„Die Christenheit hat immer die Hoffnung wachgehalten, dass die Gottesherrschaft in der nächsten Zukunft kommen wird, obwohl sie vergebens gewartet hat (…) Diese Hoffnung, die Jesus und die Urchristenheit teilten, wurde nicht erfüllt. Immer noch besteht dieselbe Welt, und die Geschichte hat die Mythologie widerlegt. Diese Vorstellung von der Gottesherrschaft ist nämlich mythologisch, wie auch die Vorstellung des Enddramas mythologisch ist.“
Diese Sätze stammen von einem der bekanntesten Theologen des 20. Jahrhunderts, Rudolf Bultmann, der von 1884 bis 1976 lebte und Professor für Neues Testament in Marburg war.
Bultmann war zu der Überzeugung gelangt, dass die eschatologischen Aussagen der Bibel nie eintreffen werden. Nach seiner Meinung wird es weder eine Endzeit mit dem Auftreten des Antichristen noch die Wiederkunft von Christus (Parusie), noch das Tausendjährige Reich, noch einen neuen Himmel und eine neue Erde geben. Wie konnten Bultmann und viele andere Theologen mit ihm diese Ansicht vertreten, obwohl doch die Bibel klar alle die genannten eschatologischen Ereignisse lehrt? Um diese Frage zu beantworten, muss die Erwartung der nahen Wiederkunft von Christus in den ersten christlichen Gemeinden genauer untersucht werden.
1. Wann erwarteten die ersten Christen die Wiederkunft von Jesus?
Manche Stellen des Neuen Testaments lassen vermuten, dass die ersten Christen damit rechneten, Jesus würde schon bald nach seiner Himmelfahrt wieder zurück zur Erde kommen und sein Reich aufrichten. So fragten die Apostel den Herrn unmittelbar vor seiner Himmelfahrt, ob mit dem Kommen des Heiligen Geistes auch er, Jesus, selbst wiederkommen und sein Reich aufrichten würde (vgl. Apg 1,4ff). Auch Paulus wird zumindest in den ersten Jahren nach seiner Bekehrung in einer glühenden Naherwartung gelebt haben. Anders wären Stellen wie 1. Korinther 15,51 oder 1. Thessalonicher 4,15.17 kaum verständlich. Das „wir“ in den genannten Stellen zeigt an, dass der Apostel damit rechnete, die baldige Wiederkunft von Jesus als Augenzeuge zu erleben. Auffallend ist jedoch, dass die persönliche Überzeugung, dass Kommen von Jesus sei nahe, nie zu einer verbindlichen Lehre gemacht wurde. Im Gegenteil: Der Abschnitt 1. Thessalonicher 4,15ff, wo Paulus so glaubensstark von der Wiederkunft des Herrn spricht, endet nicht, wie die Kapiteleinteilung nahelegen könnte, mit Vers 18, sondern findet in Kapitel 5 seine Fortsetzung. Und dort heißt es ausdrücklich:
„Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst ja genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht…“.
Und wie die Stunde des Diebes niemandem bekannt ist, so weiß auch niemand, wann der Herr kommt.
Während also zumindest ein Teil der Urchristenheit zunächst in der Naherwartung des Kommens von Jesus lebte, ohne allerdings diese Überzeugung zu einer verbindlichen Lehre zu machen, wird sich mit zunehmender Zeit die Überzeugung durchgesetzt haben, die Wiederkunft von Jesus könnte doch noch in weiterer Ferne liegen. Diese Vermutung ergibt sich aus den späteren Briefen des Neuen Testaments. So warnt Paulus etwa im zweiten Brief an die Thessalonicher davor, den Tag der Parusie als unmittelbar bevorstehend zu betrachten. Vielmehr könne Jesus erst dann kommen, wenn bestimmte Zeichen eingetroffen sind (vgl. 2. Thessalonicher 2,1ff). Petrus geht noch einen Schritt weiter und gibt Gründe dafür an, warum der Herr noch nicht wiedergekommen ist: Die gegenwärtige Zeit der Gnade dauert noch an, damit möglichst viele zum Heil finden (vgl. 2. Petrus 3,9).
2. Hat es eine Parusie – Verzögerung gegeben?
Die neutestamentliche Wissenschaft hat die Hypothese aufgestellt, die ersten Christen hätten unter einer „Parusie-Verzögerung“ gelitten
Die neutestamentliche Wissenschaft hat nun die Hypothese aufgestellt, die ersten Christen hätten unter einer „Parusie-Verzögerung“ gelitten. Denn die Hoffnung der Urchristenheit auf eine baldige Wiederkunft von Jesus hätte sich als Irrtum erwiesen. Wie oben erläutert, haben die ersten Gemeinden in der Tat mit der baldigen Parusie gerechnet und waren gewiss auch enttäuscht, dass sie ausblieb (vgl. 2Petr 3,1ff). Doch es ist zu unterscheiden zwischen der subjektiven Hoffnung der Apostel und vieler Christen der ersten Gemeinden und der objektiven biblischen Lehre. Nirgends wird die Ankunft von Jesus noch zu Lebzeiten der ersten Gemeindegeneration gelehrt, auch wenn man lange Jahre diese Hoffnung im Herzen trug. Vielmehr fällt bei sorgfältiger Lektüre des Neuen Testaments auf, dass Jesus selbst wohl von einer längeren Zeitspanne bis zu seiner Wiederkunft ausgegangen ist. Denn wie sonst sollten die Gleichnisse verstanden werden, die davor warnen, aufgrund seiner scheinbar verzögerten Parusie „schläfrig“ zu werden (vgl. Mt 25,5; 25,14.19)? Auch der schon erwähnte Himmelfahrtsbericht aus Apostelgeschichte 1 lässt eher einen längeren Zeitraum bis zur Parusie vermuten. Denn die Evangelisierung der ganzen Erde (vgl. Apg 1,8) ist in einer Generation kaum zu bewerkstelligen. Dass ein Teil der Urchristenheit diese Zusammenhänge übersehen und mit der unmittelbar bevorstehenden Parusie gerechnet hat, mag mit der frühen Verfolgungssituation der Christen zusammenhängen. Gerade die bereits wenige Jahre nach der Himmelfahrt von Jesus einsetzende Verfolgung (vgl. Apg 8,1) hat die Jünger an Aussagen ihres Herrn wie etwa Matthäus 24,9ff erinnert und verständlicherweise die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Trübsal durch die Ankunft von Jesus genährt. (Parallelen findet man bei fast jeder Christenverfolgung!) Dass ihre Verfolgung noch nicht die letzte sein muss, daran haben offensichtlich zunächst die wenigsten gedacht. Ebenso wird die einseitige Interpretation von Stellen wie Jakobus 5,8 („denn die Ankunft des Herrn ist genaht“, vergleiche auch Mt 16,28 und Hebr 10,37) der Naherwartung Vorschub geleistet haben. Erst Petrus gibt eine geistgewirkte Auslegung jener Stellen, indem er darauf hinweist, dass Gott andere Zeitmaßstäbe hat als der Mensch (vgl. 2Petr 3,8).
Auch wenn ein Teil der Urchristenheit die baldige Parusie erwartet, wird sie vom Neuen Testament nicht gelehrt
Er verzögere nicht die Wiederkunft von Jesus; aber bei ihm bedeute „die Ankunft von Jesus ist genaht“ nicht unbedingt, dass sie sich innerhalb einer Generation ereigne. Gott denkt in größeren Zeiträumen als der Mensch. Zudem bleibt Gott als der Herr der Geschichte souverän, Zeitläufe zu dehnen oder zu verkürzen (vgl. 2Petr 3,9; Mt 24,22). Daher gilt festzuhalten: Auch wenn ein Teil der Urchristenheit zunächst die baldige Parusie erwartet, wird sie vom Neuen Testament nicht gelehrt. Die Hypothese einer Parusie-Verzögerung widerspricht somit dem Neuen Testament. Daher sind auch ihre Konsequenzen, wie sie Bultmann und andere gezogen haben, hinfällig.
3. Wann ist mit der Wiederkunft von Jesus zu rechnen?
Theologen und Sektenführer sind oftmals der Versuchung erlegen, einen Termin für die Wiederkunft von Christus anzugeben. Sie haben sich stets geirrt. Denn niemand weiß, wann Jesus wiederkommen wird, außer Gott, der Vater. Darauf hat Jesus selbst hingewiesen (vgl. Mt 24,36). Daher werden Christen auch in Zukunft gelassen bleiben können, wenn jemand mit dem Anspruch auftritt, den Zeitpunkt der Parusie zu kennen.
Wenn wir auch nicht wissen können, wann genau Jesus kommt, so sind wir doch aufgerufen, die seiner Ankunft vorangehenden Zeichen zu beachten. Er selbst hat in seiner Endzeitrede einige Zeichen genannt: vermehrtes Auftreten von Kriegen, Hungersnöten, Erdbeben und Christenverfolgung (vgl. Mt 24,3ff). All dies hat es in den letzten 40 Jahren in nie gekannter Größenordnung und Konzentration gegeben.
Doch dies allein genügt nicht, um zu behaupten, unsere Generation würde die Wiederkunft von Jesus erleben. Denn theoretisch kann ja alles noch viel schlimmer werden. Daher gibt die Schrift noch andere Zeichen, die erfüllt sein müssen, bevor der Herr kommen kann. Zunächst muss die Zerstreuung Israels ein Ende finden (vgl. Dan 12,7b) und Jerusalem wieder unter jüdischer Gewalt sein (vgl. Lk 21,24). Fraglos sind wir heute Augenzeugen dieses Geschehens. Dann aber muss auch der Antichrist, der Mensch der Bosheit (2Thes 2,3), auftreten. Sein öffentliches Auftreten steht noch aus. Doch wäre es falsch, deshalb die Parusie in ferner Zukunft zu wähnen. Es deutet dagegen manches darauf hin, dass die immer größer werdenden politischen, ökonomischen und ökologischen Probleme dieser Erde alle angehen und deshalb nur von der Weltgemeinschaft gelöst werden können. Aus der in den letzten Jahren intensiver gewordenen länderübergreifenden Zusammenarbeit von Regierungen und Organisationen kann eines Tages die Forderung nach einer Zentralregierung erwachsen, die von einem „starken Mann“ geführt wird, der die Probleme der Erde löst. Und wer wollte, angesichts gerade der Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, behaupten, dieser Mann könnte nicht auch ein großer Demagoge sein?
Viel wichtiger als solche Endzeitspekulationen aber ist unsere Bereitschaft. Die Endzeitreden von Jesus warnen vor Schläfrigkeit und rufen dazu auf, ständig mit der Wiederkunft von Jesus zu rechnen. Denn er kommt überraschend wie ein Dieb (Mt 24,43; 1Thes 5,2) Ja, gerade dann, wenn niemand mit ihm rechnet, wenn alle von Frieden (1Thes 5,3) und Wohlergehen sprechen, dann wird er plötzlich vor der Tür stehen. Augustinus sagte zu Recht: Gott hat uns den einen Tag verborgen, damit wir achthaben auf alle Tage. Wer ernst macht mit der Wahrheit, Jesus kann jederzeit kommen beziehungsweise ich kann (infolge des Todes) jederzeit vor ihm stehen, der wird vor Glaubenserlahmung bewahrt und sein Leben im Licht Gottes führen. Und genau dazu ruft die Schrift uns auf: „Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages… So lasst uns nun nicht schlafen wie die anderen, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein“ (1Thes 5,4ff). Nur wer im Licht Gottes lebt und somit bereit ist, dem wiederkommenden Herrn zu begegnen, wird auch in sein Reich eingehen dürfen (vgl. Mt 25,1ff).