Daraus ergibt sich dann die Aufgabe, mit den Schwierigkeiten umzugehen, die diese Lehre mit sich bringt. Aber das hat bekannte Parallelen im gesamten Lehrbestand, etwa im Hinblick auf die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes oder der Zweinaturen-Lehre von Jesus Christus. Zuerst war die offenbarte Wahrheit da, die sich ergebenden Schwierigkeiten ändern nicht die Tatsachen, wohl aber beeinflussen sie die Ausformung der Lehre.
Die Frage ist also, welche Konsequenzen sich für eine Inspirationslehre daraus ergeben, dass zwischen Gottes Autorenschaft und menschlicher Verfasserschaft bei der Inspiration offenbar keine Konkurrenz bestand, sondern beide eine untrennbare Wahrheit beschreiben. Über das genaue Zueinander und Miteinander von menschlichem Geist und Heiligem Geist können wir allerdings nur mutmaßen, weil die Bibel darüber keine klaren Aussagen macht. Das gehört zum verborgenen Teil des Geheimnisses der Inspiration. Es ergeben sich aus diesem Miteinander aber Konsequenzen und die können als Eckpunkte benannt werden.
1. Gott kann Menschen zu seinen Propheten machen, die dann genau sagen, was er will, ohne dabei ihre Persönlichkeit und Individualität auszuschalten.
Ein lehrreiches Beispiel dafür dürfte die Prophetie von Kaiphas sein, in der dieser im Blick auf Jesus aussagt, dass es besser wäre, ein Mensch stirbt für das Volk, als dass das ganze Volk stirbt (Johannes 11,49-52). Kommentierend heißt es dann (Joh 11,51): „Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in dem Jahr Hohepriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk”. Kaiphas kann als Hohepriester Prophet sein, wobei er nichts gegen seinen Willen oder seine Absicht sagt. Er ist ein Feind von Jesus und will seinen Tod. Aber ohne die Reichweite seiner Aussage selbst zu übersehen, redet er zuverlässig prophetisch über die Bedeutung des Todes des Gottessohns.
Wenn ein Mensch sogar in Feindschaft zu Gott ohne Ausschaltung seines Willens prophetische und damit von Gottes Geist hervorgebrachte Aussagen machen kann, wie viel mehr ist das dann bei Menschen möglich, die sich als Werkzeuge Gottes sehen. Dabei ist ein auffällig wiederholtes Motiv der Prophetenschaft, dass der Prophet sich nicht freiwillig meldet und seine Berufung durch Gott oft nur zögernd annimmt. Eine gewisse Art von Zwang Gottes gehört offenbar zum Prophetendasein. Paulus etwa rühmt sich seiner Berufung zum Apostel (Röm 11,13) und sagt doch zugleich: „Denn wenn ich das Evangelium verkündige, so habe ich keinen Ruhm, denn ein Zwang liegt auf mir. Denn wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte!” (1Kor 9,18 ELB). Dabei aber wird der Prophet nie willenlos, bewusstlos oder seiner persönlichen Freiheit beraubt. Das Zueinander von Wille und Unwille bei den Dienern Gottes hebt Gottes Wirken bei der Inspiration ganz besonders hervor.
2. Gott äußert sich offenbar nicht in einem „eigenen” Stil, sondern gebraucht den individuellen Stil der von ihm erwählten Verfasser.
Gott hat den Stil von Mose, Hesekiel, Johannes oder Paulus für sein Wort in Dienst genommen.
Es gibt in der Bibel keinen einheitlichen „göttlichen” Sprachstil mit speziellem Vokabular, grammatischen Konstruktionen oder eigenen Sprachformen, wie es etwa im Islam von der Sprache des Koran behauptet wird. Man kann also keinen Unterschied zwischen direkter Rede Gottes mit einem eigenen göttlichen Sprachstil und kommentierenden oder ergänzenden Beiträgen menschlicher Verfasser herausarbeiten. Das würde auch keinen Sinn machen, weil die ganze Heilige Schrift als Gottes Wort angesehen wird. Bei alttestamentlichen Zitaten im Neuen Testament kommt es gelegentlich auf einzelne Wörter oder grammatische Feinheiten an, aber nie in dem Sinn, dass es um einen erkennbar göttlichen Stil ginge. Jesus legt Wert darauf, dass Gott gesagt hat: „Ich bin der Gott Abrahams” und nicht „Ich war der Gott Abrahams” (Mt 22,32). Für Paulus ist der Singular in 1Mo 22,18 wichtig (Gal 3,16). Entscheidend ist immer der wörtliche Sinn des Ausgesagten. Obwohl es einerseits auf jedes Wort ankommt, zeigt der Vergleich der Jesusreden bei den Synoptikern und Johannes, dass selbst diese keinen einheitlichen Sprachstil haben.
Gott hat bei der Inspiration seines Wortes die Geschichte, das Wesen, die Prägung, das Denken und die Sprache der menschlichen Verfasser so gebraucht, dass er damit zu seinem Ziel kam.
In dieser Hinsicht könnten wir formulieren, dass Gott den Stil von Mose, Hesekiel, Johannes oder Paulus für sein Wort in Dienst genommen hat. Würde das ein moderner Autor tun und ein Buch schreiben und dabei den Stil Goethes oder Brechts benutzen, dann wäre sein Werk nicht weniger sein Werk. Der Vergleich greift aber natürlich zu kurz, weil nicht nur ihr Stil, sondern die menschlichen Autoren ganz von Gott in Dienst genommen wurden. Dabei hatte Gott offenbar nicht nur die Inspiration eines einzelnen Buchs im Blick, sondern wollte die Heiligen Schriften als „Heilige Schrift”, als ein Buch also, das als Ganzes und in allen seinen Teilen seinem Willen entspricht. Gerade das Zueinander der verschiedenen Menschen mit ihren verschiedenen Stilen, den Literaturgattungen, die sie wählten, den Sprachbildern und Vokabeln, der Auswahl von Quellen und ihrer redaktionellen Überarbeitung bildet das Ganze, das Gott zu seinem offenbarten Wort für diese Welt gemacht hat.
3. Nach dem Zeugnis der Bibel gehört es zum normalen Handeln Gottes, dass er dabei Ursachen seiner Schöpfung genauso in Dienst nimmt, wie einzelne Menschen mit ihrem Leben und Wesen.
Im Gebet der ersten Gemeinde heißt es (Apg 4,27-28):
„Wahrhaftig, sie haben sich versammelt in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hatten, dass es geschehen solle”.
Ohne dass die beteiligten Personen willenlose Marionetten in Gottes Hand sind, tun sie doch nur, was Gottes Ratschluss lange vorher bestimmt hat. Insofern können wir davon ausgehen, dass Gott bei der Inspiration seines Wortes die ganze Geschichte, das Wesen, die Prägung, das Denken und die Sprache der menschlichen Verfasser so gebraucht hat, dass er damit zu seinem Ziel kam: den Glaubenden sollen seine Offenbarung, sein Ratschluss, sein Reden in einer Heiligen Schrift vorliegen, die wörtlich genau seine Absichten und Mitteilungen transportiert. Das Zitat aus der Apostelgeschichte verdeutlicht, dass die Menschen dazu keine sündlosen Wesen werden mussten, sondern Gott fehlbare Menschen in seinen Dienst nehmen konnte. Und weil Gott als Urheber der Heiligen Schrift gesehen werden will, darum sorgt er für ihre völlige Zuverlässigkeit und Unfehlbarkeit.
4. Für die Inspiration der Bibel ist der Beitrag der menschlichen Verfasser weder positiv noch negativ entscheidend.
Als Jesus den Blinden in Jerusalem heilt (Joh 9), da macht er einen Brei aus Speichel und Erde und streicht ihm den auf die Augen. Anschließend sollte er sich am Teich Siloah waschen. Hat den Blinden nun die „medizinische” Wirkung dieser „Heilerde” von seiner Blindheit befreit? Oder war es doch das besondere Wasser des Siloahteichs? Obwohl die Umstände mehrfach wiederholend erzählt werden (6,11,14,15), steht außer Zweifel: Geheilt hat Jesus den Blinden. Und als Petrus und Johannes den Lahmen an der Schönen Pforte heilen, da ist völlig klar, dass er von dem auferstandenen Jesus geheilt wurde (Apg 4,9-10). Das Neue Testament verschweigt nirgendwo den irdischen oder menschlichen „Beitrag”, aber es führt immer auf die eigentlich wirkende Kraft, auf Gott, zurück. Die menschliche Mitwirkung wird ausreichend gewürdigt, wobei ihre Erwähnung Würdigung genug zu sein scheint.
Menschliche Verfasser könnten zwar den Eindruck aufkommen lassen, dass die wirkende Kraft bei ihnen liegt, tatsächlich ist es aber Gottes Geist, der wirkt.
Das Gleiche gilt offenbar in Analogie zu den Heilungen für die Inspiration des Wortes Gottes der Bibel: menschliche Verfasser könnten zwar den Eindruck aufkommen lassen, dass die wirkende Kraft und die Verantwortung für das Ergebnis ganz bei ihnen liegt, tatsächlich ist es aber Gottes Geist, der wirkt. Er übergeht die menschlichen Verfasser nicht, lässt aber ihren Beitrag so zurücktreten, dass das Ergebnis ganz Gottes Wort ist. Wenn manche Kommentare heute das theologische Genie des Paulus feiern, dann gehen sie an dieser entscheidenden Tatsache vorbei. Paulus mag ein theologisches Genie gewesen sein, aber entscheidend bleibt, wie Gott ihn in seinen Dienst genommen hat, so dass er Heilige Schriften verfassen konnte. Vor diesem Hintergrund macht 2Pet 1,20-21 völlig klar:
„Vor allem aber müsst ihr wissen, dass keine prophetische Aussage der Schrift aus einer eigenen Deutung des Propheten stammt. Denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil der betreffende Mensch das wollte. Diese Menschen wurden vielmehr vom Heiligen Geist gedrängt, das zu sagen, was Gott ihnen aufgetragen hatte” (NEÜ).
5. Jeder Versuch, den Beitrag der menschlichen Verfasser aus dem entscheidenden Wirken des Heiligen Geistes bei der Inspiration herauszulösen, führt auf einen Irrweg.
Will man nun in irgendeiner Weise dem Beitrag der menschlichen Verfasser auf die Spur kommen, sei es, um den göttlichen Beitrag besser würdigen zu können oder um eventuelle Fehler und Irrtümer als Fehler von Menschen auszuscheiden und zu entschuldigen, oder sonst Menschenwort und Gotteswort zu trennen, steht dem zuerst wieder das Selbstzeugnis der Schrift entgegen. Nach 2Tim 3,16 ist es jede Heilige Schrift des Alten Testaments, für die die Gottgehauchtheit (Theopneustie / Inspiration) gilt. 2Pet 1,20f lässt keine Tür offen, einzelne prophetische Aussagen herauszulösen.
Durch die Trennung von Gottes- und Menschenwort wird die Bibel menschlicher Willkür ausgesetzt und verliert ihre Autorität.
Welchen Sinn sollte es haben – abgesehen von der offensichtlichen Unmöglichkeit der Durchführung – jeweils zu unterscheiden, ob etwas dem Geist des menschlichen Autors oder dem Geist Gottes zuzurechnen ist? Eine solche Quellenscheidung führte dazu, dass nur Teile der Bibel als Gottes Wort angesehen werden könnten. Wenn man dann gar noch einen göttlichen Kern oder Sinn aus der menschlichen Aussage herausschälen wollte, sähe man sich vor die Aufgabe gestellt, zu unterscheiden, was aus dem normalen Wissen eines Menschen stammte und was nur durch göttliche Einsicht vermittelt worden sein kann. Man müsste dann unterschiedliche Grade der Inspiration unterscheiden, aber auch übergeordnete Kriterien festlegen, die eine solche Unterscheidung nachvollziehbar machen. Das alles ist in der akademischen Theologie unter dem Titel „Kanon im Kanon” oder „Realinspiration” versucht worden. Damit wurde die Bibel nicht nur völlig menschlicher Willkür ausgeliefert, sondern auch ihre Autorität für Leben und Lehre für den Einzelnen und die Kirche wurde mit dieser Art von Inspirationsauffassung hinfällig gemacht. Das Bemühen, einen inspirierten Kern zu benennen und damit verbindliches Gotteswort von unverbindlichen menschlichen Meinungen zu scheiden, muss als gescheitert angesehen werden. Dass der Kern nicht benannt werden kann, zeigt sich deutlich auch an Worthülsen1 , die man dafür wählt, deren Inhalt jedoch frei bestimmbar zu sein scheint.
6. Ohne dass Gott den menschlichen Verfassern jedes Wort diktiert hat, ist das Ergebnis doch so, dass Inhalt und Form seines Wortes ganz seinem Willen entsprechen.
Man könnte sich die Inspiration theoretisch auch so denken, dass Gott, als er z.B. einen Brief von Paulus fertig sah, sagte: „Das hätte ich nicht besser sagen können, das ist (wie) mein Wort”. Er autorisierte damit, weil er mit dem Ergebnis einverstanden ist, die Gedanken des Paulus als sein Wort. In einem solchen Modell bliebe der menschliche Verfasser ganz selbständig. Aber dieses Modell wird in der Bibel selbst offensichtlich nicht so vertreten. Gott gibt nicht erst freien Lauf, um dann zu allem, was ihm gefällt sein „Ja” zu geben, sondern er ist Teil des gesamten Entstehungsprozesses der Schriften, die zu Recht sein Wort heißen sollen. Wie er das im Einzelnen gemacht hat, gehört zu dem wunderbaren, geheimnisvollen und souveränen Wirken Gottes in dieser Welt. Dabei sollen wir ihm offenbar nicht in die Karten schauen können. Dass er aber diesen Weg wählt, den Willen und die Persönlichkeit des Menschen nicht auszuschalten, sondern zu achten, aber doch mit seinem Willen zu seinem Ziel zu kommen, das findet seine Parallelen im gesamten Umgang Gottes mit uns Menschen bis in unsere Rettung hinein. Wir sind Mensch mit Persönlichkeit und Willen und sollen unsere Rettung wollen. Und doch bleibt es Gott selbst, der beides schafft: Wollen und Vollbringen (Phil 2,12-13).
7. Die menschliche Verfasserschaft der Bibel wird am besten als Prophetie beschrieben.
Um den Beitrag der menschlichen Verfasser zu beschreiben sind bis zur Aufklärung Begriffe wie „Notare des Heiligen Geistes”, „Sekretäre Gottes”, „Hand” oder „Griffel Gottes” gebraucht worden. Auch wenn heute der Eindruck entstehen könnte, es wäre dabei daran gedacht, die Schreiber könnten willenlose Werkzeuge gewesen sein, so war das nicht der Fall. Wenn die Reformatoren oder auch die Theologen der Orthodoxie davon sprachen, dass Gott sein Wort diktiert habe, dann meinten sie das theologisch und nicht im Sinne eines mechanischen Vorgangs2 . Heute ist diese Redeweise allerdings für die meisten Menschen irreführend. Darum erscheint es mir am besten, die Prophetie und die Aufgabe des Propheten als Vorlage für das Wirken Gottes an den Verfassern zu nehmen.
Damit ist ein Bereich der Schwierigkeiten dargelegt, die die Auffassung von der vollständigen Inspiration der Heiligen Schrift mit sich bringen. Andere Fragen betreffen das Zueinander des lebendigen Wortes Jesus Christus und des geschriebenen Wortes, die Überlieferung der Handschriften mit ihren Abschreibfehlern, die scheinbaren Widersprüche oder die angeblichen sachlichen Irrtümer, die Bedeutung der Übersetzung der Bibel in andere Sprachen für die Inspiration oder die Frage, ob die Inspiration auch eine besondere Hermeneutik erfordert, die sich vom Lesen anderer Texte unterscheidet. Bedeutend ist weiter das Verhältnis der Inspiration zur inneren Geschichte der Bibel, die als fortschreitende Offenbarung des Geheimnisses des Evangeliums beschrieben wird. Aber für alle diese Fragen gilt das Gesagte: Nicht die Behandlung dieser Themen formen die Inspirationslehre in ihrem Kern. Der Kern ist offenbarte Lehre der Heiligen Schrift. Die Fragen müssen dann so weit wie möglich im Einklang mit diesem Kern beantwortet werden.
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Zu den beliebten Worthülsen, die oft falsch verwendet werden, gehört das von Luther geprägte „Was Christum treibet …“ im Zusammenhang mit der Schriftauslegung. Luther selbst sah, dass die gesamte Schrift Christus und das Evangelium zum Thema hat. vgl. Clemens Hägele, „‚Was Christum treibet’: Beobachtungen zu einem leichtfertig gebrauchten Lutherwort”, ichthys 30 (2014),115-121. ↩
Selbst für Abrahm Calov (1612-86) stellt Volker Jung fest: „‚Göttliche Urheberschaft‘ besagt, daß nicht nur die Inhalte (materia, res), sondern auch die ‚Worte‘ (verba) vom Hl. Geist ‚in die Feder diktiert‘ wurden. Mit der Diktattheorie versteht Calov die Inspiration nicht mechanistisch als bloßen Gebrauch unverständiger Schreiber, die ‚nicht verstanden hätten, was sie reden‘. Der Vorgang der Inspiration umfaßt nach Calov sowohl die ‚innere Erleuchtung des Verstandes und Eingebung‘ (illuminatio mentis interna et suggestio), als auch den ‚äußeren Antrieb‘ zur sprachlichen Gestaltung“ (92). Jung zeigt, dass die Bezeichnungen Calovs für die Autoren der Heiligen Schrift als „Sekretäre“ (amanuenses), „lebende Schreibrohre“ (calami viventes) oder „dienende Autoren“ (ministeriales autores) als „sprachliches Bild“ angesehen wurden, „das in Ermangelung einer der Sache angemessenen Benennung gebraucht wird“ (278). Das Ganze der Heiligen Schrift: Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov. Stuttgart: Calwer-Verl., 1999. ↩