Als Baruch de Spinoza im 17. Jahrhundert seine bibelkritischen Ansichten äußerte, wurde er aus seiner jüdischen Gemeinde ausgestoßen und auch von fast allen christlichen Zeitgenossen als Ungläubiger und Atheist angesehen. Ein „Straßenräuber und Mörder der gesunden Vernunft und Wissenschaft“ fasste Johann Georg Hamann die Kritik später zusammen. Seine Bücher wurden von Staat und Kirche verboten. Rund 150 Jahre später gab es allewege glühende Verehrer Spinozas und noch einmal 150 Jahre später waren viele seiner bibelkritisch -philosophischen Grundprinzipien Gemeingut geworden.
An welcher Stelle der Auseinandersetzung mit der Bibelkritik steht die Evangelikale Bewegung heute? Noch in der radikalen Ablehnung oder schon in der mehr oder weniger stillen Bewunderung für die wissenschaftliche Gelehrsamkeit in der Bibelkritik? Oder sind einige Ansichten gar schon Gemeingut?
Wenn das Thema „Bibeltreue und ihre Grenzgebiete“ heißt, dann geht es im Folgenden nicht darum, vom Feld der Bibeltreue aus quasi mit dem Fernrohr dahin zu schauen, wo die Bibel in allen Bereichen zerteilt und kritisiert wird; wir wollen vielmehr an den Grenzen der Bibeltreue entlanggehen wie ein Bauer an den Grenzen seines Feldes und sehen, was auf den Nachbarfeldern angebaut wird. Hier und da ist der genaue Grenzverlauf unklar geworden, weil die oberflächlichen Grenzsteine durch das Ackern umgestoßen wurden. Aber wer in ihrer Nähe in die Tiefe gräbt, findet die genauen Markierungen wieder und ist in der Lage, die Grenzlinie zu erkennen. Wie ein Bauer dies nicht unbedingt aus dem Motiv der Feindschaft mit seinem Nachbarn tut, so geht es auch mir um eine liebevolle Grenzziehung ohne hohe Mauern. Grenzen aufzuzeigen ist gewiss keine angenehme und wie es scheint auch keine zeitgemäße Angelegenheit. Da aber die Heilige Schrift selbst genau das tut, darf man sich nicht davor fürchten. Vielleicht geschieht es nur im eigenen Interesse, um sich seines Glaubens gewisser zu werden. Ich hoffe aber, das Unternehmen führt dazu, dass manch einer die Seiten wechselt und fortan auf dem Feld der Bibeltreue seine Frucht erwartet.
Francis Schaeffer hat in seinem letzten Buch 1984 von der Bibeltreue als von einer „Wasserscheide“ unter den Evangelikalen gesprochen. Ausgehend von der natürlichen Wasserscheide eines Bergrückens, die bewirkt, dass ein Teil des Schneefeldes auf der einen Seite des Berges hinabfließt und der andere Teil auf der anderen, sah er, dass auch die Frage der Bibeltreue wesentlich die Richtung der Christenheit bestimmt.
„Der Schnee liegt wie eine geschlossene Decke über dieser Wasserscheide, anscheinend eine Einheit. Aber wenn er schmilzt, liegen die Ziele des Schmelzwassers buchstäblich Tausende von Kilometern voneinander entfernt. Das ist eine Wasserscheide. Das ist es, was eine Wasserscheide ausmacht. Eine Wasserscheide trennt. Man kann eine klare Trennungslinie zwischen dem ziehen, was zunächst ein und dasselbe oder doch zumindestens sehr ähnlich zu sein schien, was aber in Wirklichkeit auf völlig verschiedene Situationen hinausläuft. In einer Wasserscheide liegt eine Grenzlinie.“1
Das Feststellen von Grenzen ist unter denen, die Christen sein wollen, nicht gerade modern. „Einheit – Pflicht, nicht Kür“ überschrieb Aufatmen 1998 ein Interview mit Leitern der evangelikalen Bewegung. Wenn es also ein Schibboleth unter den Evangelikalen zu geben scheint, dann ist es der unbedingte Wille zur Einheit, dem sich fast alle anderen Fragen als „zweitrangig“ beugen müssen.
Wenn es ein Schibboleth unter den Evangelikalen gibt, dann ist es der unbedingte Wille zur Einheit, dem sich fast alle anderen Fragen als „zweitrangig” beugen müssen.
Zugleich haben wir oft erlebt, wie zwischen Christen, die die Ewigkeit miteinander verbringen werden, aus geringen oder nur persönlichen Gründen Mauern gezogen wurden, wie man aufeinander losging und nicht einmal der Respekt gewahrt blieb, den wir jedem Menschen entgegenbringen sollten. Wenn es aber stimmt, was Schaeffer gesehen hat, dann darf der genaue Verlauf der Grenzlinie trotzdem nicht unklar bleiben. Die Wasserscheide muss genau beschrieben werden. Schaeffer:
„Die Wasserscheide der evangelikalen Welt besteht da, wo man von der Bibel überzeugt ist oder nicht. Zunächst muss unsere Betonung darauf liegen, dass wir liebevoll, aber eindeutig sagen: Der Protestantismus ist so lange nicht konsequent evangelikal, bis eine Trennlinie gezogen wird zwischen denen, die die volle Autorität der Bibel anerkennen, und jenen, die dies nicht tun. Oft wird vergessen, dass immer da, wo sich eine Wasserscheide befindet, auch eine Trennlinie beobachtet und genau festgelegt werden kann.“2
Weil es diese Linie gibt, muss sie klar benannt werden. Dabei geht es nicht darum, über den Glauben anderer Christen zu richten. Das Gericht wird Gott selber ausüben. Es geht nicht darum, ein Lager zu bilden, sondern Gott die Ehre zu geben, die ihm zusteht. Bibeltreue ist eine Haltung Gott und Christus gegenüber, die zum Glauben gehört.
Das Entscheidende der Bibeltreue ist also nicht allein, bibeltreue Positionen zu vertreten. Das evangelische Prinzip „sola scriptura“ hat jedoch nur solange eine inhaltliche Bedeutung, wie man an bestimmten Maßstäben für Bibeltreue festhält. Bibeltreue Christen glauben
- an die Einheit der Schrift und ihrer Aussagen, die nur in dem einen Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus begründet ist und
- darum auch an die gegenseitige Ergänzung der Bibelbücher mit ihren verschiedenen menschlichen Schreibern;
- an die gegenseitige Interpretation unterschiedlicher Stellen mit Christus als der Mitte der Schrift;
- an die Klarheit der Schrift und ihrer Aussagen;
- an die Genügsamkeit der Schrift für Glaube und Rettung;
- an die Irrtumslosigkeit der Schrift als Ausdruck der Wahrhaftigkeit Gottes;
- an die Autorität der Schrift als Ausdruck der Autorität Gottes.
Es wird schmerzlich sein, an diesen Punkten eine Grenze zwischen sich und lieben Menschen, die Christus ehren wollen, zu entdecken.
Grenzen lassen sich verwischen oder verschieben, so dass am Ende niemand mehr weiß, wo eigentlich die Trennlinie zwischen dem Feld der Bibeltreue und den anderen Feldern verläuft. Einmal scheint schon jemand, der nur vorwiegend konservative Ansichten vertritt, bibeltreu zu sein und ein anderer scheint nicht mehr bibeltreu zu sein, weil er einer anderen Denomination angehört. Viele sagen: „Dann lasst uns lieber überhaupt keine Trennlinie ziehen, wenn die Gefahr besteht, dass dabei jemand ausgegrenzt wird.“ Das löst aber das Problem nicht, sondern macht es auf Dauer immer größer.
Wir müssen über den Verlauf der Grenzlinie nachdenken – nicht, um Menschen das „Christsein abzusprechen“, sondern um Gott damit zu ehren, dass wir seine Wahrheit bekennen. Das wollen wir in aller Liebe tun, so dass wir möglichst viele Menschen gewinnen, bibeltreu zu werden. Zugleich und zuerst predigen wir auch für uns selbst, denn das Feld der Bibeltreue steht unter besonderem Beschuss durch die listigen Anläufe des Bösen und wer da meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.
An den Grenzen der Bibeltreue werde ich in diesem und weiteren Aufsätzen verschiedene Grenzgebiete ins Blickfeld nehmen. Zuerst geht es um die Frage, ob Bibeltreue und Christustreue eigentlich zwei verschiedene Felder sind. Dann will ich aufzeigen, dass sich eine programmatische Indifferenz in der Bibelfrage nicht mit Bibeltreue vertragen kann.
Bibeltreue und Hardlinertum gehen nicht Hand in Hand.
Genauso wenig gehen aber Bibeltreue und Hardlinertum Hand in Hand. Auch eine konservativ-traditionelle Sicht, die viele Positionen der Bibeltreuen teilt, ist noch keine Bibeltreue. Wer die Bibel benutzt und vielleicht versucht, alles was er tut, aus der Bibel zu begründen, muss damit noch keineswegs bibeltreu sein. Aber genauso wenig verträgt sich Bibeltreue damit, dass evangelikale Christen auf menschliche Autoritäten setzen. Welche Kräfte unsere Erfahrungen ausüben und uns von der Bibeltreue wegziehen können, soll ebenso beleuchtet werden wie die Frage, ob man der Bibel erst dann treu ist, wenn man sie „in die Praxis umgesetzt“ hat. Ein letzter Blick soll darauf geworfen werden, was Bibeltreue für unser Predigen bedeuten muss.
1. Bibeltreue und Christustreue – eine falsche Alternative.
1.1 Bibeltreue ohne Christustreue?
Kann man zugleich bibeltreu sein und Christus die Treue halten? Wenn man einige Aussagen von Kritikern einer bibeltreuen Haltung hört, dann könnte man meinen, es handle sich hier um Gegensätze. Wer der Bibel vertraut, vertraue eben nur einem Buch. Er glaube gar an ein Buch. Wer dagegen auf Christus vertraue, der habe eine persönliche Beziehung zu Jesus. Er glaube an Christus und sei mit ihm verbunden. Obwohl das Christentum mit dem Judentum und dem Islam zu den Buchreligionen zählt, wird eine bibeltreue Haltung von manchen als „Bibeldeismus“ diffamiert. Dazu sei vorläufig soviel gesagt:
Erstens argumentieren unsere Kritiker gegen eine Position, die wir nicht vertreten und – was viel wichtiger ist – die es auf unserer Grundlage gar nicht geben kann. Sie greifen eine Haltung an, die nur mit einer verzerrten Sicht der Bibel entstehen könnte. Es wird nämlich unterstellt, dass es möglich sei, an die Bibel zu glauben, ohne Gott und Christus gehorsam zu sein.
Wer der Bibel glaubt, wird unweigerlich vor Gott und seinen Christus gestellt.
Doch die Heilige Schrift dient gerade dazu, beim Menschen Glauben zu schaffen, Vertrauen auf Gott zu fördern und Liebe von ganzem Herzen, mit allen Kräften und dem ganzen Verstand. Gott hat versprochen, dass es sein Wort ist, das wir in der Bibel aufgeschrieben haben, das sein Ziel erreicht. Wer der Bibel glaubt, wird unweigerlich vor Gott und seinen Christus gestellt.
Erst wenn die Bibel ihrer Autorität als Wort Gottes beraubt wird, könnte eine Position entstehen, die einerseits die Irrtumslosigkeit der Schrift verteidigte und zugleich nicht an Christus glaubte. Dann aber müsste die Irrtumslosigkeit der Schrift anders bewiesen werden als durch den Verweis auf die Wahrheit und Autorität Gottes.
Es ist eine irrige Unterstellung, wenn man uns vorwirft, wir wollten mit Instrumenten, die nicht der Bibel entstammten, ihre Zuverlässigkeit beweisen. Nein, wenn die Bibeltreuen etwa auf archäologische Funde hinweisen, die die historischen Darstellungen der Bibel stützen, oder wenn bibeltreue Wissenschaftler Theorien in Biologie und Geologie entwickeln, die von der Wahrheit des Schöpfungsberichtes ausgehen, dann entsteht das alles auf der Grundlage des Vertrauens auf die Schrift, es begründet dieses Vertrauen aber nicht. Es ist umgekehrt so, dass diejenigen, die die Irrtumslosigkeit der Schrift abstreiten, mit fremden Instrumenten Fehler in der Bibel finden. Die Haltung, die uns vorgeworfen wird, ist also nur auf Grundlagen möglich, die nicht bibeltreu sind.
Zweitens fragen wir immer wieder, an welchen Christus man denn glauben soll, wenn nicht an den Christus der Schrift.
Nicht nur die sogenannte Leben-Jesu-Forschung hat gezeigt, dass man keinen Christus hinter der Schrift oder über die Schrift hinaus finden kann. Dann bliebe nur noch eine „Begegnung mit Christus“, die in mystischen, existentialistischen oder ekstatischen Kategorien bestimmt werden müsste. Oder aber wir sitzen doch im gleichen Boot und glauben alle dem Christus der Heiligen Schrift.
Man kann wohl theoretisch die Irrtumslosigkeit der Schrift bestreiten und dann praktisch doch dem Christus der Schrift glauben, weil der Christus der eigenen Tradition, der Christus der Erfahrung oder der Christus einer menschlichen Autorität, auf die man sich stützt, mit dem Christus der Schrift übereinstimmt. Man verkennt aber, dass dann die Tradition, die Erfahrung oder die menschliche Autorität auf den Schultern der Schrift steht. Indem man aber nun von dem scheinbar sicheren Boden der Erfahrung, der Tradition oder der Autoritäten aus die Heilige Schrift angreift, leugnet und untergräbt man sein wahres Fundament. Das kann einige Zeit gut gehen, – solange nämlich wie man noch dem Christus der Heiligen Schrift glaubt – wird aber aller Erfahrung nach mit bald beginnenden Zerfallserscheinungen kaum länger als eine Generation funktionieren. Am Ende kommt der Absturz.
Es ist gefährlicher Unsinn, wenn wir uns auf andere Fundamente stellen als auf den Grund des Christus der Heiligen Schrift.
Weil der Glaube aber immer auf dem Boden der Heiligen Schrift wachsen soll, wie auch Römer 10,17 verdeutlicht, ist es gefährlicher Unsinn, wenn wir uns auf andere Fundamente stellen als auf den Grund des Christus der Heiligen Schrift. Dann aber ist auch nicht einzusehen, warum irgendwelche Einschränkungen gemacht werden sollten, etwa wenn es um Schöpfung geht – als ob der Schöpfungsbericht nichts mit Christus zu tun hätte. Im Gegenteil sind die Aussagen von 1Mose 1-3 wesentlich für die Erlösung. Außerdem vertrauen wir dem Christus, der keine Abstriche an irgendeiner Aussage des Alten Testamentes machte. Wäre das ein Vertrauen auf Christus, wenn wir schlauer sein wollten als Jesus?
Drittens müsste man fragen, welche Rolle die Bibel für das Vertrauen auf Christus dann haben soll, wenn Vertrauen zur Heiligen Schrift und Vertrauen zu Jesus in einen Widerspruch gerückt werden. Verwechseln wir wirklich äußere Schale und nahrhaften Kern, wenn wir der Bibel so vertrauen, wie sie ist? Wie sollten aber die behaupteten überflüssigen Schalen entfernt werden, um den eigentlichen Kern der Schrift zu gewinnen? Ich meine C.S. Lewis trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt:
„Wir gleichen nicht einem Mann, der Schale und Kern verwechselt, sondern eher dem Menschen der die Nuss ungeknackt in der Hand hält. Wenn sie geknackt ist, wird er wissen, was er wegwerfen soll, bis dahin hält er sich an die ganze Nuss, nicht weil er ein Dummkopf ist, sondern weil er keiner ist.“3
Wenn schließlich immer wieder behauptet wurde, eine Haltung die der Bibel als irrtumsloser Heiliger Schrift vertraut, mache sich die Bibel zum „Papiernen Papst“, dann schneidet diese Aussage letztlich Gott die Ehre ab. Nach evangelischem Verständnis ist die päpstliche Autorität angemaßt. Sie steht keinem Menschen zu, sondern allein Gott selbst. Wenn wir nun die Bibel als einen Ausdruck der Autorität Gottes ansehen, dann machen wir sie nicht zum „Papiernen Papst“, denn ihre Autorität ist keine Anmaßung, sondern von Gott verliehen. Wer der Bibel vertraut, beugt sich unter diese Autorität, die ihr als Gottes Wort und Schrift Gottes mit Recht zukommt.
1.2 Christustreue ohne Bibeltreue?
Es drängt sich an dieser Stelle auch die umgekehrte Frage auf: Kann man eigentlich Christus treu bleiben, wenn man die Bibeltreue verlassen hat?
Kann man eigentlich Christus treu bleiben, wenn man die Bibeltreue verlassen hat?
Diese Frage enthält einige Brisanz. Geht es doch darum, zu klären, ob man nicht mit einer mehr oder weniger kritischen Haltung zur Bibel, die Grundlage seines Glaubens aufgibt, damit vielleicht den Glauben selbst und somit auch die Rettung. Handelt es sich bei den Fragen, die die Bibeltreue betreffen, um einen internen Streit oder geht es schon um einen Streit, mit solchen, die bereits „draußen“ sind, sich also von Christus getrennt haben? Zugleich wird die Antwort auf diese Frage auch den Stellenwert des Streitpunkts „Bibelhaltung“ markieren. Wenn dieser Streitpunkt gar nicht die Mitte, also das Evangelium und Christus, betrifft, dann kann er unter die vielen sogenannten zweitrangigen Fragen eingeordnet werden, bei denen man im Sinne des Allianzgedankens jeden bei seiner Meinung lässt, ja diesen Punkt ausdrücklich beiseite stellt, damit er unter uns Christen nicht trennend wirkt.
Bevor ich auf diese Problematik eingehe, will ich meine Sicht mit einem Bild darlegen: Nur in einem Boot kann ein großes und oft sturmgepeitschtes Meer überquert werden. Es sitzen viele in Booten und lassen sich vom Wind treiben oder rudern über das Meer hin zu ihrem Ziel. Einige im Boot aber behaupten lauthals, man brauche gar kein Boot. Man könne über das Wasser laufen und käme auch so zum Ziel, wahrscheinlich sogar schneller, jedenfalls viel eleganter. Auch schwimmend sei die Überwindung des Meeres kein Problem und man bewiese zudem seine Sportlichkeit. Einige schwingen zur Unterstreichung ihrer Ansicht eine Axt und schlagen hier und da ein paar Späne aus der Bordwand. Andere warnen vor solchem Leichtsinn. Wieder andere sind ausgestiegen, ermutigt durch die großen Reden derer, die behaupten auch ohne Boot käme man ans Ziel. Natürlich geht niemand auf dem Wasser, man muss schwimmen. Und schaut man genau hin, dann sieht man einige im Wasser treiben. Manche halten sich an Bootsplanken fest, die von Booten stammen, die zertrümmert wurden. Aber auch Ertrunkene sind zu entdecken und andere sind nahe daran. Trotzdem ist nur selten jemand bereit, sich wieder ins Boot ziehen zu lassen.
Ich bin der Überzeugung, dass man nur im Boot der Bibeltreue, die an der Zuverlässigkeit und Irrtumslosigkeit der Schrift und an Christus glaubend festhält, über das Meer kommt. Als solcher will ich im Boot sitzen bleiben und die Axtbesitzer vor ihren leichtfertigen Reden und ihrem unvorsichtigen Tun warnen. Sie wissen nicht, was es wirklich bedeutet, wenn sie Teile der Bordwand zerstören, die ihnen überflüssig zu sein scheinen. Sie ermutigen aber durch ihr Gerede andere, die Bibel an die Seite zu stellen und wollen ihre Verantwortung für die Ertrinkenden nicht sehen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass jemand, der sich nur an eine Planke der Bibel klammert, doch die Ewigkeit erreicht. Je nach Wetter und Wellengang mag ihn Gott in seiner Gnade so retten. Das widerlegt aber nicht, dass Bibeltreue und Christustreue zwei Aspekte des gleichen rettenden Glaubens sind. Wer die Bibeltreue tatsächlich aufgibt, der verliert auch Christus und sein Heil. Man kann nicht anders an den wahren Christus glauben, als dass man sich auf die Aussagen der Schrift verlässt und zwar so, dass man davon ausgeht, dass sie ohne Irrtum und Widerspruch sind. Diejenigen, die zum Beispiel die historischen oder naturkundlichen Aussagen der ersten Kapitel der Bibel ausschließen wollen, versuchen damit, eine eigene „irrtumslose“ Bibel zu schaffen, die zwar nicht den gleichen Umfang wie die tatsächliche hat, aber doch wesentlich nichts anderes ist.
Wie verändert sich der Glaube, wenn die Bibeltreue aufgegeben oder so umdefiniert wird, dass sie sich von konservativer Bibelkritik kaum unterscheidet?
Die entscheidende Frage ist also: Wie verändert sich der Glaube im Blick auf die Treue zu Christus, wenn die Bibeltreue aufgegeben oder so umdefiniert wird, dass sie sich von konservativer Bibelkritik kaum unterscheidet?
1.2.1 Glaube, Jesus und das Hören auf Worte
Jesus Christus, der seinen Vater von Ewigkeit her kannte, zeigt sich in seinem Erdenleben als einer, der den Glauben an Gott und den Glauben an die Schrift als Gottes Wort nicht zertrennte. Jesus war also bibeltreu und Gott treu und sah keine Differenz zwischen beiden. Seine Angriffe gegen die Schriftgelehrten richteten sich nicht gegen eine vermeintliche Überbewertung der Heiligen Schrift, sondern gegen ihre falsche Auslegung. Wie Jesus das Verhältnis von Bibeltreue und Gottestreue sieht, wird gut an Johannes 5,31-47 deutlich:
„Und der Vater, der mich gesandt hat, hat von mir Zeugnis gegeben. Ihr habt niemals seine Stimme gehört noch seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht in euch wohnen; denn ihr glaubt dem nicht, den er gesandt hat. Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.“
Dass ein Teil von diesem Text gelegentlich benutzt wird, um uns zu ermutigen, nach der Stimme Gottes jenseits der Heiligen Schrift zu suchen, macht die genauere Betrachtung zusätzlich lohnend.
Jesus spricht im ganzen Zusammenhang davon, dass Gott selber bezeugt, dass er, Jesus, der Messias und Retter ist. Er muss sich deswegen auch nicht auf das Zeugnis von Menschen stützen. Das macht er am Beispiel von Johannes dem Täufer deutlich. Johannes hatte die Wahrheit bezeugt und doch stützt sich Jesus nicht auf diese Worte. Das Zeugnis Gottes besteht nach den Worten Jesu in den Taten, die Gott, der Vater, seinem Sohn Jesus gegeben hat, also in den Taten, die Jesus vor den Augen der Menschen tut.
Jesus setzte seine Taten nicht mit spektakulären Ereignissen gleich, mit denen er sich als beeindruckender Wundertäter ausgewiesen hätte. Gerade das Johannesevangelium macht mit seiner strengen Auswahl von Wundern deutlich, dass es bei den Taten Jesu darum geht, Taten mit Wiedererkennungswert zu sein. Die Taten müssen so beschaffen sein, dass man an ihrer Art erkennen kann, dass sie von Gott stammen. Die Wunder Jesu im Johannesevangelium haben deswegen eine Ähnlichkeit zu den Taten von Mose und Elia, die beide als Gesandte Gottes in der Welt waren. Sie übersteigen aber zugleich die Taten des Mose und Elia. Dass Jesus mit dem Wasserwunder in Kana beginnt, hat seinen Grund darin, dass sich auch Mose vor dem Volk mit einem Wasserwunder ausweisen sollte. Sein Wasser wird auf den Boden gegossen zu Blut und damit ungenießbar. Das Wasser Jesu wird zu Wein und weist damit auf die ewige Freude bei Gott. Der Sohn des königlichen Beamten wird durch ein Fernwunder geheilt, während Elia dem Jungen, den er vom Tod weckte, ganz nahe sein musste. Spätestens bei der Speisung der 5000 ist der Vergleich zu Mose, der angeblich das Brot in der Wüste gegeben hat, deutlich (Joh 6,30-33). Nicht Mose hat das Brot vom Himmel gegeben, sondern der Vater und in gleicher Weise kann auch Jesus Brot geben.
Ohne die Heilige Schrift gab und gibt es keine Möglichkeit, an Jesus zu glauben
Schon hier ist klar, dass es ohne die Heilige Schrift keine Möglichkeit gab, an Jesus zu glauben. Ihm als dem von Gott Gesandten zu glauben, hieß eben nicht irgendwie von Jesus beeindruckt zu sein, sondern ihm als dem Messias zu glauben, von dem Gott durch Mose und die Propheten gesprochen hatte. Ohne Bibel keinen Glauben an Jesus, das galt sogar als Jesus leiblich vor den Menschen stand. Vielmehr noch gilt das für uns! Wir kennen Jesus nicht ohne die Aussagen der ganzen Bibel.
Nun hält Jesus den Schriftgelehrten vor, sie hätten die Stimme Gottes nie gehört und seine Gestalt nicht gesehen. Will er sie etwa auffordern, sich nach Gottes Stimme umzuhören? So wird der Vers gelegentlich gedeutet. Nein, Jesus verweist einerseits auf Mose, der Gottes Stimme gehört hat und dessen Schriften darum eine größere Autorität haben als alle Aussagen und Gedanken der Schriftgelehrten. Zugleich ist Jesus der einzige der sowohl Gottes Stimme gehört als auch Gottes Angesicht gesehen hat. Ob das Wort der Heiligen Schrift in einem Menschen wohnt – ob er mithin bibeltreu ist – zeigt sich nach der Aussage Jesu daran, dass ein Mensch an Jesus glaubt, also Christus treu ist. Es geht gar nicht darum, dass Christus uns zum Lauschen auf die Stimme Gottes oder zur Begegnung von Angesicht zu Angesicht herausfordern will. Darin war nur Christus wirklich zuhause. Es geht darum, dass Bibeltreue zwangsläufig zu Christustreue führen muss.
Jesus meint, die Schriftgelehrten suchten das ewige Leben in der Schrift. War das falsch? Sollten sie woanders suchen? Nein! Ihre Suche hätte sie nur zu Jesus führen müssen. Die Schrift zeigt das ewige Leben dadurch, dass sie als Zeuge für Jesus steht und damit auffordert Jesus zu glauben. Schrifttreue ohne zu Jesus zu kommen und ewiges Leben bei ihm zu finden gibt es also nicht. Zugleich wird an dieser Rede deutlich, dass es ganz falsch ist, den Glauben an die Schrift und den Glauben an Jesus zu einer Alternative zu machen. Nur der Missbrauch der Heiligen Schrift steht im Gegensatz zum Glauben an Jesus. Das wird auch zum Ende des Abschnittes gesagt (Joh 5,46-47):
„Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“
Glaube an die Bibel und Glaube an Jesus gehören untrennbar zusammen. Damit ist auch das Verhalten Jesu verständlich, der seinen eigenen Glauben an den Vater niemals als etwas von der Heiligen Schrift Unabhängiges sah. Jesus befolgte die Gebote seines Vaters und das setzte er mit der Liebe zu seinem Vater gleich (Joh 14,9f.). Das Johannes-Evangelium bezeugt wie stark Jesus, den Glauben an ihn mit dem Halten seiner Gebote verbunden hat. Die Liebe zu ihm ist nicht ein frei schwebendes Sich-zu-Jesus-hingezogen-fühlen, sondern das Halten seiner Gebote. Wer sein Wort hält, bei dem wird der Vater und der Sohn wohnen. Sogar Christus selbst beruft sich auf die Autorität des Vaters in seinen Worten, denen er gehorchen will (Joh 14,21-24).
Wir kennen Jesus nur durch Wörter, Wörter aus dem Mund von Menschen, die aufgrund der Heiligen Schrift reden oder Wörter aus der Heiligen Schrift selber. Damit kann die Bibelhaltung keine zweitrangige Frage sein. Sie ist genauso erstrangig wie das Evangelium selber. Es ist ein Irrweg der modernen Theologie, Christus hinter der Schrift oder über die Heilige Schrift hinaus zu suchen.
Es ist ein Irrweg der modernen Theologie, Christus hinter der Schrift oder über die Heilige Schrift hinaus zu suchen
Evangelikale würden den gleichen Irrweg beschreiten, wenn sie die Bibelhaltung zum untergeordneten Punkt des Glaubens machen wollten. Wer irgendeine Differenz zwischen dem Feld der Bibeltreue und dem der Christustreue sehen will, der stellt sich gegen Jesus und gibt dem Glauben an ihn einen anderen Inhalt als es die Schrift tut, der führt weg vom Vertrauen auf Jesus den Gottessohn, hin zu einem Glauben etwa an Jesus, dem Helfer in allen Lebenslagen oder den beeindruckenden Menschen.
1.2.2 Glaube, Gehorsam und das Beugen unter die Autorität Gottes
Im Jahr 1843 beschäftigte sich der dänische Philosoph Sören Kierkegaard mit einem Pfarrer der dänischen Kirche, der von sich behauptete, er habe eine Offenbarung von Jesus Christus selbst gehabt. Kierkegaard nimmt das nicht zum Anlass, zu bestreiten, dass der Mann eine Offenbarung gehabt haben könnte. Eine Kirche, die selber auf Offenbarungen Gottes gegründet ist, könne das nicht so einfach tun. Sondern er zeigt auf, wie sich ein Mensch verhalten müsste, wenn er wirklich Offenbarungsträger wäre und dass sich dieser Pfarrer demgegenüber wie ein Verwirrter verhält. Den größten Teil dieser Schrift hat Kierkegaard nicht veröffentlicht, einen für uns interessanten Teil aber einige Jahre später unter dem Titel „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel.“
Kierkegaard zeigt darin auf, dass es ganz unsinnig und sogar gotteslästerlich ist, einen Apostel unter ästhetischen Maßstäben, etwa dem der Geistreichheit oder des Genialen zu beurteilen.
Das Entscheidende für die Qualität eines Apostels ist seine Berufung durch Gott, nicht seine Begabung, sein Genie, seine Beredsamkeit
Das Entscheidende für die Qualität eines Apostels ist seine Berufung durch Gott. Nicht seine Begabung, sein Genie, nicht seine Beredsamkeit machen ihn zum Apostel, sondern allein der Auftrag Gottes und die Botschaft, die er zu überbringen hat.
„Ein Apostel ist was er ist, dadurch, dass er göttliche Autorität hat. Die göttliche Autorität ist das qualitativ Entscheidende. Nicht durch ästhetische oder philosophische Würdigung des Inhalts der Lehre soll ich oder kann ich zu dem Resultat kommen: Ergo ist der, welcher diese Lehre vorgetragen hat, durch eine Offenbarung berufen, ergo ist er ein Apostel. Das Verhältnis ist genau umgekehrt: Der durch eine Offenbarung Berufene, dem eine Lehre anvertraut wird, argumentiert daraus, dass es eine Offenbarung ist, daraus, dass er Autorität hat. Ich soll nicht auf Paulus hören, weil er geistreich oder sogar außergewöhnlich geistreich ist, sondern ich soll mich unter Paulus beugen, weil er göttliche Autorität hat … Paulus soll nicht sich und seine Lehre mit Hilfe von schönen Bildern anpreisen, umgekehrt sollte er wohl zu dem Einzelnen sagen: ‚Mag nun das Gleichnis schön oder verschlissen und abgedankt sein, das gilt gleich viel, du sollst bedenken, dass das, was ich sage, mir anvertraut ist durch eine Offenbarung, so dass es Gott selbst ist oder der Herr Jesus Christus, der redet; und du sollst dich nicht vermessen darauf einzugehen, die Form zu kritisieren. Ich kann und darf dich nicht zwingen zu gehorchen, aber ich mache dich durch die Beziehung deines Gewissens zu Gott ewig für dein Verhältnis zu dieser Lehre verantwortlich dadurch, dass ich sie verkündigt habe, als mir geoffenbart und also verkündigt mit göttlicher Autorität.“4
Wir haben uns auch in der evangelikalen Bewegung durch die tiefsinnigen Diskussionen über das Zueinander und Ineinander von Menschenwort und Gotteswort in der Bibel, weithin den Sinn dafür verstellen lassen, dass es wesentlich um die Frage geht, ob die Bibel als Offenbarung nun Gottes Wort ist oder nicht. Wer das grundsätzlich verneint und die Bibel für einen reinen Ausdruck menschlicher Religiosität hält, zu dem rede ich hier nicht. Was ist aber mit denen, die die Bibel als Offenbarung Gottes ansehen und zugleich hergehen und diese Bibel nach außerbiblischen Maßstäben beurteilen, die in ihr Widersprüche ausmachen und Fehler feststellen oder einige Aussagen dem Zeitgeist entsprechend umdeuten?
Die Bibel hat aber ihre Autorität entweder von Gott selbst, weil sie Gottes Offenbarung enthält und ist, oder sie hat gar keine Autorität
Die Bibel hat aber ihre Autorität entweder von Gott selbst, weil sie Gottes Offenbarung enthält und ist, oder sie hat gar keine Autorität. Wenn sie ihre Autorität erst dadurch gewinnen muss, dass sie besonders geistreiche Aussagen über den Glauben macht oder solche die besonders hilfreich sind, irgendeine Form von Glauben zu wecken, dann hat sie keine Autorität. Genialität oder Nützlichkeit sind noch keine Autorität, sondern stehen in ständiger Konkurrenz zu anderen klugen Glaubensaussagen, etwa des Dalei Lama, oder zu nützlichen Formen der Glaubensweckung, vielleicht einem Konzert. Dies mag aus der Sicht des Nichtglaubenden unvermeidlich sein, kann aber unmöglich auch die Sicht des Glaubenden werden.
„Der Apostel sagt also, dass er von Gott ist. Die andern antworten: ja gut, lass uns sehen, ob der Inhalt deiner Lehre göttlich ist, denn dann wollen wir sie annehmen, samt dem, dass sie dir geoffenbart ist. Auf diese Weise werden sowohl Gott wie der Apostel zum Narren gehalten. Des Berufenen göttliche Autorität sollte gerade der feste Schutz sein, der die Lehre sicherte und sie im majestätischen Abstand des Göttlichen von allen Naseweisheiten fernhielte, statt dessen müssen Inhalt und Form der Lehre sich kritisieren und beschnüffeln lassen – damit man auf diesem Wege zu einem Resultate kommen könne, ob es nun eine Offenbarung war oder nicht; und unterdessen müssen vermutlich Gott und der Apostel vor dem Tore warten oder in der Pförtnerwohnung, bis die Sache von den Weisen im ersten Stock entschieden wird. Der Berufene sollte nach Gottes Bestimmung seine göttliche Autorität gebrauchen, um alle Naseweisen davonzujagen, die nicht gehorchen, sondern räsonieren wollen; und statt dessen haben die Menschen in einem Zug den Apostel in einen Examinanden verwandelt, der auch wie auf dem Markt daherkommt, um seine neue Lehre anzupreisen.“5
Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen mit Autorität wenig anfangen können. Dies darf aber nicht dazu führen, dass wir auch die Autorität Gottes und seiner Offenbarung verneinen. Und das geschieht immer dort, wo Gottes Wort nicht als Autorität angenommen und geglaubt wird, sondern sich in kritischer Weise von uns Menschen „beschnüffeln“ lassen muss. Ich meine damit nicht den Frager, der verstehen will, was da von Gott gesagt ist, der gehorchen will und Antworten sucht, sondern jeden Kritiker der Schrift, auch wenn er noch so fromm daher kommt.
Wer einen Fehler oder Widerspruch in Gottes Wort behauptet, greift damit die Autorität der Apostel und Propheten Gottes an und damit die Autorität Gottes selbst. Wenn Glauben nicht mehr das Vertrauen auf Gottes Wort und damit auch das Beugen unter seine Autorität ist, dann ist mit der Bibeltreue auch der Glaube an Christus aufgegeben. Damit ist nicht gesagt, dass der Glaube – wie Kierkegaard es an anderer Stelle tat – mit einem irrationalen existentialistischen Sprung gleichzusetzen ist. Gehorsam ist bei Gott kein unvernünftiger Kadavergehorsam. Vielmehr atmet die ganze Bibel Gottes Liebe zu seinen Menschen, der keine Knechte will, die nicht wissen, was ihr Herr tut, sondern Freunde, denen Jesus alles gesagt hat, was er von seinem Vater wusste (Joh 15,15). Das schneidet aber nichts von seiner Autorität ab, im Gegenteil: Es fordert noch mehr unsere Beugung, weil Gott sich so tief zu uns beugt.
Nun ist es sehr liebenswürdig zu beobachten, wie die gleichen Evangelikalen, die mit der Bibeltreue auch die Autorität der Schrift verloren haben, sie nun auf anderem Wege wiedergewinnen wollen. Kierkegaard hat das in seiner Zeit genauso beobachtet und man könnte denken er hat unsere Verhältnisse vorausgesehen.
Kommt die Autorität und Glaubwürdigkeit der Bibel aber nicht von Gott selbst, dann ist sie auf keinem anderen Weg wiederzugewinnen
Kommt die Autorität und Glaubwürdigkeit der Bibel aber nicht von Gott selbst, dann ist sie auf keinem anderen Weg wiederzugewinnen.
Wir selbst sollten uns allerdings zuerst daran erinnern, dass es nicht unsere geschickten Versuche sind, scheinbare Widersprüche auszuräumen, die der Heiligen Schrift ihre Autorität geben. Wir können die Widerspruchsfreiheit und Irrtumslosigkeit der Schrift nur glauben, so wie wir Christus vertrauen. Wenn wir also versuchten, der Heiligen Schrift Autorität zu verleihen, so verneinten wir sie damit zugleich. Gott bewahre uns davor. Wenn wir ihre Autorität feststellen und bezeugen, dann nicht um sie zu schaffen. Ihre Autorität hat die Heilige Schrift, weil sie Schrift Gottes ist.
Ein solcher Versuch, der Heiligen Schrift wieder Autorität zu verschaffen, ist die Forderung, der Verkündiger müsse der christlichen Lehre dadurch Autorität verleihen, dass er sie vorlebt. Schon Kierkegaard machte deutlich, dass alle Autorität für die christliche Lehre von außen, eben von Gott selber kommen muss.
„Wenn dergestalt ein Lehrer sich begeistert bewusst ist, dass er die Lehre, die er verkündigt, existierend ausdrückt und ausgedrückt hat, mit Aufopferung von allem: So kann dies Bewusstsein ihm wohl Entschlusskraft geben, aber es gibt ihm keine Autorität.“6
Es ist sehr bedenklich, wenn die Christlichkeit der Verkündiger die Kraft sein soll, die Menschen von Christus überzeugt. Das heißt nicht, dass ein Verkündiger nicht ein geheiligtes Leben führen soll. Aber Vollmacht kommt nicht von daher. Wie anders haben die Christen in Thessalonich die Botschaft gehört:
„Darum danke ich Gott auch unaufhörlich dafür, dass ihr die Botschaft, die wir euch brachten, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als Wort Gottes, das sie tatsächlich ist“ (1Thess 2,13).
Heutzutage wird oft auf die positive Wirkung der Bibel verwiesen: Sie ist Menschen ein Trost, wer ihr glaubt wird älter und gesünder, sie enthält viel praktische Lebensweisheit, mit der man sein Leben besser und reicher verleben kann. Da werden erfolgreiche gläubige Menschen zu Unterstützern der Bibel gemacht – und zugleich wird ihre göttliche Autorität damit abgeschwächt.
Wie viele Predigten spiegeln den Versuch wieder, einer Botschaft, deren göttliche Autorität man nicht glaubt, neues Leben einhauchen zu wollen
Wie viele Predigten spiegeln solche Versuche wieder, einer Botschaft, deren göttliche Autorität man nicht glaubt, neues Leben einhauchen zu wollen.
Aber auch wenn die Autorität, die für die Botschaft wesentlich ist, nicht mehr akzentuiert wird, ist dies nicht eine Frage der Strategie, sondern ändert das Verhältnis zu Gott und Christus.
„Fragen, ob ein König ein Genie sei – um in diesem Fall ihm gehorchen zu wollen, ist im Grunde Majestätsbeleidigung; denn diese Frage birgt einen Zweifel hinsichtlich der Unterwerfung unter die Autorität überhaupt. Einer Behörde gehorchen zu wollen, wenn sie Witze machen kann, heißt im Grunde, die Behörde zum Narren zu halten. Seinen Vater ehren, weil er ein ausgezeichneter Kopf ist, ist Mangel an Ehrfurcht.“7
Wenn man der Bibel nicht deswegen glaubt, weil sie Wort des wahrhaftigen Gottes ist, untergräbt man den Glauben. Wer die Bibeltreue aufgibt, untergräbt unweigerlich die Autorität der Bibel und greift damit die Autorität Gottes an. Und jede Aktion, die diese Lücke wieder schließen soll, wird die Autorität Gottes und seine Glaubwürdigkeit weiter in Frage stellen. Ist es wirklich noch der gleiche Glaube, wenn man an Christus glaubt, weil er Trost oder Hilfe gibt, oder weil man sich irgendwie angesprochen fühlt? Trotzdem sei auch hier zugestanden, dass es Christen gibt, die die Autorität Christi angreifen und sich schließlich trotzdem unter sie beugen. Nur sehe ich keine Argumente für eine solche Haltung.
1.2.3 Ehrfurcht, Glaube und die Hoffnung auf das rettende Evangelium
Es wundert mich manchmal, wie leichtfertig an der Botschaft der Bibel herumgedoktert wird. Wer Fehler und Widersprüche in der Bibel findet, ist gezwungen, diese als für die Rettung als unerheblich anzusehen. Und wer die ersten Kapitel der Bibel nicht mehr für eine Darstellung von Gottes Handeln bei der Schöpfung ansieht, den Sündenfall nicht mehr für eine Wiedergabe historischer Ereignisse hält, der kann das alles nur tun, weil er dies nicht für wesentlich für seine Errettung hält. Denn wenn Teile der Bibel widersprüchlich wären, die das persönliche Heil betreffen, dann gäbe es keine Gewissheit der Rettung mehr. Ich vermisse bei vielen die gesunde Furcht, die jeden begleiten müsste, der sich an Lebenswichtigem zu schaffen macht. Die Sorglosigkeit, mit der einzelne Teile der Bibel über Bord gehen, macht mich stutzig. Das ist der Sache nicht angemessen.
Ob das Universum, unsere Erde und alles Leben innerhalb von 6 Tagen durch Gottes aktives Handeln geschaffen wurde oder innerhalb von 6 Milliarden Jahren durch „Zufall und Notwendigkeit“, scheint für die Rettung gleichgültig. Ob unsere Gemeinden von Männern oder von Frauen geleitet werden, soll zweitrangig sein. Ob das Buch Jesaja von Jesaja ben Amoz als Gottes Wort verfasst wurde oder von drei oder mehr Jesajas, sei für die Rettung nicht so wichtig. Woher können wir da so sicher sein? Diese Sicherheit kann nicht aus der Bibel kommen. Aber woher stammt sie dann? Ich befürchte, es ist eine verhängnisvolle Selbstsicherheit.
Viele scheinen das Evangelium nur als eine Art Formel mit sich herumzutragen
Viele scheinen das Evangelium nur als eine Art Formel mit sich herumzutragen. Etwa so: „Ich bin gerettet, weil ich glaube, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes für mich gestorben ist und mir meine Schuld vergibt. Jetzt bin ich Gottes Kind und er steht mir bei.“ Alles was nicht zur Formel gehört, sei dann zweitrangig. In vermeintlicher Sicherheit meint man die Formel gefunden zu haben, die die Rettung sicherstellt.
Aber selbst wenn das Evangelium eine solche Formel wäre, müssten alle „Unbekannten“ dieser Formel bestimmt werden. Wer ist Jesus Christus? Was heißt „gerettet“? Was bedeutet „ich glaube“? Was ist „vergeben“? usw. Diese „Unbekannten“ kann man aber nur in der ganzen Schrift finden. Das Evangelium ist Erkenntnis Christi und nicht eine Formel. Und dazu hat Gott uns die ganze Schrift mit allen ihren Aussagen gegeben. Wie könnten wir einen Teil oder nur einen Satz davon als unnötig ansehen? Wer das tut, macht sich damit – vielleicht sogar gegen seine eigene Absicht – leicht seinen eigenen Christus zurecht. Es ist nämlich etwas völlig anderes, jeden Teil der Bibel von Christus als der Mitte der Schrift her zu sehen.
Es wurde den Fundamentalisten und Bibeltreuen gelegentlich vorgehalten, die Angst vor der Ungewissheit der modernen Zeit würde sie dazu führen, doch wenigstens die Bibel als etwas Gewisses und Irrtumsloses besitzen zu wollen.8 Ich glaube zwar nicht, dass Christen sich die Bibel erst zu einer Gewissheit gemacht haben, genauso wenig wie der Wunsch der Menschen nach einem Gott diesen geschaffen hat. Die Beobachtung unserer Kritiker spiegelt aber doch etwas Wahres wider: In Ehrfurcht vor Gott wollen wir das rettende Evangelium nicht durch Besserwisserei und Leichtsinn auf’s Spiel setzen. Wir wollen uns gern den Fragen stellen, die der vorhandene Bibeltext jedem aufmerksamen Leser aufgibt, aber es gibt bei uns die Furcht vor dem haltlosen Abirren und die Ehrfurcht vor dem Weg, den Gott gezeigt hat. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er bei seinen Zeitgenossen als aufgeklärter Mitmensch anerkannt wird, und nimmt doch Schaden an seiner Seele?
Nach meiner Beobachtung besitzen nicht wenige evangelikale Christen ihren Glauben wirklich als eine Art Formel. Da macht es keinen Unterschied, ob noch etwas Emotionalität hinzugefügt wird oder nicht. Die „Unbekannten“ der Formel sind für viele dieser Christen wirklich weithin unbestimmt. Fragt man sie nach ihrem Glauben, so bekommt man recht wolkige Aussagen, Gefühlsbeschreibungen oder Erlebnisberichte. Halten sie „Bibelarbeiten“, schlagen sie dazu eventuell die Bibel nicht mehr auf. Sie berichten von ihren Erlebnissen. Autorität und Glaubwürdigkeit erlangen sie mit einer gesteigerten Emotionalität, vielleicht mit Tränen. Obwohl sie es wirklich ernst meinen, kennen sie die Grundlagen ihres Glaubens nicht und wissen auch nicht, wo sie zu finden sind.
Am Anfang meines Dienstes dachte ich, manche Christen seien einfach denkfaul oder sogar desinteressiert. Heute bin ich der Überzeugung, dass weithin ihre Lehrer verantwortlich sind. Sie haben nicht die ganze Bibel gelehrt, nicht den ganzen Reichtum des Glaubens, nicht den Christus der ganzen Heiligen Schrift, sondern nur einen verkürzten, formelhaften. Dabei haben sie bei diesen Gläubigen den Eindruck hinterlassen, die Bibel sei sehr schwer zu verstehen, enthalte Widersprüche oder könne eben immer so oder so ausgelegt werden. Wenn ich auf der Grundlage der Schrift klare Aussagen gemacht habe, habe ich oft zwei Arten von Reaktionen erhalten: Die häufigere war Dankbarkeit und Freude. Eine ältere Dame: „Seit vierzig Jahren besuche ich diese Bibelstunde, aber so klar hat uns das noch niemand gesagt“. Die andere Art war Misstrauen: „Ich muss Ihre Aussage schon deswegen in Zweifel ziehen, weil Sie sie so überzeugt und sicher vorgetragen haben.“
Wer die Bibeltreue aufgibt, der wird unweigerlich einen unsicheren und ungewissen Glauben ernten
Wer die Bibeltreue aufgibt, der wird unweigerlich einen unsicheren und ungewissen Glauben ernten. Und wenn er andere lehrt, wird er einen eben solchen unsicheren Glauben pflanzen. Solcher Glaube ist gerade kein Ausdruck von Demut, sondern Folge einer selbstsicheren Grenzziehung innerhalb der Bibel, die das rettende Evangelium auf eine Formel mit vielen Unbekannten reduziert.
Noch einmal: Bibeltreue und Christustreue können keine zwei verschiedenen Felder sein. Recht verstanden ist Bibeltreue zugleich das Vertrauen auf Jesus Christus, den Sohn des lebendigen Gottes. Und Christustreue ist recht verstanden zugleich das Vertrauen auf alle Worte aus dem Munde Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, wie sie in der Heiligen Schrift aufgezeichnet sind. Wer die Bibeltreue aufgibt, stellt sich gegen Christus. Wie will er Christus zugleich treu sein? Es geht dabei nicht um einen einzelnen Ungehorsam, eine einzelne Sünde, sondern um eine Haltung. Nicht wer der Heiligen Schrift an einzelnen Punkten ungehorsam wurde und gesündigt hat, verspielt sein Heil, sondern wer den Ungehorsam quasi zum System erklärt. Wer die Bibeltreue aufgibt, untergräbt die Autorität Gottes und seines Gesandten. Wie will er sich zugleich unter ihn beugen? Wer die Bibeltreue aufgibt, zeigt Selbstsicherheit und Hochmut gegenüber Christus und seinem Evangelium. Wie will er sich zugleich mit ganzem Herzen als einzige Rettung daran klammern? Das Feld der Bibeltreue zu verlassen und auf anderen Feldern zu ackern, ist keine Frage der Strategie, die die höchsten Erträge verspricht, sondern eine Frage von Leben und Tod. Gott möge uns allen gnädig sein.
Weitere Teile von Bibeltreue und ihre Grenzgebiete finden Sie hier: Teil 2, Teil 3.
Francis A. Schaeffer, „Die große Anpassung: der Zeitgeist und die Evangelikalen“, Asslar: Schulte+Gerth, 1988. S. 60. ↩
A.a.O., S. 69. ↩
C. S. Lewis, „Is theology poetry?“, „Screwtape proposes a toast and other pieces“, Collins: 1981 [1944], S. 53. ↩
Sören Kierkegaard, „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“, „Einübung im Christentum und anderes“, hg. u. eingeleitet von W. Rest. Köln, Olten: Hegner: 1951. S. 377. ↩
A.a.O., S. 379. ↩
A.a.O., S. 380. ↩
A.a.O., S. 383. ↩
So kritisiert Christian A. Schwarz in seinem Buch „Die Dritte Reformation: Paradigmenwechsel in der Kirche“, das für den Gemeindeaufbau wirbt, nicht nur die „Sicherheitsmentalität“ des Fundamentalismus (S. 31) er zitiert auch zustimmend A. Jäger, „Mut zur Theologie: eine Einführung“: „Fundamentalismus ist über weite Strecken eine Theologie der Angst“ (S.22). ↩