ThemenIslam und Christentum

Vergesse ich dich, Jerusalem …

Seit Beginn des jüdischen Jahres 5756 im September 1995 bis Ende 1997 feierte Jerusalem seinen 3000. Geburtstag als „Stadt Davids“.

Zur Eröffnungsgala am 4. September 1995 waren die Vertreter der 70 Staaten eingeladen, mit denen der Judenstaat diplomatische Beziehungen unterhält. Bis auf 17 boykottierten die Geladenen die 3000-Jahrfeiern Jerusalems. Die Europäische Union blieb nicht nur den Eröffnungsfeierlichkeiten fern, sondern strich auch finanzielle Zuwendungen für kulturelle Veranstaltungen, die in diesem Jahr im Rahmen von „Jerusalem 3000“ stattfinden sollten.

Damit entsprach die überwältigende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft der Forderung von Scheich Ikrima Sabri, dem Großmufti von Jerusalem und geistlichen Oberhaupt aller in Israel lebenden Moslems, der zu Protesten gegen die israelischen Feiern aufgerufen hatte, die er als „jüngsten Versuch, die Stadt zu judaisieren und die arabische Präsenz [in Jerusalem] auszuwischen“, bezeichnete.1

In den fünftausend Jahren, in denen archäologische Ausgrabungen eine menschliche Besiedlung der heute als „Jeruschalajim“ oder (im Arabischen) „Al Quds“ bekannten Stadt nachzuweisen glauben können, war Jerusalem – abgesehen von den 88 Jahren zwischen 1099 und 1187 n.Chr., in denen die Kreuzfahrer ein christliches „Königreich Jerusalem“ ausgerufen hatten – immer nur Hauptstadt eines israelitischen oder jüdischen Staates.

Erst sechs Jahre nach dem Tode Mohammeds wurde die Stadt im Jahre 638 von den Moslems unter dem Kalifen Omar Ibn al-Khattab erobert. Historisch gesehen hat der Gründer und endgültige Prophet des Islam „die Heilige“ wahrscheinlich nie betreten.

Solange Jerusalem ganz oder teilweise in moslemischer Hand war – nämlich mit einigen Unterbrechungen von 638 bis 1967 – war es kein einziges Mal Hauptstadt eines islamischen Staates oder auch nur einer moslemischen Provinz.

Im Alten Testament kommt der hebräische Begriff „jeruschalajim“ 641-mal und die aramäische Bezeichnung „jeruschalem“ 26-mal vor und bezeichnet ausschließlich den Regierungssitz der israelitischen Könige bzw. später die Hauptstadt des Königreiches Juda. Im Neuen Testament, wo die Stadt 144-mal mit Namen erwähnt wird, wird dieser Befund an keiner Stelle auch nur annähernd widerlegt. Das heißt, dass Jerusalem in der Bibel insgesamt 811-mal namentlich erwähnt wird – nicht gezählt die vielen anderen Bezeichnungen der „Stadt des großen Königs“ (Matthäus 5,35) – und damit einer der zentralen Begriffe der Heiligen Schrift ist. Im Koran dagegen wird Jerusalem kein einziges Mal namentlich erwähnt – und ob mit „Al Quds“ ursprünglich wirklich die heilige Stadt der Bibel gemeint war, ist umstritten.2

Das jüdische Volk betet in Richtung Jerusalem. Schon bei der Einweihung des Tempels in Jerusalem zieht König SaloMose in seinem Gebet die Möglichkeit in Betracht, dass das Volk einmal von Jerusalem und dem Land Israel getrennt werden könnte, und bittet:

„Wenn dein Volk … beten wird zum Herrn nach der Stadt hin, die du erwählt hast, und nach dem Hause hin, das ich deinem Namen gebaut habe, so wollest du ihr Gebet und Flehen hören im Himmel…“3

Der Prophet Daniel setzt für die Gewohnheit, dreimal am Tage mit offenem Fester in Richtung Jerusalem zu beten, sogar sein Leben aufs Spiel (Daniel 6,11). Von dieser Stelle leitet Rabbi Chijja ben Abba mit Berufung auf Rabbi Jochanan ab, dass man „in einem Raum, der keine Fenster hat, nicht beten sollte“ (Berachot 34b).

Mischna und Talmud weisen Jerusalem als den Punkt aus, auf den sich derjenige, der zum Gott Israels betet, konzentrieren soll.4

In der zweiten Sure des Koran5 macht der Prophet Mohammed die Frage der Gebetsrichtung zum Maßstab dafür, „wer dem Gesandten folgt, und wer eine Kehrtwendung vollzieht (d. h. abtrünnig wird)“ (V. 143), denn „jeder hat eine Richtung, auf die er eingestellt ist (je nachdem er Jude, Christ oder Muslim ist)“ (V. 148).

Mohammed weist seine Nachfolger ausdrücklich an, nicht in Richtung Jerusalem zu beten

Ausdrücklich weist Mohammed seine Nachfolger an, nicht wie Juden und Christen (in Richtung Jerusalem) zu beten (V. 145), sondern:

„Wende dich mit dem Gesicht in Richtung der heiligen Kultstätte (in Mekka)! Und wo immer ihr (Gläubigen) seid, da wendet euch mit dem Gesicht in diese Richtung!“6

Seine Anordnung unterstreicht er mit dem Hinweis darauf, dass Gott sehr wohl auf die Gebetsrichtung der Menschen achtet (V. 145+149). Dabei ist sich der „Gesandte Allahs“ darüber im klaren, dass sich Juden und Christen dem moslemischen Gebet in Richtung Mekka unmöglich anschließen können. Seinen eigenen Nachfolgern droht er:

„Solltest du aber nach (all) dem Wissen, das dir (von Allah her) zugekommen ist, ihrer (persönlichen) Neigung folgen, dann gehörst du zu den Frevlern.“7

Warum ist Jerusalem den Moslems so wichtig, dass sogar Teenager dazu bereit sind, sich „um Jerusalems willen“ in die Luft zu sprengen und möglichst viele (jüdische) Zivilisten mit in den Tod zu reißen oder grausam zu verstümmeln? Warum ruft der PLO-Vorsitzende Jassir Arafat immer wieder zum „Dschihad zur Befreiung Jerusalems“ auf und hämmert seinen Mit-Moslems ein: „…Unser Kampf geht in erster Linie um Jerusalem …“?8 Und wie kommt er dazu (im klaren Widerspruch zum Koran und den Aussagen des Propheten Mohammed!) Jerusalem „den heiligsten Schrein des Islam und aller Moslems“ zu nennen und „Al Quds“ als Hauptstadt seines „Palästinenserstaates“ zu fordern?9

Im Grundlagendokument der PLO, der sogenannten „palästinen-sischen National-Charta“, wird Jerusalem kein einziges Mal erwähnt

Am 2. Juni 1964 wurde die „Palestine Liberation Organization“ (PLO) im Hotel Intercontinental auf dem Ölberg in Jerusalem gegründet.10 Damals stand das Herz Jerusalems, die Altstadt mit allen heiligen Stätten, nicht unter israelischer, sondern unter arabischer Herrschaft. Damals dachte niemand daran, Jerusalem als Hauptstadt eines Palästinenserstaates zu fordern. Im Grundlagendokument der PLO, der sogenannten „palästinensischen National-Charta“, wird Jerusalem kein einziges Mal erwähnt.

Erst infolge des „Jerusalem-Gesetzes“ vom 30. Juli 1980, in dem die Knesset „das vereinte Jerusalem in seiner Gesamtheit als Hauptstadt Israels“ bestätigte,11 erklärte Kronprinz Fahd von Saudi Arabien den „Dschihad (Heiligen Krieg) zum Schutz der ‚Heiligen‘ (Al Quds)“.12 In den neunzehn Jahren jordanischer Herrschaft über Jerusalem pilgerte kein einziges Mitglied der saudischen Herrscherfamilie in die Heilige Stadt.

Es soll hier nicht darum gehen, Arabern oder auch Moslems ein „Recht“ zu bestreiten, in Jerusalem anzubeten.

Das Zentralkomitee des Weltkirchenrates betonte 1974 in West-Berlin die Rolle Jerusalems als Heilige Stadt für die drei monotheistischen Weltreligionen, Judentum, Christentum und Islam, und forderte auf seiner 5. Vollversammlung 1975 in Nairobi, dass die Stadt den Anhängern aller drei Religionen offenstehen müsse – eine Forderung, die der Staat Israel schon lange, bevor sie überhaupt gestellt wurde, in der Praxis erfüllt hat.

Der jüdische Prophet Jesaja geht aber über die Forderung des Weltkirchenrates noch weit hinaus, wenn er davon redet, dass Jerusalem „ein Bethaus heißen [wird] für alle Völker“ (Jes 56,7). Und Psalm 102,23 sieht voraus, dass einmal alle Völker, alle Königreiche in Jerusalem zusammenkommen werden, um dem einen, wahren Schöpfergott, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, zu dienen und IHN anzubeten.13 Ein jüdisches Jerusalem steht per (biblischer!) Definition allen Völkern zur Anbetung offen!

Ein jüdisches Jerusalem steht per biblischer Definition allen Völkern zur Anbetung offen

Jahrhundertelang war Jerusalem ein „vergessenes und verlassenes Nest“ irgendwo in der Wildnis des judäischen Berglandes. Niemand kümmerte sich darum. Niemand unternahm Anstrengungen, um den „Nabel der Welt“, die „Stadt der drei monotheistischen Weltreligionen“ zu erhalten, aufzubauen oder auch nur der Außenwelt als Wallfahrtsziel, zum Beispiel durch Verkehrsverbindungen, zugänglich zu machen.

Statt Freude überfiel mich ein unsagbares Gefühl der Vereinsamung

Im Oktober 1846 reiste der Schwabe Conrad Schick von Basel nach Jerusalem, um im Auftrag der Schweizer Chrischona-Mission dort ein »Brüderhaus« einzurichten. Damals gab es weder eine Eisenbahn noch einen einigermaßen befahrbaren Weg hinauf nach Jerusalem und die schwierige und nicht ungefährliche Reise von Ramle in der Küstenebene aus dauerte mehr als zwei Tage.14 Conrad Schick schreibt:

„Einige male ging es über felsige Anhöhen, so dass ich dachte, wie ist es nur möglich, einen solchen Weg zu passieren! Hoffentlich kommen solche Stellen nicht wieder vor! Aber wie erstaunte ich, als wir in das Gebirge gelangten, um den ganzen ferneren Weg so beschaffen zu finden. Ich wusste, dass die Straße gen Zion wüst liegt (Klagelieder 1,4), aber dass dies in einem solchen Grade der Fall sei, hätte ich niemals gedacht, es überstieg geradezu alle meine Begriffe. … meist bildete das trockene Bachbett den Weg. Über Geröll, kleinere und größere Steine, selbst über Felsblöcke mussten wir klettern. Und das war die »Sultaneh,« die »Kaiserliche Heerstraße«!“15

„… immer wenn eine Höhe erstiegen war, zeigte sich sogleich eine andere und die Gegend wurde trauriger und trostloser. Gemäß der Schrift (Sacharja 7,14) hatte ich zwar erwartet, das Land als eine Wüste anzutreffen, aber eine solche Felsenwüste, wie sie mir immer trostloser entgegentrat, je näher wir Jerusalem kamen, überstieg meine Begriffe. Die heilige Stadt innerhalb einer solchen steinigen Öde. Wie konnten da Menschen wohnen?“16

„[Endlich] hieß es: »El Kuds!«, d.h. die Heilige. Ich sah in einiger Entfernung und weiter unten gelegen eine graue Mauer, in einer weißlich aussehenden toten und aller Bäume und anderer Gewächse baren Umgebung. Und das sollte die berühmte Stadt Jerusalem sein! Statt Freude überfiel mich ein unsagbares Gefühl der Vereinsamung. Es war mir, als sei ich nicht bloß am Ende der Welt angekommen, sondern außerhalb derselben, auf dem Felseneiland eines unbewohnten Planeten.“17

Fünfzig Jahre später, im Jahre 1896, als er seine erste Frustration längst überwunden hatte, schrieb der mittlerweile um das Stadtbild Jerusalems hochverdiente königlich-württembergische Hofbaurat Schick:

„Jerusalem liegt in einer Art Wüste, fern von allem Weltverkehr. Es hat weder Bach noch Strom und vor allem kein anderes Wasser als das vom Himmel fallende; es fehlen somit alle Bedingungen zum Gedeihen einer großen Stadt.“18

Während christliche Pilger vom orientalischen Charakter des irdischen Jerusalem, das weder ihren Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit noch ihren Träumen von der himmlischen Gottesstadt entsprach, abgestoßen waren, beteten orthodoxe Juden in der ganzenWelt mindestens dreimal täglich nach jeder Mahlzeit:

„Erbarme dich, Ewiger, unser Gott, über dein Volk Israel, über deine Stadt Jeruschalaim, über Zion, die Stätte deiner Herrlichkeit, über das Reich des Hauses Davids, deines Gesalbten, und über das große und heilige Haus, über dem dein Name genannt wird … zeige uns, Ewiger, unser Gott, die Tröstung deiner Stadt Zion und die Erbauung Jeruschalaims, deiner heiligen Stadt … Und baue Jeruschalaim, die heilige Stadt, schnell in unseren Tagen. Gelobt seist du, Ewiger, der du in deinem Erbarmen Jeruschalaim erbaust. Amen.“

Der ganze Tagesablauf, wie auch der Jahreszyklus und die Feste bibel- und traditionsgläubiger Juden, waren und sind geprägt von dem Bewusstsein, das im Psalm 137 zum Ausdruck kommt:

In Babel stehen dem Menschen alle Möglichkeiten offen

An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. (V. 1) In Babel stehen dem Menschen alle Möglichkeiten offen. Wie in Ägypten kann er den Boden bearbeiten, „seinen Samen säen und selbst tränken wie in einem Garten“ (5Mose 11,10). Wenn die Menschen ihre Kräfte nicht durch Uneinigkeit aufreiben oder aufgrund ihrer Faulheit brachliegen lassen, ist Babylon das Land, in dem Erfolg garantiert ist. Die regelmäßige Wasserversorgung durch die Ströme Euphrat und Tigris sind – neben dem schon in 1Mose 11,3 erwähnten Erdharz – bis heute die Grundlage für den Reichtum des Zweistromlandes. So ist „Babel“ der biblische Inbegriff für Macht, Reichtum, Herrlichkeit, Üppigkeit, Schönheit, Weisheit und Kunst.19 Babylon wohnt „an großen Wassern“ und hat [deshalb] „große Schätze“.20

Das in der Bibel beschriebene Babel ist Inbegriff von Kultur und Zivilisation,21 die „Zarte und Verwöhnte“ (Jes 47,1), in der sich der Mensch „einen Namen machen“,22 das heißt, sich selbst, der Welt und Gott beweisen kann, was er aus eigener Kraft zu schaffen in der Lage ist. Angesichts der Errungenschaften des „schönsten unter den Königreichen“ (Jes 13,19) muss selbst der lebendige Schöpfergott zugeben: „… nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun“ (1Mose 11,6). Babylon ist nach Aussage der Heiligen Schrift – im wahrsten Sinne des Wortes – das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ und steht in einem unübersehbaren Kontrast zu „Zion“, dem Lande Israel und der Stadt Jerusalem.

Mose machte die Israeliten schon in der Wüste, jenseits des Jordan im Lande Moab, in seiner Abschiedsrede darauf aufmerksam, dass das „gelobte Land“, im Gegensatz zu Ägypten (und auch zu Babylon), bergig ist und nur vom Regen und Tau des Himmels getränkt wird (5Mose 11,10ff.). Im Lande Israel kann der Mensch seinen ganzen Fleiß, all sein Wissen und Können in den Erdboden stecken – und bleibt am Ende doch auf den Segen Gottes in Form des Regens angewiesen. In Israel kann der Mensch aus eigener Kraft nichts zustande bringen, weil es ein Land ist, „auf das der Herr, dein Gott, achthat und die Augen des Herrn, deines Gottes, immerdar sehen vom Anfang des Jahres bis an sein Ende“ (5Mose 11,12). In Israel kann man am Zustand des Landes und am Erfolg seiner Menschen – nicht wie in Babylon oder Ägypten auf den Fleiß oder das Können der Arbeiter rückschließen – sondern einzig auf die Zuwendung Gottes.

Und zu der Zeit, als die Israeliten „an den Wassern von Babel saßen“, war Zion auch noch „wie ein Acker gepflügt“, Jerusalem „zum Steinhaufen“ und „der Berg des Tempels zu einer Höhe wilden Gestrüpps“ geworden (Jer 26,18). Von der Herrlichkeit der Gottesstadt war nichts übriggeblieben. Die schlimmsten Erwartungen der Propheten waren schreckliche Wirklichkeit geworden.

„Juda liegt jämmerlich da, seine Städte sind verschmachtet. Sie sitzen trauernd auf der Erde, und in Jerusalem ist [nichts als] lautes Klagen“ (Jer 14,2). Die Leute lagen auf den Gassen Jerusalems, vom Schwert und Hunger hingestreckt und niemand konnte sie begraben, sie und ihre Frauen, Söhne und Töchter …“ (Jer 14,16).

Nur Verrückte weinen, wenn sie, auch noch an den „Wassern von Babel“ sitzend, an Zion denken! – Oder sind es diejenigen, die einen geistlichen Durchblick besitzen? Die wissen, was auch noch das zerstörte Zion in den Augen Gottes darstellt? Welche Pläne und Absichten der lebendige Gott mit diesem „vergessenen und von aller Welt verlassenen judäischen Bergnest“ hat?

Wenn Gott etwas Entscheidendes tut, dann tut er das mit seiner Rechten

Die geistlichen Leiter des jüdischen Volkes waren sich dessen bewusst, wie leicht man „Zion“ vergisst, besonders „an den Wassern von Babylon“ und unternahmen alles, um die Erinnerung an Jerusalem und das Land Israel im jüdischen Volk wachzuhalten. Deshalb darf eine traditionsbewusste jüdische Frau niemals all ihren Schmuck zur gleichen Zeit tragen. Deshalb sollte auch das schönste Haus an irgendeiner Stelle, am besten in der Nähe des Eingangs, unvollkommen gelassen werden, zum Beispiel durch das Fehlen eines Stückes Verputz. Deshalb sollen auch beim rauschendsten Festbankett bewusst ein oder zwei Speisen ausgelassen werden – um auszuschließen, dass irdische Vollkommenheiten und Schönheiten darüber hinwegtäuschen, dass erst im auferbauten Zion vollkommene Freude möglich ist.23

Die Rabbinen wussten, dass Jerusalem nichts menschlich Attraktives, weder „die Früchte des Sees Genezareth“, noch „die Termalquellen von Tiberias“, zu bieten hat (Pessachim 8b). Nur den vom Geist Gottes geeichten Augen und dem von der Liebe Gottes getränkten Herzen ist die in den talmudischen Schriften24 so hoch gepriesene Schönheit Jerusalems sichtbar. Deshalb hängten die Juden ganz bewusst „ihre Harfen an die Weiden dort im Lande“ (V. 2) – und bis zum heutigen Tage ist aus diesem Grunde in orthodoxen Synagogen keine Instrumentalmusik zu hören! – Denn die uns gefangen hielten, hießen uns dort singen und in unserm Heulen fröhlich sein: „Singet uns ein Lied von Zion!“ (V. 3)

Die Babylonier, die die Israeliten gefangenhielten, dienten zwar selbst nicht dem Gott Israels, aber sie gehörten auch nicht zu denen, die anderen – nicht einmal Besiegten – ihre eigene Kultur und ihre eigenen Glaubensüberzeugungen aufzuzwingen suchten. Vielmehr forderten sie die jüdischen Exulanten auf, ihre eigene Kultur und Religion mitzubringen und weiterzuentwickeln: „Bringt das, was euch euer Gott anvertraut hat, mit ein in unsere Kultur! Macht uns bekannt mit dem, was euer Leben und eure Vorstellungen prägt! Singet uns ein Lied von Zion!“ – Und immerhin ist die bis heute grundlegende Traditionssammlung des Judentums, der babylonische Talmud, im „Land der Chaldäer“ entstanden.

Toleranz ist die alles tragende Religion „Babylons“

Babel ist nicht nur das Land der unbegrenzten Möglichkeiten im materiellen Bereich, sondern auch ein Markt der religiösen Möglichkeiten. In Babel ist alles erlaubt, wird alles toleriert. Niemand muss seinen Gott, seinen Glauben, seine Erfahrungen, Wünsche oder Vorstellungen zugunsten einer einheitlich vorgeschriebenen Staatsreligion zurückstellen. Toleranz ist die alles tragende Religion Babylons. – Und spätestens hier wird deutlich, dass es nur die wirklich „Verrückten“, die „starrsinnigen Fundamentalisten“ sind, die nicht anders können, als die Bibel wortwörtlich zu nehmen und dieser so wohlmeinenden Aufforderung zu entgegnen:

Wie könnten wir des Herrn Lied singen in fremdem Lande? (V. 4) Wären die Gefangenen damals in Babylon „rechte Christen“ – und nicht „jüdische Starrköpfe“ – gewesen, hätten sie dieses Angebot schleunigst beim Schopf ergriffen. Ihre Erinnerungen an Jerusalem wären zum „Prinzip Zion“ vergeistlicht, ihre Sehnsucht existentiell uminterpretiert und damit politisch korrekt in die rechten Bahnen geleitet worden. Nur noch im stillen Kämmerlein hätten sie die „Herzenstüren“ in Richtung (des theologischen Konzeptes) „Zion“ geöffnet …

Doch die Sänger des Psalms 137 hatten auch an den „Wassern von Babylon“ nicht vergessen, dass Freude nur vollkommen sein kann, wenn Jerusalem auferbaut, das Volk Israel mit dem Land Israel vereint ist und Zion, das heißt die Stadt Jerusalem im Lande Judäa, seinem von Gott bestimmten Zweck dient. Sie wussten:

Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. (V. 5) Wenn Gott etwas (Heils-) Entscheidendes tut, dann sieht der biblische Sprachgebrauch ihn das mit „seiner Rechten“ tun.25 Mit „seiner Rechten“ hat der Schöpfer „den Himmel ausgespannt“ (Jes 48,13) und Israel aus Ägypten erlöst (2Mose 15,6.12). Die „Rechte“ des Herrn ist aus Moses Sicht der Ursprung der Tora (5Mose 33,2), und nicht ihre militärische Macht oder taktische Schläue haben den Israeliten zu ihrem Land verholfen, „sondern deine Rechte, dein Arm und das Licht deines Angesichts“ hat Zion erworben.26

Der gläubige Israelit weiß, wenn sein Gott hilft, errettet oder erlöst, das heißt, „Heil schafft“, dann tut er das mit seiner „rechten Hand“.27 Er weiß um die Zusage seines Gottes, „ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit“28 und antwortet ihm darauf:

„Meine Seele hängt an dir; deine rechte Hand hält mich.“ (Psalm 63,9)

Gottes „rechte Hand“ pflanzt, erfreut, stärkt, herrscht und richtet „voll Gerechtigkeit“.29 Und wenn der Gott Israels sich gegen sein Volk wendet, dann hat er „seine rechte Hand zurückgezogen“ oder „seine rechte Hand … geführt wie ein Widersacher“ (Klagelieder 2,3f.).

Dieser alttestamentlich-jüdische Sprachgebrauch zieht sich bis ins Neue Testament hinein, wenn die Apostel vom Messias Jesus sagen, dass „Gott [ihn] durch seine rechte Hand erhöht [hat] zum Fürsten und Heiland, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben“.30

Deshalb schwört der lebendige Gott „bei seiner Rechten“, ja, „die rechte Hand“ Gottes steht für IHN selbst.31 Deshalb singt man „mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten“: „Die Rechte des Herrn behält den Sieg! Die Rechte des Herrn ist erhöht; die Rechte des Herrn behält den Sieg!“ (Psalm 118,15-16)

Was die Heilige Schrift über die Bedeutung der „rechten Hand“ Gottes für das Handeln Gottes aussagt, das gilt auch für die „rechte Hand“ eines Menschen. Wenn ein Mensch erfolgreich sein will, dann muss er sein Werk mit seiner „rechten Hand“ auf rechte Weise vollbringen. Und wenn ein Mensch erfolgreich war, dann hat er das mit seiner „rechten Hand“ geschafft.32 Die „rechte Hand“ von Menschen spielt in der Bibel eine entscheidende Rolle beim Segnen, beim Unterscheiden, bei der Reinigung und beim Gutes Tun. Deshalb ist auch entscheidend, dass „der Herr… dein Schatten über deiner rechten Hand“ ist (Psalm 121,5).33

Als ich über die Bedeutung der „rechten Hand“ in Psalm 137 mit einem Rabbiner sprach, sagte er mir am Ende unseres Gesprächs noch: „Und vergiss nicht, Jochanan, dass ‚jemini‘ (meine Rechte) mit ‚leha’amin‘ zusammenhängt!“ – Das hebräische Verb „leha’amin“ bedeutet „vertrauen, treu sein, jemandem etwas zutrauen, glauben“ und bezeichnet die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die Rabbinen sehen von der Wortwurzel her einen Zusammenhang zwischen „leha’amin“ und „jemini“, und von daher erstaunt es wenig, wenn der biblische Sprachgebrauch an manchen Stellen die „rechte Hand“ eines Menschen als das Organ bezeichnet, durch das Gott mit einem Menschen Verbindung aufnimmt und kommuniziert.34

Wenn mit dem „Vergessen Jerusalems“ die „rechte Hand“ (so wörtlich) [ihre Funktion] „vergisst“, das heißt, wie ein welkendes Blatt verdorrt und schließlich abfällt, dann wird einem Menschen damit jede Möglichkeit genommen, in den Augen der Menschen, aber auch in den Augen Gottes, etwas zu schaffen, das als „Erfolg“ oder gar „Frucht“ bezeichnet werden könnte.

JA ABER, wird jetzt so mancher Bibelleser einwenden, kann man das denn so absolut sagen, dass einem, der Jerusalem vergisst, jede Möglichkeit genommen wird, erfolgreich zu sein? Und hat Gott nach den ersten Aussagen der Heiligen Schrift nicht durch sein Wort geschaffen? – JA, das stimmt! Und deshalb vergessen die „Zionisten“ an den „Wassern von Babylon“ auch nicht hinzuzufügen:

Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein. (V. 6) Nach dem hebräischen Urtext soll Jerusalem nicht etwa nur die „höchste Freude“, oder – um im biblischen Sprachgebrauch zu bleiben – der „Kopf meiner Freude“ sein, sondern: Jegliche Möglichkeit, etwas zu schaffen, sei es durch das „Wort“ oder die „rechte Hand“, soll mir genommen sein, wenn ich Jerusalem nicht erhebe „über das Haupt meiner Freude“ hinaus, das heißt, wenn Jerusalem nicht alle nur denkbaren irdischen und geistlichen (!) Freuden übersteigt.


  1. Michael S.Serrill, „Fireworks over a Birthday Bash“, TIME (September 18, 1995): S. 36-37. 

  2. Wer mir diese Aussagen nicht abnehmen will, kann sie im deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, Ausgabe vom 12.6.95 – dem man eine Voreingenommenheit für Israel wahrhaftig nicht vorwerfen kann – nachlesen. 

  3. 1Kön 8,44-50; 2Chr 6,34-39. 

  4. Mischna in Berachot 28b; Berachot 30a. 

  5. Alle Koran-Zitate sind der Ausgabe von Rudi Paret, Der Koran (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Verlag W. Kohlhammer, 3. Aufl. 1983) entnommen. 

  6. Sure 2,144; ebenso V. 149. 

  7. Sure 2,145. 

  8. So z. B. in einer Rede in einer Moschee in Johannesburg/Südafrika am 10. Mai 1994, die mir als Tonbandaufzeichnung im Original vorliegt. 

  9. Jerusalem Post LXII Nr.18665 (May 18, 1994): 1. Diese Frage wird dadurch noch unterstrichen, dass Jassir Arafat am 18.Mai 1994, nach Bekanntwerden seiner Rede in Johannesburg, den „Friedenspartner“ Israel mit dem Hinweis zu beruhigen sucht, er habe die Moslems nur „im religiösen Sinne“ zum Heiligen Krieg um Jerusalem aufgerufen. (Jerusalem Post LXII Nr.18666 (May 19, 1994), S. 1.). 

  10. Der Islam und die Krise des Nahen Ostens, Informationen zur politischen Bildung 194 (1982), 6. TIME 37 (13. September 1993), S. 28. 

  11. Der Staat Israel. Informationen zur politischen Bildung 141. Neudruck 1986, 63. 

  12. Eliyahu Tal, Whose Jerusalem? (Jerusalem: International Forum For A United Jerusalem, 1994), S. 278. 

  13. Vergleiche dazu auch Jesaja 2,1-3; 66,20; Micha 4,1-2; Sacharja 8,20-23;14,16-17. 

  14. Vergleiche Tal, Whose Jerusalem?, S. 273. August Strobel, Conrad Schick. Ein Leben für Jerusalem. Zeugnisse über einen erkannten Auftrag. (Fürth/Bayern: Flacius-Verlag, 1988), S. 16, 37, 39, 49. 

  15. Strobel, S. 40. 

  16. Ebd., S. 42-44. 

  17. Ebd., S. 44. 

  18. Ebd., S. 70. 

  19. Vergleiche dazu 1Mose 10,8-12; 11,1.4.6; Jes 47,10; Jer 23,14; 50,35-37; 51,30.57; Hes 23,23; Dan 2,12.14.18.24; 4,3; 5,7; Offb 18,3.7.10-19. 

  20. Jer 51,13; Offb 17,1.15. 

  21. 1Mose 10,8-12; 11,8; Offb 18,22. 

  22. 1Mose 11,4; vergleiche Jer 51,58. 

  23. Vergleiche dazu z.B. Baba Bathra 60b. 

  24. Vergleiche z. B. Kidduschin 49b; Sukkot 51b. 

  25. Psalm 45,5; 74,11; 89,14. 

  26. Psalm 44,4; 78,54. 

  27. Psalm 20,7; 60,7; 98,1; 108,7; 138,7. 

  28. Jesaja 41,10; vergleiche auch Psalm 139,9-10. 

  29. Psalm 80,16; 16,11; 18,36; 89,26; Habakuk 2,16; Psalm 21,9; 48,11. 

  30. Apostelgeschichte 5,31; vergleiche auch Apostelgeschichte 2,33. 

  31. Jesaja 62,8; Psalm 17,7; 77,11; Vergleiche auch die Erwähnung der „rechten Hand“ des erhöhten Christus in Offb 1,16.17.20; 2,1; 5,1.7. 

  32. Vergleiche dazu Richter 5,26; Hiob 40,14; Psalm 26,10; 89,43; 144,8.11; Sprüche 3,16; 27,16; Prediger 10,2; Jesaja 44,20; Hesekiel 39,3. 

  33. 1Mose 48,13-14.17-18; 3Mose 14,14-17.25-27; Hoheslied 2,6; 8,3; Hesekiel 21,27; Vergleiche auch die Erwähnung der „rechten Hand“ von Menschen im NT: Matthäus 5,29.30.39; 6,3; Lukas 6,6; Galater 2,9; Offb 13,16-17. 

  34. Vergleiche Jesaja 41,13; 45,1; Psalm 73,23 und auch Apostelgeschichte 3,7, wo einem Gelähmten das ihm von Gott zugedachte Heil auf dem Weg über „die rechte Hand“ zuteil wird.