Hier lesen Sie den dritten Teil von Bibeltreue und ihre Grenzgebiete. Weitere Teile finden Sie hier: Teil 1, Teil 2
Wer bibeltreu sein will, der wird immer wieder fragen, ob eine Lehre, eine Verhaltensweise oder Haltung biblisch ist. Damit zeigt er, dass ihm die Bibel der Maßstab ist, an dem er Haltungen, Verhalten oder Lehren misst. Die Bibel nur den Maßstab zu nennen, aber nichts von ihr beurteilen zu lassen, das ist weder biblisch noch bibeltreu, denn die Bibel will selber der unübertroffene Maßstab sein. Das wird etwa an solchen Vergleichen Gottes bei Jeremia (23,29) deutlich:
„Ist mein Wort nicht brennend wie Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“
oder noch ausführlicher wird der Vorgang, um den es geht, im Hebräerbrief beschrieben:
Hebräer 4,12-13: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben.“
Dass Christen dieses Schwert im Kampf des Lebens auch aktiv führen, um zwischen biblisch und unbiblisch zu unterscheiden, wird dann im 5. Kapitel klar gesagt, wo das Wort Gottes sowohl Milch für Anfänger im Glauben ist als auch feste Speise für Fortgeschrittene, „die infolge der Gewöhnung geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten wie auch des Bösen“ (5,14). In Epheser 6,17 ist es dann „das Schwert des Geistes, das ist Gottes Wort“, das wir nehmen sollen, um damit für die Unterscheidung zu kämpfen.
Da Jesus wusste, dass vieles in den alttestamentlichen Schriften auf ihn hin geschrieben war, wollte er auch aktiv die Schrift erfüllen. Nicht nur wo er geboren wird, wie er stirbt, entscheidet die Schrift – oder anders gesagt: Gott hat es lange vorher entschieden, es den Autoren der alttestamentlichen Bücher in den Mund gelegt, damit sie vorhersagen, wie es einmal mit dem Messias Gottes sein sollte – Jesus will auch aktiv die Schrift erfüllen, also nach der Bibel leben. Was auf ihn hin geschrieben war, wollte er tun. Noch am Kreuz, kurz bevor er stirbt, bittet er um etwas zu trinken. Johannes 19,28:
„Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.“
Jesus – so klingt es hier an – will in seinem Verhalten bis zum letzten Atemzug der Heiligen Schrift entsprechen.
Schließlich ist es das gleiche Schwert des Geistes, mit dem Christus am Ende der Zeiten richten wird. Es gibt auch im Gericht keinen anderen Maßstab als den, dem er sich selber unterwarf und den wir heute haben:
Offenbarung 19,15: „Und aus seinem Munde ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage.“
Man darf und soll also, wie Paulus in Römer 4 oder 1Kor 10, fragen, was in der Schrift auf uns hin gesagt ist und daraus für Lehre und Leben Konsequenzen ziehen.1 Das ist auch die eigentliche Aussagen von 2Tim 3,16-17:
„Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein.“
Ich halte es daher für eine traurige Entwicklung, wenn derjenige, der biblisch argumentieren will, unter den Generalverdacht geraten kann, er wolle mit dem Anschein des Biblischen manipulieren.
Ein Generalverdacht der Rechthaberei verhindert ein gesundes Ringen genauso wie die Rechthaberei selbst
Wobei unter uns Rechthaberei mit Bibelzitaten durchaus vorkommen kann. Ein Generalverdacht der Rechthaberei aber verhindert ein gesundes Ringen genauso wie die Rechthaberei selbst.2
Was aber ist biblisch und warum gibt es dabei so viele Meinungsverschiedenheiten? Kann man etwa alles mit der Bibel begründen? Wenn das so wäre, könnte man wohl gar nichts mehr mit der Bibel begründen und das „Allein die Schrift“ hätte keine Bedeutung mehr. Wenn wir also offensichtlich rechte Auslegung der Schrift fördern sollen, nach welchen Maßstäben soll sie sich richten?
1 Biblisch interpretieren
Wenn an dieser Stelle eine Begriffsbestimmung von „biblisch“ versucht werden soll, dann muss ich gleich eine Einschränkung machen. Es kann meines Erachtens keine absolute Definition davon geben, was „biblisch“ ist. Das heißt, man kann nicht eine Anzahl von Prinzipien nennen, mit denen man dann ein für allemal entscheiden könnte, was biblisch und was unbiblisch ist. Eine solche Definition würde die Bibel selbst übersteigen oder sie auf Prinzipien reduzieren. Dagegen gilt: was biblisch ist, muss die Bibel entscheiden. Damit sage ich nicht, dass gar keine Bestimmungen möglich wären. Nur muss diese Bestimmung so sein, dass die vorhandene Bibel bestimmt, was biblisch ist und nicht ein System, ein Mensch oder eine Kirche oder Tradition.
Ich versuche darum erst einmal folgende Annäherung: Als „biblisch“ bezeichnen wir Lehren, Handlungen oder Haltungen, soweit sie mit zustimmenden Aussagen der Bibel übereinstimmen. „Unbiblisch“ sind dann Lehren, Handlungen oder Haltungen, die mit ablehnenden Aussagen der Bibel übereinstimmen. Damit ist schon eins klar: Was nicht „biblisch“ genannt werden kann, ist deswegen noch lange nicht „unbiblisch“. Zwischen „biblisch“ und „unbiblisch“ gibt es Bereiche, zu denen die Bibel direkt nichts sagt. Wir müssen in der Regel davon ausgehen, dass Gott uns hier einen Raum der Verantwortung zuschreibt, in dem wir in seinem Sinne zu entscheiden haben. Beispielsweise finden wir im Neuen Testament erstaunlich wenig direkte Aussagen über eine christliche Gottesdienstgestaltung. Die Beispiele der Apostelgeschichte lassen manches offen und nur aus dem 1. Korintherbrief entnimmt man in Umrissen, wie es in Korinth war.3 Daran können wir uns orientieren, haben aber keine direkten Vorschriften. Und selbst bei ethischen Forderungen ist das Maß nicht angegeben. Die „Fressen“ werden nach Gal 5,21 nicht ins Himmelreich kommen. Aber die Bibel gibt uns kein Maß, wann etwas noch Essen und wann es schon Fressen ist. Ich gehe davon aus, dass das Maß relativ ist, aber keineswegs beliebig, so dass man meist erkennen kann, wo die Grenze überschritten wird.
Wir haben immer eine Interpretation oder Deutung von Aussagen der Bibel vorgenommen, wenn wir von „biblisch” oder „unbiblisch” sprechen
Wir sollten uns also klar machen, dass wir immer eine Interpretation oder Deutung von Aussagen der Bibel vorgenommen haben, wenn wir von „biblisch“ oder „unbiblisch“ sprechen. Es geht nicht darum, dass einer die Bibel deutet und der andere nicht, sondern darum, wie wir sie richtig deuten. Man kann sich diese Notwendigkeit schon klar machen, wenn man nur irgendeinen Brief des Paulus aufschlägt. Nennt er nicht in der Überschrift die Adressaten? Wenn ich nun den Schluss ziehe, dass nicht nur sie allein gemeint sind und der Brief nicht nur ein interessantes historisches Dokument darstellt, wie die Briefe meiner Oma an ihren Mann, dann interpretiere ich. Die Bibel aufzuschlagen und sie als Gottes Wort an seine Kirche und an mich heute zu verstehen, ist Interpretation, aber eine, die von der Bibel selbst gewollt ist.
Dass das Wort Gottes in dieser Hinsicht eine Sonderstellung gegenüber aller anderen Literatur einnimmt hat m.E. Gerhard Maier zurecht betont:
„Aber Bibelverständnis und Bibelauslegung haben es mit dem einmaligen Fall zu tun, dass sie einer schriftgewordenen Botschaft begegnen, die mit dem einzigartigen Anspruch auftritt, dass hier, und hier allein Gott zuverlässig redet.“4
Darum kann es auch nicht sein, dass die Schrift mit einem Maßstab gemessen wird, der ihr nicht selbst entstammt. Bibeltreue will das grundsätzlich nicht tolerieren.
„Wahrscheinlich ist die wichtigste hermeneutische Entscheidung diejenige, ob wir den Ausgangspunkt bei der Offenbarung selbst oder beim Menschen nehmen“.5
Bibeltreue mahnt uns immer wieder dazu, die Bibel mit der Bibel zu verstehen und darauf zu vertrauen, dass das auch möglich ist.
Die Reformatoren hatten mit dem sola scriptura neu betont, dass die Bibel der entscheidende Maßstab für Lehre und Leben sein muss. Folgerichtig ließen sie auch nur solche Interpretationen von Aussagen der Heiligen Schrift gelten, die nach Maßstäben der Schrift entstanden sind. Dies drückten sie aus, wenn sie sagten sacra scriptura sui ipsius interpres (die Heilige Schrift legt sich selber aus).
Bei jeder Auslegung, Deutung oder Anwendung der Heiligen Schrift muss sie selbst das letzte Wort haben
Das heißt, dass bei jeder Auslegung, Deutung oder Anwendung der Heiligen Schrift sie selbst das letzte Wort haben muss. Nicht ich, der Mensch, bin ihr autoritativer Ausleger, sondern sie selbst ist ihr eigener Ausleger.6 Soweit ich sehe, wird dies prinzipiell weithin anerkannt. Entscheidend ist aber, ob nicht nur beteuert wird, man wolle sich daran halten, sondern, ob es in der Art der Auslegung auch wirklich durchgehalten wird. Ich meine hier wieder nicht, dass sich ein Ausleger an der einen oder anderen Stelle einmal verrennen kann, sondern ob er sich in seiner Auslegung und Anwendung der Schrift grundsätzlich an das Prinzip halten will, dass die Schrift ihr eigener Ausleger ist und sich auch von dort aus korrigieren lässt.
Ist es nicht eine Schwäche der Heiligen Schrift, dass wir sie immer interpretieren müssen? Wir Menschen sind doch Sünder und damit in Gegnerschaft zu Gott. Werden wir die Heilige Schrift damit nicht immer verdrehen? Ist eine Aussage über das, was biblisch oder unbiblisch ist, so überhaupt möglich oder müssen wir nicht denen recht geben, die sagen, die Bibel habe in sich gar keine Bedeutung, sondern eine Bedeutung wird erst im und durch den Menschen, der sie liest gebildet?
Nein, es ist gerade keine Schwäche der Heiligen Schrift, sondern sollte im Gegenteil als eine ihrer Stärken angesehen werden, dass wir sie interpretieren müssen. Gott weiß, dass er mit seiner Heiligen Schrift zu Sündern spricht, darum trägt die Schrift genau solche Eigenschaften, die geeignet sind, den Sünder zur Umkehr und zum Glauben zu rufen, ihn zu bessern und zu überwinden (2Tim 3,16). Dass wir die Schrift interpretieren sollen – und damit meine ich verstehen und anwenden -, ist eine dieser Eigenschaften, von der die Schrift selbst spricht.
Röm 12,2: „Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“
Eph 5,10: „Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist.“
1Thess 5,21: „Prüft aber alles, und das Gute behaltet.“
1Joh 4,1: „Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt.“
So fordert die Heilige Schrift den Sünder in seinem verkehrten Denken heraus. Er muss sich und andere an dem messen, was Gott sagt, und dabei erfahren, dass sein sündiges Denken von Gott überwunden werden kann. Luther sprach von der Hure Vernunft, die sich jedem hinzugeben bereit ist, aber zugleich von der Vernunft als einem Loch im Reich des Satans7, weil Gott durch die Heilige Schrift in unserer Sprache die Gedanken gefangen nehmen kann unter den Gehorsam Christi. Dass wir aufgefordert werden, selber zu prüfen, ob etwas der Wille Gottes ist oder nicht, dass ist Gottes Weg, uns zu überwinden. In diesem Vorgang dürfen wir auch das Wirken des Heiligen Geistes erwarten. Denn bei diesem Verstehen der Heiligen Schrift geht es um mehr als nur ein äußeres Wahrnehmen der Aussagen. Wir werden angegriffen, herausgefordert und bestenfalls überwunden.
B. Rothen hat das im Anschluss an Luther sehr schön beschrieben:
„Aber auch im Inneren, im rechtmäßigen Vollzug seines Lehrauftrages darf sich ein Theologe nichts nehmen, es sei denn, es werde ihm gegeben (Joh 3,27). Gegeben ist dem Theologen aber nur das, was durch die prophetischen und apostolischen Worte unwidersprechlich klar gesetzt und unbezweifelbar deutlich herausgestellt ist. Das theologische Denken muss darum schon seinen Ausgang und Anstoß immer durch die Worte der Schrift erhalten, und es muss sich dann entfalten ganz im Rahmen und in den Grenzen, wie sie von den Worten der Schrift abgesteckt werden. Es ist das sichere Zeichen des Irrtums, wenn ein Theologe zuerst seine Gedanken und Ansichten hat und dann erst nach der Bibel greift, um dort die nötigen Belegstellen zu suchen! Und es ist dann ebenso sichere Folge seines Irrtums, dass sich in der Bibel dann keine Worte finden werden, die unmissverständlich direkt diese vorgefasste Ansicht bestätigen. Immer werden es nur hochgespannte, verkrampfte oder platt rationale Folgerungen und „Interpretationen“ sein, welche die irrtümliche Meinung stützen.“8
Nicht selten verlassen Christen, die bibeltreu sein wollen, das Feld der Bibeltreue, wenn sie ihre Ideen nachträglich als biblisch erweisen wollen
Nicht selten verlassen Christen, die gerne bibeltreu sein wollen, das Feld der Bibeltreue, wenn sie ihre Ideen nachträglich als biblisch erweisen wollen. Sie missbrauchen die Bibel, um irgendeine Idee zu begründen, die sie anderswo her haben. Mit Bibelsprüchen will man einen gesunden Lebensstil und sportliche Aktivitäten, den Umweltschutz oder eine bestimmte Strategie zum Aufbau der Gemeinde als biblisch identifizieren. Es ist ein bedenklicher Missbrauch der Schrift, wenn Christen das Sporttreiben mit dem Slogan „Unser Körper nicht Bruchbude, sondern Tempel des Heiligen Geistes“ nahegelegt werden soll. Es sollte uns eine heilige Scheu davor behüten, dass wir versuchen, unser Tun mit der Bibel zu belegen. Damit sage ich nicht, ein gesunder Lebensstil sei unbiblisch. Ist das aber wirklich ein Thema der Bibel? Sind es Farb- und Stilberatung oder die Anlage eines Vermögens? Um etwa den Umgang mit dem Körper in unserer Zeit, der m.E. etwas von Körperkult hat, von der Bibel her zu beurteilen, wird man tiefer graben müssen. Auch unsere Einstellung zum Geld will die Bibel beleuchten und gibt manche unbequeme Antwort. Aber der Weg von der menschlichen Idee zur Suche nach Unterstützung in der Heiligen Schrift muss fast zwangsläufig in die Sackgasse führen.
Aber man muss nicht in der Sackgasse bleiben, sondern die Heilige Schrift ist auch dann noch stark genug den Menschen zu überwinden und seine zahlreichen Missverständnisse klarzustellen. Das erfordert aber, dass wir uns dem Urteil der Heiligen Schrift aussetzen und lieber ernüchtert einen Rückzieher machen, als unsere Idee zu verteidigen. Denn
„Die Wahrheit aber sieht sich umgeben und geschützt von ganzen Heerscharen von Schriftworten, ja, ein jeder „Spruch“ der Bibel eilt endlich zur Verteidigung der Wahrheit hinzu, und der recht lehrende Theologe wird es dann nach und nach erfahren, wie jede Anspannung und jeder mühselige Versuch, die Schrift durch fremde Hilfestellungen zu verteidigen, sich auflöst in der befreienden Gegenwart dessen, der Schöpfer, der Herr und der König der Schrift ist.“9
Deswegen wollen Bibeltreue auch nicht die Bibel verteidigen, sondern die Bibeltreue
Deswegen wollen Bibeltreue auch nicht die Bibel verteidigen, sondern die Bibeltreue. Die Bibel braucht unseren Schutz und Hilfe nicht. Wo aber die Treue zur Bibel als Glauben an das Wort des lebendigen Gottes angegriffen wird, da braucht der Glaube den Schutz und die Hilfe aus der Bibel.
Daran schließt sich die Feststellung an, dass eine komplizierte Hermeneutik, als Lehre vom Verstehen der Heiligen Schrift, nur insofern eine Berechtigung haben kann, als sie versucht zu beschreiben, wie Verstehen vor sich gehen könnte. Wollte sie aber vorschreiben, auf welchem Weg ein rechtes Bibelverständnis zu erlangen ist, dürfte sie sich dazu nur auf die Bibel selbst berufen. Wenn man nämlich die Bibel erst nach Anwendung langwidriger theologischer Verfahren verstehen könnte, dann würde vor dem äußeren Verstehen der Schrift eine solche Hürde aufgebaut, dass sie praktisch für unverständlich erklärt wird. Wir sollen die Bibel einfach lesen, und zwar im doppelten Sinne: viel Zeit damit verbringen, sie zu studieren und das mit einfachem Sinn, weil es nicht der Bibel entspricht, dass wir uns ihr mit komplizierten Interpretationsverfahren nähern. Zirkusreife Hirnakrobatik zum Verstehen der Heiligen Schrift führt weg von der Schrift hin zu den hermeneutischen Techniken.10
Deswegen halte ich es keineswegs für wertneutral, welche Auslegungsmethoden angewandt werden. Nicht gegen jede Methode sollten wir sein, das wäre unrealistisch, aber doch genauer fragen, welche der Schrift entspricht und aus ihr geboren wurde, das wäre eine Aufgabe.11 Das Ziel dabei muss klar sein: Wir möchten hören, was Gott zu sagen hat. Damit ist nicht jede Methode, nur weil sie im wissenschaftlichen Betrieb entstanden ist, auch angemessen. Dass insbesondere im Bereich der historischen Erforschung der Bibel auch in der historischen-kritisch arbeitenden Wissenschaft viel geleistet wurde, darf uns nicht die Augen dafür verstellen, dass die vielen Ergebnisse dazu verführt haben, den historischen Zugang zur Heiligen Schrift so zu verabsolutieren, dass ein rechtes Verstehen nur noch mit einem fast enzyklopädischen Wissen möglich zu sein scheint. Aber auch hier gilt: die Heilige Schrift legt sich selber aus.
Wir vertrauen darauf, dass die Bibel auch in historischer Hinsicht alle zum Verstehen nötigen Informationen enthält
Das heißt, wir vertrauen darauf, dass sie auch in historischer Hinsicht alle zum Verstehen nötigen Informationen enthält. Dies betrifft aber auch die Frage, ob wir Gott denn im Umgang mit der Heiligen Schrift die Ehre geben. Wenn ich etwa meinen Sohn aufforderte, sein Zimmer aufzuräumen, käme ich mir veralbert vor, wenn er zunächst eine grammatische Analyse meines Satzes vornähme, dann ein Wortstudium zu „Zimmer“ und weiter eine Studie zur Häufigkeit des Vorkommens dieses Satzes in unserer Familiegeschichte und bei unseren Verwandten, um dann den Schluss zu ziehen, dass ich vielleicht ein ordnungsliebender Mensch sein müsse. Was ich damit sagen will, ist: Nur wenn eine Aussage in der Heiligen Schrift unklar ist, sollten Wege gesucht werden, sie zu erhellen. Mein Sohn kann bei mir nachfragen, wenn er etwas nicht versteht, wir sollen die Heilige Schrift als das Wort Gottes befragen, wenn wir etwas nicht verstehen, z.B. mit einer Untersuchung zur Bedeutung eines Wortes.
Damit sind wir bei einer ganz praktischen Konsequenz angekommen. Die Heilige Schrift kann man nur dann verstehen und anwenden, wenn man sich mit ihr selber beschäftigt und es sich alle Mühe wert sein lässt. Dabei darf uns das Bewusstsein bestimmten, dass der Heilige Geist, der die Schrift gegeben hat, sich im Hören auf die Schrift hören lässt. Noch einmal B. Rothen, der wieder im Anschluss an Aussagen Luthers formuliert:
Es ist die einfache und praktische Bedeutung der polemischen Aussage, dass die Schrift allein genug sei: Die Schrift so ll als einzige Anfang, Ende und Mitte der theologischen Studien bestimmen. […] auf diesem Weg der Theologie in der alltäglichen Treue zu ihrer Aufgabe, gilt vor allem und am folgenschwersten das ‚sola scriptura‘! Hier, im vertrauten, beständigen Umgang mit der faktisch vorfindlichen Schrift entscheidet sich, ob das Schriftprinzip eine leere, häretische Rechthaberei oder ein wirklich ernsthafter Gehorsam gegen das Wort ist. […] ‚Allein die Schrift‘ heißt ganz praktisch, dass man vermehrt und mit einer einzigartigen Hingabe und mit unvergleichlichem Vertrauen die Bibel liest, die Bibel – und nicht eine Menge von anderen Büchern, die viel zweifelhafter, unklarer, inhaltarmer, unpädagogischer, geistloser – ganz einfach schlechter sind als die Bibel. […] Das Verstehen der Schrift beginnt also gerade damit, dass man sie von anderen Texten abgrenzt und sie aus der Menge der übrigen Bücher heraushebt, im Vertrauen darauf, dass sie die inhaltlichen und die formalen Qualitäten besitzt, um ihre Schüler richtig und heilsam zu leiten, auch wenn sie nicht die Menge der Sekundärliteratur zu bewältigen vermögen. Haben wir dieses Vertrauen zur Schrift noch – oder stehen wir nicht mehr auf dem Boden der Reformation, sondern auf dem einer neuen ‚historisch-kritischen‘ Scholastik?“12
Ich fasse einmal die Ergebnisse bis hierher zusammen:
- Es gehört zu den Zeichen des lebendigen Christseins, dass wir prüfen, welche Lehren, Handlungen oder Haltungen biblisch oder unbiblisch sind. Die Bibel fordert uns dazu auf.
- Dazu müssen wir die Bibel interpretieren, d. h. wir müssen sie verstehen und ihre Aussagen auf Lehren, Handlungen oder Haltungen anwenden.
- Die Eigenschaft der Bibel, dass sie interpretiert werden will, ist keine Schwäche, sondern dient Gott dazu, das sündige Denken des Menschen zu überwinden und seine Gedanken gefangen zu nehmen unter den Gehorsam Christi.
- Um die Bibel zu interpretieren, brauchen wir die Bibel selbst. Sie darf alleine vorgeben, wie wir sie interpretieren sollen.
- Weil die Bibel selber vorgibt, wie man sie recht verstehen und anwenden kann, ist Voraussetzung für die rechte Interpretation ein intensives aufopferndes Studium der Bibel.
2 An der Einheit der Schrift festhalten
Die Autoren des Neuen Testamentes nehmen ihre Heilige Schrift als eine Einheit wahr. An keiner Stelle hat man den Eindruck, sie wollten etwa Jesaja gegenüber Mose herausstellen oder auf irgendeine Weise die Heilige Schrift zerteilen. Darum sind auch die Stellen nicht überraschend, wo es einfach heißt: die Schrift sagt (Joh 7,38; 42; 19,37; Röm 4,3; 9,17; 10,11; 11,2; Gal 4,30; 1Tim 5,18; Jak 2,23; 4,5). Die Einheit der Schrift ist begründet in ihrem einen Urheber: Gott. Damit wird von den biblischen Autoren keineswegs negiert, dass über Jahrhunderte viele Menschen sie mit verfassten (z. B. David: Mt 22,23; Apg 2,25; 34; Röm 11,9; Hebr 4,7). Soll die Frage danach, ob etwas biblisch ist oder nicht, den Sinn haben, dass über Leben und Lehre entschieden wird, dann nur mit einer Heiligen Schrift als Einheit.
Die Achtung vor der Einheit bewahrt in verschiedener Hinsicht vor Willkür in seinen Entscheidungen. Sie verhindert, irgendeinen Vers herauszugreifen und auf ihm ohne Rücksicht auf die ganze Schrift eine Lehre aufzubauen. Sie verhindert aber zugleich, sich in der Bibel widersprüchliche Theologien zu konstruieren, die es dann ermöglichen, entweder eine davon zu wählen oder eine neue daneben zu stellen.
Vor der Missachtung der Einheit der Schrift sind auch die, die bibeltreu sein wollen, nicht gefeit
Dass die bibelkritische Theologie kaum noch in der Lage ist, sinnvoll von der Einheit der Schrift zu sprechen, steht außer Frage.13 Aber vor der Missachtung der Einheit sind auch die, die bibeltreu sein wollen, nicht gefeit.
Dass die Achtung der Einheit für das Schriftprinzip von unerlässlicher Bedeutung ist, ist vielfach betont worden. Ohne sie gäbe es keine Möglichkeit der gegenseitigen Interpretation innerhalb der Schrift. Daraus ergeben sich weitere Folgerungen: es müssen wenigstens einige Teile der Schrift so klar sein, dass sie ihr Licht auf die weniger klaren Stellen werfen können. Es ist bei unterschiedlichen Schreibern nicht nötig, ihre jeweilige Botschaft so zu vereinheitlichen, dass sie identisch wird. Auch die weniger hellen Stellen, sind nicht überflüssig, sondern können wichtige Ergänzungen beitragen. Dies ist etwa durch den Jakobusbrief im Hinblick auf die Rechtfertigung aus Glauben ohne Werke gegeben, da er doch darauf aufmerksam macht, dass es keinen Glauben ohne Werke als Frucht gibt.14 Für eine schriftgemäße Interpretation ist daran festzuhalten, dass die hellste Stelle und die größte Klarheit von Jesus Christus ausgeht. Er ist das letzte Wort Gottes (Heb 1,1-2) und der von Gott gesandte, der den Vater selber kennt (Mt 11,27; Joh 17,25). Von ihm her strahlt das Licht in die ganze Heilige Schrift (Lk 24,27+32).
Damit verbietet sich aber jede Form des Herausreißen einzelner Verse oder Abschnitte, die dann ohne den Rest der Heiligen Schrift ihre Bedeutung bekommen. Wenn man in der bibelkritischen Theologie das Zerteilen der Schrift beklagt, so müssen wir als solche die sich nach der Bibel ausrichten wollen, uns mit dem gleichen Maßstab beurteilen lassen.15
Ich nenne ein Beispiel, an dem einiges deutlich wird. Anfang 2002 kam auch ein Deutschland ein Buch auf den Markt, das inzwischen auf vielen christlichen Büchertischen liegt. „Das Gebet des Jabez“ von Bruce Wilkerson. Es hatte schon in Amerika einen riesigen Erfolg und nun auch in Deutschland. Aus dem Vers 1Chr 4,10 entwickelte der Autor ein Gebet oder eine Gebetsstrategie, auf die Gott ganz gewiss immer antwortet. So zu beten soll der „Durchbruch zu einem gesegneten Leben“ sein. Er selber betet seit über 30 Jahren wie Jabez:
„Und Jabez rief den Gott Israels an und sagte: Dass du mich doch segnen und mein Gebiet erweitern mögest und deine Hand mit mir sei und du das Übel von mir fern hieltest, dass kein Schmerz mich treffe! Und Gott ließ kommen, was er erbeten hatte.“
Wenn man nun die vier Bitten dieses Gebetes nachbete und daran glaube, werde Gott bestimmt kommen lassen, was man erbeten hat.
Wenn man die vier Bitten des Gebetes von Jabez nachbete und daran glaube, werde Gott bestimmt kommen lassen, was man erbeten hat
Man erhalte Segen, erlebe eine Erweiterung seines Handlungsraumes und Einflusses, ebenso wie die Hilfe und Bewahrung Gottes. Tatsächlich machen die Chronikbücher hier und anderen Stellen auf die Bedeutung des Gebetes aufmerksam, besonders im Zusammenhang mit der Landnahme und den erforderlichen Kämpfen mit den kanaanitischen Völkern. Sie erinnern damit zugleich an die Richterzeit, in der wenig nach Gott gefragt wurde (Ri 1-3) und das Volk Israel in der Folge nur einige Gebiete erobern konnte und dann lange Zeit mit der Unterdrückung der sie umgebenden Völker zu kämpfen hatten. Mit der Bitte um Erweiterung des Gebietes ist also gemeint, dass Jabez die Gebiete des Landes Kanaan erobern wollte, die Gott seinem Stamm zugeteilt hatte. Dazu bat er um Gottes Hilfe und das wird hier positiv erwähnt. Noch deutlicher steht es etwa 1Chr 5,20 von Ruben, Gad und Manasse:
„Und es wurde ihnen geholfen gegen sie, und die Hagariter wurden in ihre Hände gegeben und alle, die mit ihnen waren. Denn sie schrieen zu Gott im Kampf, und er ließ sich erbitten; denn sie vertrauten ihm.“
Man kann also ganz biblisch mit dem beispielhaften Gebet des Jabez zum vertrauenden Gebet zu Gott auffordern.
Das Jabez-Gebet wurde zu einem formelhaften Vorbild, das (mehrmals) täglich nachgebetet eine bestimmte Wirkung hervorbringen soll
Was aber geschehen ist, ist fast das Gegenteil. Das Jabez-Gebet wurde zu einem formelhaften Vorbild, das (mehrmals) täglich nachgebetet eine bestimmte Wirkung hervorbringen soll. Ziele sind – ganz modern – ein gesegnetes Leben, das Erreichen von „Neuland“, Wachsen und Gewinnen. Aus zwei Versen, die nicht nur ihrem Zusammenhang im Chronikbuch entrissen sind, sondern auch der gesamten biblischen Lehre über das Gebet, entsteht ein Rezept, wie man beten soll. Da hilft es auch nicht, wenn die Sache dadurch abgesichert wird, dass man auffordert, das formelhafte Gebet im Vertrauen auf Gott nachzusprechen. Entscheidend ist ebenso, dass das Jabez-Gebet ohne Jesus auszukommen scheint. Von den neutestamentlichen Aussagen über das Beten lässt es sich nicht beleuchten. Diese Art und Weise des Umgang mit der Bibel ist zwar nicht selten, aber nicht biblisch. Meinen wir wirklich Gott habe diese oder jene Handlung eines Menschen in sein Wort aufgenommen, damit wir sie einfach kopieren?
Es gehört zu den verbreiteten Missverständnissen, die Bibel so zu lesen, dass man aus ihr direkte Handlungsanweisungen ableiten will. Und weil die Bibel in diesem Bereich nicht sehr ergiebig ist, greifen manche zu dem Interpretationsmuster, nach dem ein biblisches Vorbild aus einer Erzählung einfach nachgeahmt werden soll. Eine heutige Handlungsweise ist aber nicht dadurch biblisch, dass sie einmal positiv in einer Erzählung der Bibel erwähnt wird. Sonst könnten wir, wie Simson, Füchse mit brennenden Fackeln an den Schwänzen durch die Gärten böser Menschen treiben. Auf der gleichen Ebene liegt es, wenn etwa Tücher von gesegneten Prediger herumgereicht werden, von denen heilende Wirkung ausgehen soll, weil dies nach Apg 19,12 auch mit den Taschentüchern von Paulus funktionierte. Die Stelle selber und der ganze Zusammenhang macht klar, dass es sich um ein außergewöhnliches Ereignis handelte, das Gott dazu gebrauchte, um die Predigt des Paulus zu unterstützen. Sollen wir solange ohne aufzuhören für etwas beten bis Gott unsere Bitte erhört hat, weil es doch von Mose heißt, dass wenn er beim Kampf des Volkes Israel gegen Amalek seine Arme sinken ließ, das Volk im Kampf zurückweichen musste, aber siegte, solange er weiterbetete (2Mose 17,11)? Der Zusammenhang macht deutlich, dass es Gott dabei darum ging, Mose als Mittler zwischen sich und dem Volk zu bestätigen, nicht aber um die Etablierung einer Gebetsmethode. Und würde man noch das Licht des Johannesevangeliums herüber leuchten lassen, dann zeigte sich, dass Mose Mittlerschaft ein Schatten der Mittlerschaft Jesu Christi ist.
Wenn wir bibeltreu sein wollen, müssen wir fragen, ob die Bibel selber das Interpretationsmuster „Kopieren“ empfiehlt. Im 4. Kapitel des Römerbriefes zeigt Paulus, warum die Heilige Schrift auch mit Blick auf uns von Abraham berichtet. Es geht nicht darum in den Fußstapfen Abrahams zu gehen, sondern in den Fußstapfen seines Glaubens (4,12).
Es geht nicht darum in den Fußstapfen Abrahams zu gehen, sondern in den Fußstapfen seines Glaubens
In dem gleichen Glauben, der ihm zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, sollen wir an Jesus Christus glauben (4,24-25). Dass Paulus kein einfaches Kopieren meint, wenn er Vorbilder aus der Schrift nennt, wird etwa an 1Kor 10,1-11. Was dem Volk Israel aufgrund seines Ungehorsams in der Wüste widerfuhr, ist warnendes Vorbild (11):
„Alles dies aber widerfuhr jenen als Vorbild und ist geschrieben worden zur Ermahnung für uns, über die das Ende der Zeitalter gekommen ist.“
Betrachtet man die Beispiele im Einzelnen, wird deutlich, wie Paulus auf „uns“ überträgt. Er identifiziert in dem konkreten Verhalten des Volkes die Sünde. Sie waren begierig (V. 6), sie waren Götzendiener (V. 7), sie trieben Unzucht (V. 8), sie versuchten Christus (V. 9), sie waren ständig unzufrieden mit dem Handeln Gottes (V. 10). Vor dieser Sünde warnt er, weil er die Gefahr sieht, dass die gleichen Sünden im Verhalten der Korinther vorkommen.
Einige Verse später empfiehlt Paulus sich selbst als Vorbild (11,1): „Seid meine Nachahmer, wie auch ich Christi Nachahmer bin!“ Ist das jetzt die Aufforderung zum schlichten Kopieren? Paulus hat direkt vorher, sein konkretes Handeln kommentiert und klar gemacht, dass er sich in seinem Verhalten daran orientiert, keinem Menschen einen unnötigen Anstoß zu geben, sondern alles zu tun, damit viele gerettet werden. Das erfordert aber gerade ein der Situation angepasstes Handeln und kein mechanisches Nachahmen. Dazu fordert er die Korinther auf und gibt seinem Vorbild zugleich den Maßstab „Wie ich selber Christi Nachfolger bin“. Das relativiert, weil es eigentlich darum geht, Nachahmer Christi zu sein und nicht des Paulus, des Paulus aber nur insoweit er selber Christus nachfolgt.
Spätestens wenn wir aufgefordert sind, Gottes Nachahmer zu sein (Eph 5,1) dürfte uns klar werden, dass es hier nicht um das Kopieren von Gottes Handeln gehen kann, sondern von der Vergebung, die uns Gott durch Christus geschenkt hat, lernen wir, was es bedeutet einander zu vergeben (Eph 4,32). So ist dann auch 1Pet 2,21 gemeint. Das Vorbild Christi im Leiden ist nicht die Aufforderung, sich selber zu geißeln, sondern die Gewissheit, dass es keine Nachfolge Christi ohne Leid geben kann und die Aufforderung Leiden nicht zu scheuen, die uns um des Glaubens willen erwarten. Einfaches Kopieren ist also kein von der Bibel vorgegebener Weg der Interpretation.
Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass in der Bibel selbst alle nötigen Informationen zu finden sind, um über ihren Sinn zu entscheiden
Ein ganz anderes Problem ist die Achtung der Einheit der Bibel als abgeschlossene Offenbarung. In der bibelkritischen Theologie ist es zwar weit verbreitet, über den Sinn biblischer Aussagen durch Informationen aus der Umwelt zu entscheiden, doch kann dies bei Geltung des Schriftprinzips nur in sehr engen Grenzen geschehen. Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass in der Bibel selbst alle nötigen Informationen zu finden sind, um über ihren Sinn zu entscheiden. Damit ist die historische Erforschung der Bibel keineswegs ausgeschlossen, aber es sind ihr Grenzen in ihrer Relevanz gesetzt. Der Gebrauch von Wörtern und Konzepten in der Umwelt der Bibel, kann Hinweise auf den Sinn der Bibel geben, die Entscheidung aber muss der Gebrauch in der Bibel geben. Das Verständnis von Schöpfung in den babylonischen Schöpfungsmythen ist von hohem historischem Interesse, kann aber nicht über das Verständnis des biblischen Schöpfungsberichtes entscheiden.
Da die Bibel nach ihrem eigenen Zeugnis in Raum und Zeit entstanden ist und damit auch in direkter Beziehung zur geschöpflichen Umwelt steht, würde man ihr nicht mit mystischen Kategorien gerecht. Es geht also nicht darum, ihre Texte nur zu meditieren, ohne ihre Bedeutung für Raum und Zeit wahrzunehmen. Damit ist ein kommunikativer Prozess gegeben. Gott hat die Bibel als sein Geschöpf aber so gestaltet, dass sie ihr Licht auf die geschöpfliche Umwelt werfen kann. Natürlich trägt der Mensch seine Vorstellungen an die Bibel heran und will sie durch diese Brille deuten. Er will sie von sich aus erhellen. Er wird aber begrenzt und korrigiert durch das Licht der Bibel.
Wollte man mit Informationen aus der Umwelt der Bibel die Aussagen der Bibel derart erhellen, dass sie einen anderen Sinn bekommen, als wenn man nur innerbiblische Informationen verwendet, so missachtete man ihre Einheit. Ein Beispiel: Mit der Kenntnis über das Ausstellen eines Scheidebriefes wie es im späteren babylonischen Judentum berichtet wird, sollen die Aussagen Jesu in Mt 5,31f erhellt werden. Dunkel erscheinen sie wegen ihres harten Verbotes der Scheidung. Wenn nun die Juden ihren Frauen schon wegen einer Nichtigkeit einen Scheidebrief aushändigen konnten und sie wegschickten, dann wende sich Jesus hier nicht gegen Scheidung allgemein, sondern nur gegen eine leichtfertige Scheidung. Ergo sei auch heute nur eine leichtfertige Scheidung abzulehnen. Diese Argumentation lässt Licht für eine harte Aussage aus Quellen außerhalb der Bibel kommen. Dies wird aber vom Prinzip sola scriptura begrenzt. Man könnte selbst wenn man der Argumentation folgte, jetzt zurückfragen, was denn „leichtfertig“ bedeuten soll. Wenn man darüber nun die Bibel entscheiden lässt, dann ist man wieder zurück bei den harten Aussagen.
Informationen aus der Umwelt der Bibel sind also interessant, dürfen aber die Auslegung nicht entscheiden. Dies ist eigentlich schon deshalb klar, weil man nur selten entscheiden kann, welche Tragweite eine bestimmte Information wirklich für die in der Bibel angesprochene Situation oder Frage hatte. Und neu entdeckte Informationen könnten das Bild auch schnell wieder ändern.
Wir werden vorsichtig, wenn nur eine Erkenntnis von außerhalb der Bibel über ihr Verständnis entscheidet
Ich fasse auch hier zusammen:
- Die Bibel ist eine Einheit, die auf den einen Urheber Gott zurückgeht, auch wenn über viele hundert Jahre zahlreiche Menschen an ihr mitwirkten.
- Die Einheit ermöglicht es, dass die Heilige Schrift sich auch über die Grenzen eines Buches hinweg selbst auslegen kann. Helle Stellen beleuchten die dunklen.
- Weil die Einheit auf den einen Gott zurückgeht, ist es auch angemessen, dass das Evangelium von Jesus Christus, der von Gott gekommen ist, als das hellste Licht angesehen wird, von dem sich alle Aussagen der Bibel beleuchten lassen.
- Die Achtung der Einheit der Schrift verbietet es nicht nur, widersprüchliche Theologie in die Bibel hineinzulesen, sondern ebenso einzelne Stellen aus dem Zusammenhang der ganzen Schrift herauszureißen.
- Wir erwarten das Licht für ein Verständnis der Bibel grundsätzlich aus ihr selbst. Wir werden vorsichtig, wenn nur eine Erkenntnis von außerhalb der Bibel über ihr Verständnis entscheidet. Dies gilt für historische Ergebnisse etwa aus der Umwelt der Bibel ebenso wie für naturwissenschaftliche oder humanwissenschaftliche Erkenntnisse.
3 Kann theologische Theoriebildung bibeltreu sein?
Inwieweit ist es nun angemessen und entspricht der Bibel, theologische Lehren zu bilden? Dass die Bibel kein systematisches Lehrbuch der Theologie ist, ist unbestreitbar, aber soll man deswegen ganz auf Lehren verzichten? Interessanterweise kommt dieses Argument immer wieder auf, aber immer in einer seltsamen Inkonsequenz. Wem eine bestimmte Lehre nicht passt, der plädiert gelegentlich für einen Verzicht, weil die Bibel darüber keine Lehre enthalte. Er verzichtet aber keineswegs selber auf Lehren, die ebenso wenig direkt in der Bibel stehen, sondern von Menschen aufgrund biblischer Aussagen gebildet wurden.
Man kann etwa darüber diskutieren, ob wir ein Lehre von der Bibel überhaupt brauchen. Haben nicht die Reformatoren darauf verzichtet und hat nicht die folgende orthodoxe Theologie mit ihrer teilweise ausgeklügelten Schriftlehre übertrieben? Gott und sein Wort brauchen keine Lehre von der Bibel. Wir Menschen heute brauchen sie aber offensichtlich, wo es darum geht Missverständnissen über die Heilige Schrift entgegenzutreten. Dabei darf es nicht darum gehen, mit einer Lehre von der Bibel, die Bibel in den (menschlichen) Griff zu bekommen, sondern die Aussagen der Heiligen Schrift über sich selbst in eine lehrmäßige Ordnung zu stellen.
Der Korintherbrief etwa zeugt davon, dass eine theologische Lehrbildung angemessen ist. Der Apostel wird nach der Bedeutung der Ehe gefragt und ob man überhaupt heiraten soll. Und dann lehrt er über die Ehe. Und was dort im 7. Kapitel gesagt ist, ist in dieser Hinsicht durchaus mit heutiger Lehrbildung zu vergleichen. Es gibt feste Eckpunkte, die sich aus der Schrift ergeben (V. 2), anderes liegt im Ermessen des Menschen (V. 7). Die Zeit, in die der Apostel hineinspricht, trägt zu den Lehrentscheidungen bei (V. 29). Auch die Versorgung der vollzeitlichen Gemeindemitarbeiter ist ein Thema, an dem sich Lehrentscheidungen auf der Grundlage der Schrift in die Situation hinein verdeutlichen lassen. Es gilt: Die Gemeinde soll die Hauptamtlichen versorgen (1Kor 9,1-18). Der Einzelfall Paulus verzichtet aber weitgehend darauf.
Jede Lehrformulierung bleibt immer offen für ein Hinterfragen von der Bibel her –
das ist zwar sehr unbequem, aber nur das schützt vor Dogmatismus und Traditionalismus
Bei der theologischen Theoriebildung gilt: Jede Lehrformulierung bleibt immer offen für ein Hinterfragen von der Bibel her. Das ist zwar sehr unbequem, aber nur das schützt vor Dogmatismus und Traditionalismus. Außerdem ist es wichtig, weil wir als Kinder unserer Zeit immer Wörter, Gedanken, Annahmen einfließen lassen werden, die sich überholen könnten, selbst wenn die Sache und der Kern der Aussage der Bibel gleich bleiben.
Im Mittelalter etwa wurde von Bonifatius, aber auch später von anderen Gelehrten, Bischöfen und Mönchen immer wieder darüber diskutiert, ob es wohl Antipoden geben könnte, also Menschen, die auf der Südhalbkugel der Erde leben. Dies ist insofern interessant, weil es den modernen Mythos zerstört, die Menschen im Mittelalter hätten wegen ihres Glaubens an die Bibel die Erde für eine Scheibe gehalten, die auf Säulen steht und an deren Ende man herunterfällt. Tatsächlich lässt sich beweisen, dass die Überzeugung verbreitet war, die Erde habe die Form eines Apfels oder eines Balls oder sei wie der Dotter eines Eies vorstellbar. Darin sah offenbar niemand einen Widerspruch zur Bibel. Weil man die Bibel aber ernst nahm, kam es zum Streit über die Antipoden.
„Die Frage, ob dort [auf der Südhalbkugel] nun Menschen (oder etwa nur menschenähnliche Monstren oder gar niemand) wohnten, war in erster Linie eine theologische Frage, keine kosmografische. Denn laut Neuem Testament habe Christus seine Apostel aufgefordert: „Gehet hin und lehret alle Völker!“. Wenn er dies aber wörtlich gemeint habe, und es gäbe auf der Südhalbkugel Menschen, dann habe er die Apostel vor eine unlösbare Ausgabe gestellt, weil die wegen der großen Hitze [die man am Äquator annahm] eben nicht hingelangen könnten. Christus könne aber keinen unlösbaren Auftrag erteilt haben, und damit wäre klar, dass es keine Antipoden geben könne. Dies zumindestens war die Auffassung einiger Kleriker, zu denen offenbar auch der Missionar Bonifatius gehörte“.16
Was dieses Beispiel gut verdeutlicht ist, dass der Fehler in der Theorie offenbar nicht in den biblischen Aussagen lag, die man ernst nehmen wollte, sondern in der Annahme, es sei unmöglich den Äquator zu überqueren. Mit ähnlichen Fehlern müssen wir in allen unseren Lehren rechnen. Auch wenn sie auf der Grundlage der Bibel gebildet sind, könnten sie Annahmen enthalten, die unserem menschlichen Horizont zuzurechnen sind.
Die Chicago-Erklärung benutzt etwa mit Absicht ein Wort wie Irrtumslosigkeit, auch wenn das rationalistisch klingen mag, wie immer wieder vorgeworfen wird. Das ist aber der Versuch, eine sachliche Aussage über die Qualität der Heiligen Schrift zu machen und dabei dem postmodernen Relativismus eine Schranke zu setzen.
„Bibeltreuste” menschlichen Formulierungen müssen von der Bibel kritisierbar sein, sonst sind sie nicht bibeltreu
Ob diese Formulierungen allezeit angemessen sein werden, bleibt dahingestellt. Sie stehen jedenfalls immer der Hinterfragung durch die Bibel offen, sonst wären sie nicht mehr bibeltreu. Die „bibeltreusten“ menschlichen Formulierungen müssen von der Bibel kritisierbar sein, sonst sind sie nicht bibeltreu.
Ein anderes lehrreiches Beispiel, fand ich bei Klaus Koch. Er erzählt wie vor mehr als 50 Jahren sein Vater als Pfarrer in einen Konflikt mit seinem Kirchgemeinderat in Adelshofen geriet, weil der die Berufung eines ledigen Mannes in den Kirchgemeinderat ablehnte. Man verstand 1Tim 3,2 so, dass ein Ältester in jedem Fall verheiratet sein musste. Dem exegetischen Wissen ihres Pfarrers, der ihnen erklärte, es handele sich um das Verbot, als Ältester wiederverheiratet zu sein, misstrauten sie und hielten sich an das Verständnis, dass ihre Lutherübersetzung von 1912 ihnen nahe legte. Koch will aufgrund dieser und anderer Beispiele, dass man „jenen Arten und Stufen der Bibelrezeption, die religions- und kulturgeschichtlich wirksam geworden sind, eine vergleichbare Bedeutung beilegt wie den Ursprungstexten – sofern es bei der biblischen Traditionsliteratur überhaupt so etwas wie einen fixierbaren Ursprung gibt“.17 Dass dies keine bibeltreue Konsequenz sein kann, dürfte klar sein. Was man aber aus dem Beispiel lernen kann, ist dass die Treue zur Heiligen Schrift im Zweifelsfall das höhere Gut darstellen sollte, das es zu bewahren gilt. Was ich damit sagen will: Ob wir jede Stelle immer richtig verstehen oder verstanden haben, steht dahinter zurück, dass wir dem nach besten Wissen gewonnenen Verständnis entsprechend denken und handeln. Die Konsequenz der Kirchgemeinderäte, die der Bibel treu sein wollten, hätte eben nicht sein können, einer Exegese zu folgen, die für sie nicht überzeugend war. Sie mussten ihrer Erkenntnis treu sein und zugleich bereit, sich von der Bibel selbst eines Besseren belehren zu lassen. Dies ist ein Ausdruck von Bibeltreue, der uns lieb und wichtig sein muss. Immer sollten wir sagen: Davon bin ich aufgrund der Bibel felsenfest überzeugt, aber bitte komm und überzeuge mich mit der Bibel eines Besseren.
Noch ein Blick auf die Frage, mit welchen Argumenten eine Lehre, die biblische Argumente für sich hat, abgelehnt werden könnte. Mit viel Sympathie geht Gerhard Maier auf den „wissenschaftlichen Fundamentalismus“ und die Chicago-Erklärung ein. Schließlich stellt er sich die Frage:
„Wenn also wesentliche Grundzüge des reformatorischen Schriftverständnisses im Fundamentalismus erhalten blieben und wenn Ansprüche, die die Schrift erhebt, hier vielfältig aufgenommen wurden – warum dann nicht ein Anschluss an diese Art von Schriftauslegung?“18
Er nennt vier Gründe, von denen die beiden letzten für das Thema dieses Kapitels interessant sind. Erstens lehnt Maier eine theologische Argumentation aufgrund ihrer Herkunft ab. Zweitens meint er, dass dem Fundamentalismus „ein defensiver Charakter“ anhafte und deswegen eine Verkrampfung. Drittens:
„Der Fundamentalismus ebenso wie die Orthodoxie (trägt) starke deduktive Züge. Gerade weil es ihm um die Verteidigung der Offenbarung Gottes geht, gestaltet er seine Auffassung von der Bibel fast unmerklich von seinem Gottesbild her.“
Dagegen meint Maier, dass „ein induktives Verfahren, eine Hermeneutik der Begegnung, dem Wesen der Offenbarung […] angemessener wäre“. Damit zusammenhängend lehnt er viertens auch die Art der Argumentation im Fundamentalismus ab. Sie sei „logisch-rational statt biblisch-exegetisch“.19
Zahlreiche Lehrentscheidungen gehen darauf zurück, dass Angriffe auf den Glauben abgewehrt wurden
Das zweite Argument konsequent angewandt, würde zur Verwerfung der meisten Bekenntnisschriften führen. Zahlreiche Lehrentscheidungen gehen darauf zurück, dass Angriffe auf den Glauben abgewehrt wurden.
Das dritte Argument lohnt eine genauere Betrachtung, weil daraus gefolgert werden könnte, dass deduktiv gewonnene Lehren zweifelhafter als induktiv gewonnene seien. Wenn damit gesagt werden soll, dass jede Lehre aus der intensiven Beschäftigung mit der Bibel selbst geboren sein sollte, dann liegt das in der Intention dessen, was oben unter 1. gesagt wurde. Nun ist aber die Ableitung (Deduktion) in der Chicago-Erklärung, dass „Gott, der selbst die Wahrheit ist und nur die Wahrheit spricht“ auch sein Wort „ohne Irrtum und Fehler“ gegeben hat, so naheliegend, dass dafür keine weitschweifigen Folgerungen nötig waren. Man muss nur das Gegenteil formulieren, um es zu merken: Der Gott, der selber die Wahrheit ist, habe sein Wort mit Irrtümer in historischer und naturkundlicher Hinsicht, mit gefälschten Verfasserangaben etc. gegeben. Und dann ist die vielleicht deduktiv gewonnene Aussage über die Irrtumslosigkeit der Schrift doch von zahlreichen Selbstaussagen der Heiligen Schrift gestützt. Der von Maier bevorzugte induktive Weg der Begegnung mit der Offenbarung käme demnach zum gleichen Ergebnis.
Das vierte Argument ist vielfach wiederholt worden, zuletzt von H. Hempelmann. Dabei ist aber nicht wirklich klar, wogegen sich der Vorwurf des logisch-rationalen eigentlich richtet. Es kann doch nicht gemeint sein, dass biblisch-exegetisch gewonnene Einsichten nicht in einer logischen Lehre formuliert werden dürften. Dies würde ja eine völlige Abstinenz von jeglicher Lehrbildung bedeuten. Das was uns Gott durch sein Wort zumutet, dass es uns nämlich im Denken, Fühlen und Wollen unseres Herzens herausfordert, gegen uns streitet und auf diesem Wege zurechtbringt, würde verneint. Mit Recht hält H. Stadelmann im Blick auf den Rationalismusvorwurf Hempelmanns fest:
„Denkendes Prüfen und Urteilen wird in der Bibel nicht von vornherein als ein sich sündhaft der Offenbarung überordnender Standpunkt angesehen: ‚Prüfet aber alles, und das Gute behaltet‘ (1Thess 5,21; vgl. Apg 17,11). Entscheidend ist, ob das Ergebnis des im Glaubensgehorsam prüfenden Verstehens offenbarungskonform ist! Und schon gar nicht kann es darum gehen, jede systematisch-theologische Aussage, die das wahrgenommene Selbstzeugnis der Heiligen Schrift lehrmäßig formuliert und vertritt, als ein ‚Urteil‘, das scheinbar unausweichlich einen der Offenbarung übergeordneten Standpunkt einnimmt, unter Rationalismusverdacht zu stellen.“20
Es ist aber nicht möglich, mit immer neuen Ableitungen ein umfassendes in sich völlig schlüssiges System zu erarbeiten
Lehrbildung ist also nicht nur möglich, sondern der Weg der Deduktion von biblischen Aussagen zu einer Lehre kann nicht prinzipiell verschlossen sein. Allerdings ist besonders dort Vorsicht geboten, wo der Weg der Ableitung über viele Stationen geht und am Ende kein Wort der Heiligen Schrift mehr für sich hat. Diese Gefahr hat sich immer dort gezeigt, wo Ausleger versucht haben, mit immer neuen Ableitungen ein umfassendes in sich völlig schlüssiges System zu erarbeiten. Ich meine die Heilige Schrift sperrt sich dagegen. Nicht weil sie widersprüchlich ist, sondern weil sie die Rede des lebendigen Gottes ist, dieser Gott sich aber in keinem menschlichen System fassen lässt.
Man mag den Begriff „Irrtumslosigkeit“ mögen oder nicht. Unbiblisch wird man ihn kaum nennen können, auch wenn er nicht in der Bibel steht. Er ist aber offensichtlich geeignet, lehrmäßige Aussagen über die Heilige Schrift zu machen und das Gemeinte gut zu kommunizieren. Dass er in der Chicago-Erklärung näher qualifiziert wurde, hat er mit anderen Begriffen, die wir im Zusammenhang mit unserem Verständnis von der Bibel benutzen gemein: „Unfehlbarkeit“, „Vertrauenswürdigkeit“, „Verlässlichkeit“, „Zuverlässigkeit“. Die Begriffe geben einen ersten Eindruck des Gemeinten, müssen in einer systematischen Erklärung aber genauer bestimmt werden. Ich mag alle diese Begriffe und wünsche mir viele verschiedene. Sie müssen aber seit der Sprachverwirrung alle näher bestimmt werden. Es ist damit auch keine Abschwächung des Konzeptes „Irrtumslosigkeit“, sondern eine angemessene Qualifikation, wenn die Chicago-Erklärung etwa darauf aufmerksam macht, dass die Bibel in ihrer Zitierweise antiken Gepflogenheiten folgt und nicht modernen. Es ist vielmehr so, dass sich genau an einer solchen Stelle das Konzept bewähren muss und sich damit an der Bibel selbst qualifizieren muss. Erst wenn das nicht mehr möglich wäre, dann muss das Konzept „Irrtumslosigkeit“ verworfen werden, weil es der Bibeltreue widerspräche.21
Es ist aber offensichtlich naheliegend, dass wir von der Bibel erwarten, dass sie uns wahre Aussagen mitteilt. Wäre dies nicht so, gäbe es keine Aufregung über scheinbar Widersprüchliches.
Es ist naheliegend, dass wir von der Bibel erwarten, dass sie uns wahre Aussagen mitteilt – wäre dies nicht so, gäbe es keine Aufregung über scheinbar Widersprüchliches
Es ist offensichtlich etwas anderes, einen Widerspruch zwischen zeitgenössischen Theologen zu entdecken und einen Widerspruch in der Bibel. Dem Leser, der bibeltreu sein will, wird ein offensichtlicher Widerspruch wohl kaum dazu führen zu sagen: „Es ist mir egal, wenn die Bibel Fehler enthält, sie wird mich doch retten.“ Die Bibel rettet nach ihren eigenen Aussagen durch das Vertrauen auf das von Gott verkündigte Evangelium. Dieses Evangelium ist aber keines, dass einem theologischen System entnommen werden kann, sondern es ist das Evangelium der uns vorliegenden Bibel. Aus ihr hören wir es, nicht aus einem bibeltreuen Lehrbuch.22
Ich fasse auch diesen dritten Teil zusammen:
- Theologische Lehrbildung ist der Heiligen Schrift angemessen und dem Menschen aufgegeben.
- Jede Lehre muss, wenn sie biblisch sein will, für eine Hinterfragung durch die Bibel offen bleiben.
- Dass Christen fehlerhafte Lehre formulieren, liegt nicht an der Widersprüchlichkeit der Heiligen Schrift, sondern an falschen menschlichen Grundannahmen.
- Einer als biblisch angesehenen Lehre will der Bibeltreue konsequent folgen und zugleich bereit sein, durch die Bibel eines Besseren belehrt zu werden.
- Eine Lehre, die gute Argumente aus der Bibel für sich hat, darf allein wegen stärkerer Argumente aus der Bibel verworfen werden.
Gerhard Maier weist in seiner „Biblischen Hermeneutik“ m. E. zurecht darauf hin, dass zum Auslegen auch – wie er es nennt – die kommunikative Auslegung gehört. „Der Begriff ‚kommunikative Auslegung‘ […] meint die Umsetzung der bisher gewonnenen Auslegung in die Praxis“. „Im Grund wird diese kommunikative Auslegung schon durch den Begegnungs-Charakter der Offenbarung gefordert“. Wuppertal: Brockhaus, 1990. S.354-355. ↩
Vielleicht sind die z. T. heftigen innerevangelikalen Diskussionen, die vielfach beklagt werden, auch ein Anzeichen dafür, dass wir unsere biblischen Grundlagen in der Mitte der Schrift, bei dem Evangelium von Jesus, wegen Überbeschäftigung mit dem „How to“ vernachlässigt haben. So kann uns die Mitte Christus in unserer Verschiedenheit viel weniger zusammenhalten, einfach weil sie uns aus dem Blick geraten ist. Ich bin der Überzeugung, dass ein Zurück zur Bibel uns nicht auseinander, sondern zueinander bringt. ↩
Man kam mindestens am 1. Tag der Woche zusammen (Apg 20,7; 1Kor 16,2), feierte öfter Abendmahl (Apg 2,42; 20,7; 1Kor 11), betete und sang (Apg 2,42; 1Kor 14,26) und hörte auf die Lehre der Apostel aus ihrem Mund und aus dem Mund anderer Lehrer (Apg 2,42; 20,7; 1Kor 14,26). ↩
Gerhard Maier, „Biblische Hermeneutik“, Wuppertal: Brockhaus, 1990. S. 11. ↩
A.a.O., S. 19. ↩
„Die Auslegung der Heiligen Schrift wird normativ durch die schriftimmanente Interpretation – konkret vor allem durch die Rezeption und Interpretation des Alten Testaments im Neuen Testament – methodisch und sachlich vorgegeben“. Rolf Hille, „Was ist schriftgemäß?“, in: „Dein Wort ist die Wahrheit: FS für Gerhard Maier“, Wuppertal: Brockhaus, 1997. S. 37. ↩
WA 15,36,21ff. ↩
B. Rothen, „Die Klarheit der Schrift: Martin Luther: die wiederentdeckten Grundlagen“, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 1990. S. 96. ↩
Ebd. ↩
Diese Problematik diskutiert auch G. Maier, der auf die Stimmen aufmerksam macht, die sich gegen eine Verabsolutierung historisch-wissenschaftlicher Exegese als dem einzigen Zugang zum rechten Verstehen der Schrift gewandt haben. Es entstünde ein Gelehrtenpapstum gegenüber den sogenannten Laien (a.a.O, S. 54-55). Maier versucht dem dadurch zu entgehen, dass er meint: „Verstehen ereignet sich nach der biblischen Offenbarung auf drei Ebenen: dynamisch, ethisch und kognitiv“. Auf der dynamischen Ebene, wo sich der Mensch unmittelbar angesprochen fühlt und auch auf der ethischen, wo der Mensch als Glaubender ethische Konsequenzen aus der Schrift ziehe, gebe es keine Unterschiede zwischen Laien und Theologen. Nur auf der kognitiven Ebene des Verstehens hätten Theologen mit ihrem Wissen einen anderen Stand. Maier will die Ebenen aber zusammenhalten, indem sie sich gegenseitig ergänzen und keinesfalls Universitätstheologie von einer Gemeindetheologie trennen (S. 60-78). Trotz des guten Anliegens finde ich diese Aufteilung nicht wirklich überzeugend, insbesondere weil ein dynamisches und ethisches Verstehen doch nicht ohne ein kognitives vor sich gehen kann. Dass das kognitive Verstehen dagegen scheinbar ohne Angesprochensein und Konsequenzen im Leben funktioniert, entspricht nicht wirklich der Heiligen Schrift. ↩
Es wäre wünschenswert, dass die Anfragen H. Hempelmanns Konsequenzen haben: „Ich weise nur darauf hin, dass die verschiedenen Arbeitsweisen, also ‚Methoden‘ dazu geführt haben, dass es im Blick auf keine einzige wichtige einleitungswissenschaftliche Frage im Bereich neu- oder alttestamentlicher Wissenschaft einen allgemeinen Konsens gibt. Wie hilfreich, wie vernünftig sind Arbeitsweisen, wenn sie zu solch einem Ergebnischaos führen? Wäre nicht dringend eine Methodenrevision angebracht? Sollte man nicht auf das verzichten, was sich als fruchtlos erwiesen hat?“, „Nicht auf der Schrift, sondern unter ihr“, Liebenzell: Liebenzeller Verl., 2000. S.61. Allerdings scheint sich Hempelmann mit der Aussage zu widersprechen, eine Methodik sei nicht wegen ihrer unangenehmen Ergebnisse abzulehnen (S.45). Konsequent weiter geht E. Schnabel, der von der Inspiration der Bibel her, einzelne exegetische Methoden ablehnt oder ihre Geltung deutlich begrenzt. „Inspiration und Offenbarung“, 2.Aufl. Wuppertal: Brockhaus, 1997. S. 189-191. ↩
Rothen, a.a.O., S. 42-44. Es ist in diesem Zusammenhang eine bedenkliche Beobachtung, dass Leser der Zeitschrift „Aufatmen“ immer wieder feststellen, dass sie mit den Artikeln der Zeitschrift besser aufatmen als mit der Bibel und dass die Artikel den gleichen oder gar einen höheren Rang für ihr geistliches Leben erhalten. Damit verdrängen sie teilweise die Bibel. Ich erschrecke, wie leicht uns die Bibel aus dem Blick gerät und ich frage mich, wie man darauf reagieren soll? (siehe Leserbriefdiskussion 3/96, 1-4/97 und verschiedene Beiträge bis in die jüngeren Ausgaben). ↩
„Anders verhält es sich mit vielen Ergebnissen der ‚historisch-kritischen Forschung‘, durch welche die Schrift zersplittert in zahllose Theologien, Legenden und widersprüchliche Berichte über historische Fakten erscheint. Dadurch muß tatsächlich jede Rede von der Klarheit der Schrift als sinnlos erscheinen“. Rothen, a.a.O., S. 20. ↩
Vgl. I. Howard Marshall, „Is the Principle ‚in accordance with Scripture‘ in accordance with Scripture“, in: „Dein Wort ist die Wahrheit“, a.a.O, S. 86-87. ↩
Dass Martin Luther dies zu einem Prinzip seiner Schriftauslegung machte und sich doch nicht immer selbst daran hielt, darauf macht Albrecht Beutel aufmerksam. Luther: „Du mußt scripturam sacram nicht stückweise ansehen, sed integram“ (WA 47,681,1). Man solle nicht „vil schrifft rips raps zusammenn werffen, es reyme sich oder nit“ (WA 6,301,19-21). „Biblischer Text und theologische Theoriebildung in Luthers Schrift ‚Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei‘ (1523)“, in: „Biblischer Text und theologische Theoriebildung“, hg. St. Capman u.a., Neukirchen: Neukirchener Verl. 2001. S. 77-104. Zitate dort. S. 78. ↩
Rudolf Simek, „Kugel oder Scheibe: das Bibel von der Erde im Mittelalter“, in: Spektrum der Wissenschaft: spezial 2(2002): 23. Weitere Belege ders. „Erde und Kosmos im Mittelalter“, Augsburg: 2000. ↩
Klaus Koch, „Die jüdische und christliche Kanonisierung des Danielbuchs als Rezeption unter verändertem geschichtlichen Horizont“, in: „Biblischer Text und theologische Theoriebildung“, Neukirchen: Neukirchener Verlag 2001. S. 7. ↩
Maier, a.a.O., S. 325. ↩
A.a.O., S. 325-326. ↩
Helge Stadelmann, „Auf festem Fundament: warum das Bekenntnis zur Biblischen Irrtumslosigkeit nicht von schlechten Eltern ist“, in: „Liebe zum Wort: das Bekenntnis zur Biblischen Irrtumslosigkeit als Ausdruck eines bibeltreuen Schriftverständnisses“, hg. ders. Nürnberg: VTR, 2002. S.25-26. ↩
Der Aufsatz von Armin Baum, „Die Hermeneutik der Demut aus bibelwissenschaftlicher Sicht“, abgedruckt in der zuvor genannten Schrift, spiegelt dieses Bemühen im Blick auf die Zuverlässigkeit der Bibel in ihren historischen Aussagen gut wider. ↩
Es wäre sicher interessant zu untersuchen, inwiefern eigentlich das von H. Hempelmann und anderen vorgeschlagene Konzept der „Niedrigkeitsgestalt des Wortes Gottes“ biblisch ist (a.a.O., S. 83.103). Die äußere Anstößigkeit der Bibel, die er in unterschiedlichen Reihenfolgen in den synoptischen Evangelium, in ihrer Geschichtlichkeit, im „Slang“ des Markus, in Handschriftenvarianten usw. sieht, wird in der Bibel selbst nicht diskutiert. Wo die Niedrigkeitsgestalt des Wortes Gottes zum Ausdruck kommt, ist in der inneren Beschaffenheit des Evangeliums. Es erscheint den Griechen vom seinem Inhalt her als eine Dummheit. Und Gott handelt nach den Aussagen des Paulus absichtlich so (1Kor 1,18-31). Die von Hempelmann gemeinte Niedrigkeitsgestalt muss man als theologischen Begriff sicher nicht ablehnen. Zum Verstehen und Auslegen der Heiligen Schrift kann sie aber kaum beitragen, weil sie – soweit ich sehe – nicht der Bibel entstammt, sondern modernen Maßstäben,, die von außen an sie herangetragen wurden. ↩