Lesen Sie auch Teil 1 und Teil 3 dieser Vortragsserie.
1. Die Forderungen nach christlichem Engagement in der Gesellschaft
Verantwortungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind sich einig in der Notwendigkeit eines eindeutigen christlichen Engagements. Dabei wird besonders auf die Orientierungs- und Wertkrise unserer modernen Gesellschaft hingewiesen, in der die christlichen Grundwerte verstärkt gefragt sind. Außerdem wird die Einstellung und das Verhalten der Christen als durchaus staatsstabilisierend geschätzt:
„… auch wer die Glaubenslehre der christlichen Kirche nicht teilt, wird ihre herausragende Rolle in einer politischen Ordnung, die auf dem Fundament allgemeinverbindlicher Grundwerte ruht, anerkennen müssen … Es ist die Aufgabe der Kirchen, in einer säkularisierten Welt die Frage nach einer den Staat und die Gesellschaft übersteigenden Wirklichkeit, nach der letzten Sinngebung menschlicher Existenz zu stellen. Auf diese Weise erinnert sie stets auch daran, dass irdischer Macht Grenzen gesetzt sind, die niemand überschreiten darf. Es gibt grundlegende sittliche Gebote, die auch die staatlichen Institutionen verpflichten. Es ist nicht etwa nur das Recht, sondern es ist die Pflicht der Kirchen, darauf immer wieder hinzuweisen.“1
Sogar der kirchenkritische Abgeordnete der Grünen im Bundestag, Joschka Fischer schreibt:
„Eine Ethik, die sich nicht auf die tiefer reichende, normative Kraft einer verbindlichen Religion … stützen kann, wird es schwer haben, sich in der Gesellschaft durchzusetzen und von Dauer zu sein … Das offene Glaubensproblem der Moderne wird sich nicht durch eine handlungsorientierte Verantwortungsethik auflösen lassen … denn ihre gesellschaftliche Wirkung könnte sie erst auf dem Hintergrund neuer und akzeptierter religiöser Tabus und davon abgeleiteter Normierungen entfalten. Eine Verantwortungsethik ohne religiöse Fundierung scheint … in der Moderne einfach nicht zu funktionieren.“2
Einhellig werden aber von den selben Vertretern der Gesellschaft alle konkreten Forderungen, die sich auf den christlichen Glauben berufen als unzulässige Grenzüberschreitung zurückgewiesen. So „muss freilich auch darauf hingewiesen werden, dass Staat und Gesellschaft nicht in der Lage sind, „Ethos – pur“ zu verwirklichen. Politik ist immer nur die Kunst des Möglichen. Anders als die Kirche, die sich auf „letzte Wahrheiten“ berufen kann, lebt sie vom Ethos des Kompromisses.“3
Auch wichtige Kirchenvertreter befürworten einen christlichen Beitrag in der Gesellschaft.
„Die Kirche darf jedoch die Frage nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn der Welt und des Kosmos nicht preisgeben. Gegenüber dem Funktionieren der einzelnen Regelsysteme, z. B. Wirtschaft und Politik, erscheint sie deshalb immer wieder als ein notorischer Störfaktor.“4
Zu allen Zeiten gab es zahlreiche Beispiele für ein gesellschaftliches Engagement bekennender Christen in der Gesellschaft
Selbst die eher durch die täuferisch pietistische Zurückhaltung, öffentlichen Angelegenheiten gegenüber, geprägten Evangelikalen scheinen sich zunehmend ihres gesellschaftlichen Auftrags bewusst zu werden. Dazu haben einzelne engagierte Christen, Tagungen und Konferenzen, wie Lausanne I. (1974), beigetragen.
Wie zu allen Zeiten gibt es darüberhinaus auch in diesem Jahrhundert zahlreiche Beispiele für ein gesellschaftliches Engagement bekennender Christen in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sind Politiker wie Christoph Blumhardt (Würtemberg), Abraham Kuyper (Niederlande), Jimmy Carter (USA), Johannes Rau (Nordrhein Westfalen), Horst Waffenschmidt (Deutschland), Ernst Sieber (Schweiz), Unternehmer wie Hans Gerhard Frick, Heinz- Horst Deichmann oder Jörg Knoblauch, Künstler wie Amy Grant, Cliff Richard oder John Grisham, sowie unzählige weniger bekannte Christen in wichtigen öffentlichen Positionen zu nennen, ganz zu schweigen von den zahlreichen Kirchenmitgliedern und Pfarrern im Bundestag und in Landtagen sowie anderen gesellschaftlich wichtigen Stellungen.
2. Die Beziehung der Christen zur Gesellschaft in der Vergangenheit
Die Christen im Römischen Reich
Die Christen der ersten drei Jahrhunderte sahen sich einem glaubensfeindlichen Staat gegenüber. In der Erwartung der unmittelbaren Wiederkunft Jesu und des anbrechenden Reiches Gottes konzentrierten sich die gesellschaftlichen Aktivitäten und Forderungen der Christen in dem durch die ethischen Prämissen Jesu geprägten Alltagsleben und der ungehinderten Verkündigung des Evangeliums. So beteten die Christen für den römischen Staat, der ein solches Leben gewährleisten sollte und beklagten in Verteidigungsschriften die Ungerechtigkeit des Staates. Darüber hinaus gab es selbst bei den bekannten Christen in hoher politischer oder gesellschaftlicher Stellung keine genuin christliche Politik.5
Augustinus
„Die Guten gebrauchen die Welt, um Gott zu genießen; die Bösen hingegen wollen Gott gebrauchen, um die Welt zu genießen.“6
Nach Augustinus stehen sich in dieser Welt zwei Staaten dualistisch gegenüber: 1. der Weltstaat der Gottesverachter, der sich nach dem Genuss des Vergänglichen ausrichtet und 2. der Gottesstaat der Gottesverehrer, der sich nach ewigen Werten Gottes richtet. Der reale irdische Staat ordnet nicht das Veränderliche dem Unveränderlichen unter und bezieht weder alles auf Gott, noch lehnt er den Genuss zeitlicher Güter ab. Er ist ein Gemisch aus beiden Staaten und soll seine von Gott gegebenen Aufgaben ausfüllen, indem er die ewigen Gesetze Gottes in zeitliche Gesetze des Staates überführt, den inneren Frieden sichert, sich um materiellen Wohlstand kümmert und den Christen Freiheit zur Verkündigung des Evangeliums gewährt. Der einzelne Christ solle sich laut Augustinus aber eher einem praktischen Beruf als der Politik widmen.7
Die mittelalterlichen germanischen Kirchen
Überregionale Herrscher verstan-den sich als von Gott eingesetzte Schutzherren der Kirche
Ausgehend von der starken religiösen Rolle des germanischen Herrschers in vorchristlicher Zeit wurde auch die christliche Gemeinde unter die Oberhoheit des Regenten gestellt. Während der ersten Zeit waren die Priester dem Heer angegliedert und nicht selten entschied der Ausgang einer Schlacht über das Bekenntnis eines Herrschers. In sogenannten Eigenkirchen war der Landesherr für den Kirchenbau und die Besetzung der Pfarrstelle zuständig. Überregionale Herrscher verstanden sich als von Gott eingesetzte Schutzherren der Kirche und scheuten sich nicht, territoriale Machtinteressen durch gewaltsame Mission voranzutreiben oder mit Gesetzesentwürfen theologische Streitfragen zu entscheiden. Der starke politische Einfluss auf den christlichen Glauben steht in zunehmender Auseinandersetzung mit dem politischen Anspruch der Kirche.8
Die orthodoxe Kirche
Die Stellung des Christentums als Staatsreligion seit Kaiser Theodosius hielt sich in der orthodoxen Kirche bis in die nächste Vergangenheit hinein. Bis heute ist die orthodoxe Kirche, stärker als die katholische, regionalisiert und an die Geschichte einzelner Staaten gebunden. In den Ländern der Orthodoxie entstand ein Cäsaropapismus, in dem zwar formal der Patriarch, real aber der Herrscher Oberhaupt der Kirche war. Diese überwiegend nationalisierten Kirchen zogen sich weitgehend aus einer gesellschaftlichen und politischen Gestaltung des Staates zurück, um sich vorwiegend auf persönliche und rein theologische Fragen zu beschränken und die Entscheidungen des Herrschers, bis auf wenige Ansätze zur Kritik, zu legitimieren.
Die Kirchen unter islamischer Oberhoheit
Das gesellschaftliche Engagement der in islamischen Staaten lebenden Christen begrenzt sich vorwiegend auf den privaten Lebensbereich und kircheninterne soziale und kulturelle Fragen. Die sie umgebende Gesellschaft toleriert den christlichen Glauben lediglich unter Bedingungen, die das Wesen christlichen Engagements stark einschränken, keine Mission, eingeschränkte Bürgerrechte, Sondersteuern usw.9
Das mittelalterliche Papsttum
Der Anspruch der hochmittelalterlichen Päpste umfasste sämtliche Autorität über geistliche, politische und gesellschaftliche Fragen
Der Anspruch der hochmittelalterlichen Päpste umfasste sämtliche Autorität über geistliche, politische und gesellschaftliche Fragen. Der Papst kann aus der Kirche und somit aus dem Reich Gottes außchließen, er kann Könige ein- und absetzen, seine Entscheide sind unfehlbar, er hat höchste richterliche Gewalt, er ist höher als die Menschen und wenig niedriger als Gott. Dieser Anspruch wird nicht nur verbal, sondern auch militärisch verfochten. Hier fallen Reich Gottes und Reich der Welt zusammen, wenn auch unter eschatologischem Vorbehalt und mit machtpolitischen, von der Bibel losgelösten Prämissen.10
Martin Luther
Der mittelalterlichen „Zwei Schwerter Lehre“ (geistlich/ weltlich), die beide in die Hand der Kirche gehörten, antwortet Luther mit der „Zwei Reiche Lehre“. Demnach wirkt Gott durch zwei Regimente, dem zur Rechten, der Gemeinde der Glaubenden, und dem zur Linken, dem Staat, der Wirtschaft und der Familie. In einem herrscht Gott direkt durch sein Wort und die Sakramente in Liebe, im anderen mittelbar durch die Amtsleute, Zwangsordnungen und Gewalt. Die Kirche kann sich dabei auf die Heilsordnung stützen, wohingegen der Staat seine Rechtfertigung aus der Schöpfungs- und Erhaltungsordnug Gottes bezieht. Auch hier soll der Staat nicht verchristlicht werden, sondern lediglich die freie Evangeliumsverkündigung gewährleisten. Der Christ nimmt nach Luther an beiden Reichen teil, handelt aber nach unterschiedlichen Maßstäben, einerseits nach den Geboten Jesu in der Bergpredigt, andererseits nach den Geboten des Alten Testaments und der menschlichen Logik. Christliches Handeln im Staat zeigt sich durch Protest, Belehrung, Auswanderung und dem Hören auf das, durch den Glauben geprägte Gewissen.11
Johannes Calvin
Der Christ ist sogar dem ungerechten Staat gegenüber zum Gehorsam verpflichtet
Calvin entwickelt seine Stellung zur Gesellschaft aus der Gotteslehre. Gott ist nie inaktiv, sein Wort besitzt stets Tatcharakter, woraus sich beim Menschen als seinem Ebenbild deutliche gestalterische Aktivität in allen Lebensbereichen ergibt. Den Staat führt Calvin auf den guten Schöpfungs- und Erlösungswillen Gottes zurück. Der Christ ist deshalb sogar dem ungerechten Staat gegenüber zum Gehorsam verpflichtet, nur wenn dieser Ungehorsam gegen Gott verlangt, muss der Christ Widerstand üben.12
Bei Calvin wird
„der alttestamentliche Bundesgedanke auf das Volk als politische Einheit bezogen und umfasst es in seinen geistlichen und weltlichen Bezügen. Der Staat ist Gottesstaat, und Gottes Gebot ist staatliches Gesetz. Der christliche Glaube durchdringt die Gesellschaft und richtet sie nach Gottes Willen aus. Die auch Calvins Sozialtheologie zugrundeliegenden beiden Regimente beziehen sich hier auf ein und dasselbe Volk. Damit wird die Heilsordnung zum Vorbild auch der Polis. Die Idee des allgemeinen Priestertums … wird so zum Paradigma der staatlichen Ordnung. … Die auf biblischer Weisung beruhende Kirchenverfassung ist andererseits für den Staat unverfügbar. Der Bundesgedanke … ist der Maßstab richtigen Staatshandelns, das sich damit vor dem Forum des christlichen Gewissens zu verantworten hat.“13
Die Täufer
Die Verbindung mit dem Staat sahen die Täufer als Sündenfall der Kirche
Im Gegensatz zur lutherischen und reformierten Kirche vertraten die Täufer die Auffassung, dass die christliche Gemeinde sich ausschließlich aus der Gruppe der sich mit dem Zeichen der Taufe bewusst für den Glauben entscheidenen Menschen zusammensetzt. Mit der Aufgabe des Volkskirchengedankens verschwand auch die Sicht für eine Durchdringung der Gesellschaft. Die Täufer sahen sich vielmehr als eine kleine Herde in einer feindlichen antichristlichen Umwelt, aus der es galt sich möglichst fern zu halten, um rein bleiben zu können. Gerade die Verbindung mit dem Staat sahen die Täufer als Sündenfall der Kirche. Differenzen zur Gesellschaft, sogar Verfolgung wurden als notwendiges Zeichen der wahren Christen angesehen. Christliches Leben in der Öffentlichkeit spielt sich deshalb nach den Regeln der Bergpredigt vor allem unter den Glaubensgenossen ab.14
„Am einschneidensten aber wichen die Täufer in ihrer Lehre von der Kirche bzw. von der Gemeinde von der offiziellen protestantischen Theologie ab, obwohl ihre Haltung zu anderen Fragen wie Eidesverweigerung, Ablehnung von obrigkeitlichen Ämtern, strikte Kriegsdienstverweigerung, Bestehen auf Trennung von Staat und Kirche und Einstehen für Gewissensfreiheit ebenfalls auffallende Abweichungen waren.“15
Die strikte Distanz zur „Welt“ wurde zwischenzeitlich von vielen Mennoniten gegen ein starkes soziales und friedenspolitisches Engagement getauscht.16
Die Aufklärung
Durch die Trennung der Glaubenswahrheiten von den Vernunftwahrheiten wurde der Einfluss des christlichen Glaubens auf die Gesellschaft stark eingeschränkt. Rationale Theorien ersetzten zunehmend religiöse Legitimationen und Grundwerte. Das Verhältnis von Regierung und Volk beruhe auf einem Gesellschaftsvertrag, nicht auf einer Ordnung Gottes, das ethische Verhalten müsse sich nach dem kategorischen Imperativ intellektuell erschliessen, nicht mehr aus Gottes Geboten ableiten lassen, Staat und Kirche müssen völlig voneinander getrennt werden, weniger zur Befreiung der Kirche als zur Lösung des Staates von unrationalen Strukturen (Französische Revolution). Die vor religiösem Hintergrund formulierten Menschenrechte17 verselbstständigten sich und wurden so zu vernünftigen Wertgrundlagen des modernen Staates. Nach dieser Konzeption hat Religion in der Gesellschaft lediglich als Zeichen persönlicher Meinungsäußerung eine Existenzberechtigung.
Die Pietisten
Frankes Pietismus bildete ein Hauptelement im Entstehungsprozess des Preussentums
Als eine auf das Individuum zugeschnittene Erneuerungsbewegung hatte der Pietismus keine starke gesellschaftspolitische Ausrichtung. Der Staat war mehr der unbeachtete Rahmen der eigenen vom Glauben geprägten Tätigkeit. Die trotzdem vorhandenen starken politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Pietismus gehen mehr auf das Handeln des einzelnen pietistisch geprägten Menschen in der Gesellschaft zurück. Einzelpersonen initiierten weitreichende soziale Hilfsprogramme, pädagogische Erneuerungen und vertraten ihre Auffassungen in der Dichtung (Klopstock, Novalis), Philosophie (Fichte, Kierkegaard), Musik, Politik, Juristik, Geschichte und Pädagogik.
„Frankes Pietismus bildete ein Hauptelement im Entstehungsprozess des Preußentums. Er schuf durch die Pflichttreue und Sparsamkeit, die er für den Umgang mit Zeit und Geld einschärfte, durch den Opferwillen für große Ziele und durch das unbestechliche Verantwortungsbewusstsein … die klassische Dienstauffassung und die Verbindung von Nüchternheit mit Tatkraft.“18
„Obwohl der Pietismus dem weltlichen Leben eher abgewandt als zugewandt schien, gingen auch in dieser Hinsicht bedeutende Wirkungen von ihm aus. Sowohl Spener als auch Franke und Zinzendorf … hatten starken Einfluss auf den Adel. Sie gewannen ihn in großem Umfang für ihre Werte … Franke konnte den brandenburgisch- preußischen Hof für sich gewinnen und den Geist der Regierungskreise mitbestimmen. Die Herrenhuter Brüdergemeine … sah sich in den russischen Ostseeprovinzen … in der Lage, die Bauernbefreiung einzuleiten.“19
Die Anarchisten
Lew Nikolajewitsch Tolstoi vertrat einen christlichen Anarchismus, den er durch eine wörtliche Anwendung der Bergpredigt auf das politische Handeln begründete. Da weder Staat noch Kirche dem Anspruch Jesu der völligen Gewaltfreiheit entsprechen, muss sich der Christ von ihnen zurückziehen, um durch Aufklärung, vorbildliches Verhalten und Modellgründungen anarcho- sozialistischer Kommunen die Gesellschaft umzuprägen. Dabei fällt die Außchließlichkeit der alttestamentlichen Gebote und deren notfalls gewaltmäßige Durchsetzung seitens des Staates weg. Der einzelne Christ ist lediglich den Geboten der Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit in seinem Gewissen verpflichtet.20
Die Befreiungstheologie
Die theologischen und historischen Aussagen der Bibel müssen nach Ansicht der Befreiungstheologie in direktem Zusammenhang mit den sozialen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Bedingungen der Menschen gesehen werden. Die großen Verheißungen der Bibel werden konkret auf die eigene Not bezogen, die Befreiung Israels aus Ägypten verheißt demnach gleichzeitig die Befreiung gegenwärtig Unterdrückter, die unter Umständen diese göttlich legitimierte Zusage mit eigener Kraft herbeiführen können, da Gott eine Option für die Armen hat, also auf ihrer Seite steht. Glauben und Gesellschaft werden hier eng zusammen gesehen.21
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
Das Gesetz bietet dem Christen als Staatsbürger zahlreiche Möglichkeiten der aktiven und passiven Mitgestaltung des öffentlichen Lebens
Auf der einen Seite gilt eine strenge Trennung zwischen Staat und Kirche, die in der Religionsfreiheit (Art. 4, Abs. 1 und 2 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art.137 Abs. 7 WRV), der Ablehnung einer Staatskirche (Art. 137, Abs. 1 WRV) und des Verbots der staatlichen Aufsicht über die Kirche (BverfGE 18,385, 386f; 30,415,428) zu Tage treten. Auf der anderen Seite räumt der Staat die Möglichkeit von Konkordaten und Kirchenverträgen ein, verleiht Religionsgemeinschaften die Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 137, Abs. 5 WRV), zieht im Zusammenhang damit die Kirchensteuer ein (Art. 137 Abs. 6 WRV), schützt die kirchlichen Feiertage (Art. 139 WRV) und arbeitet im sozialen und pädagogischen Bereich eng mit den Kirchen zusammen (Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Soldaten- und Gefangenenseelsorge, Schwangerschaftsberatung, theologische Fakultäten der Universitäten). Neben der Berufung auf Gott im Grundgesetz und zahlreichen Länderverfassungen werden Christen, wie oben gezeigt, immer wieder zur Mitverantwortung in der Gesellschaft aufgerufen. Außerdem bietet das Gesetz dem Christen als Staatsbürger zahlreiche Möglichkeiten der aktiven und passiven Mitgestaltung des öffentlichen Lebens (Vereine, Bürgerinitiativen, Wahl und Nominierung zur Wahl, Volksentscheide, Verfassungsklagen, …).22
Ausschlaggebender als die hier nur kurz skizzierten Meinungen der Vergangenheit und Gegenwart müssen für einen überzeugten Christen allerdings die Aussagen Gottes sein, wie sie uns in der Bibel entgegentreten.
3. Formen christlich gesellschaftlichen Engagements in der Gegenwart
1. Kirchlicher Lobbyismus:
Ähnlich der Interessensvertretung einzelner Industriezweige haben die großen Kirchen in den politischen Zentren der Länder und des Bundes Verantwortliche, die ihre Positionen und Interessen vorbringen. Diese Arbeit ist notwendig, damit christliche Anliegen nicht unter dem Druck des alltäglichen politischen Geschäfts verloren gehen. Auch für evangelikale Christen wäre eine solche Vertretung von Vorteil, um ihren Beitrag zur politischen Meinungs- und Entscheidungsbildung beizutragen.
2. Christliche Medienarbeit
Um nicht nur politische Entscheidungsträger, sondern eine große Gruppe der Bevölkerung zu erreichen, haben die Kirchen eigene Presseverbände, sponsern Radio und Fernsehprogramme und halten Pressekonferenzen ab. Auch evangelikale Christen versuchen durch Publikationen verschiedener Gemeindeverbände, überkonfessionelle Nachrichtenblätter wie „idea“, die Radio- und Fernseharbeit des „Evangeliumsrundfunks“, Internetpräsentation, Verlagsarbeit, sowie journalistische Koordination z. B. im Arbeitskreis Christlicher Publizisten, die Öffentlichkeit zu informieren und mit christlichen Sichtweisen zu konfrontieren.
3. Christliche Bildungs- und Schulungsarbeit
Die Öffentlichkeit mit christlichen Sichtweisen konfrontieren
Die verschiedenen in diesem Bereich aktiven evangelikalen Organisationen wollen sich, stellvertretend für die Gemeinden, mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen, um einen christlichen Beitrag dazu zu erarbeiten. Außerdem wollen sie dieses Wissen an andere Christen weitergeben, um deren Meinung und Engagement zu prägen, sowie sie in ihren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu stärken. Darüberhinaus nehmen evangelikale Christen in allgemeinbildenen Schulen und der Erwachsenenbildung an der gegenwärtigen Prägung neuer Generationen und der gegenwärtigen Gesellschaft teil.
4. Konkrete Anliegen
Christen beeinflussen die Gesellschaft außerdem über Aktionskreise, die sich um die Präsentation christlicher Ansichten für ein eng umrissenes Anliegen kümmern. Dazu gehören zahlreiche Initiativen wie „Kaleb“, „Pro Vita“, „Christen für das Leben“ oder „Aktion Leben“, die sich gegen die Abtreibung engagieren, „Hilfsaktion Märtyrerkirche“ oder „Christian Solidarity International“, die sich für verfolgte Christen weltweit einsetzen, „Christen für Flora und Fauna“ oder „Internationale Ökologische Akademie“, die sich der Auseinandersetzung mit aktuellen Umweltfragen widmen, das „Blaue Kreuz“, die „Gefährdetenhilfe Scheideweg“ oder „Teen Challenge“, die sich der Suchthilfe verschreiben und der „Arbeitsgemeinschaft für Religiöse Fragen“ oder der „Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen“, die sich der Aufklärung über Sektenaktivitäten annehmen.
5. Einzelne Berufsgruppen
Indem sich Christen in berufsspezifischen Gruppen zusammenfinden, versuchen sie sich gegenseitig durch Information und Austausch in ihrem Arbeitsbereich zu ermutigen, seelsorgerliche Beratung anzubieten, biblische Hilfen für fachspezifische Fragen zu erarbeiten und gemeinsam zu aktuellen berufsinternen Fragen Stellung zu beziehen. Dazu gehören fest umrissene Gruppen wie „Christen im Gesundheitswesen“, „Christen in der Bundeswehr“ oder die „Vereinigung Christlicher Friseure“ oder größere Berufsgruppen umgreifende Initiativen wie den „Deutschen Christlichen Technikerbund“.
6. Wirtschaft
Grundlage einer Ethik fördern, die auf dem biblischen Welt- und Menschenbild beruht
Die christlichen Vereinigungen im wirtschaftlichen Bereich versuchen, neben der gemeinsamen Verwirklichung christlicher Interessen, der Seelsorge an Mitgliedern und der biblischen Aufarbeitung typischer Probleme von Christen in wirtschaftlich verantwortlicher Stellung auch christliche Antworten und Forderungen für den gesamten Lebensbereich der Wirtschaft zu geben. Der internationale Gideonbund schließt christliche Geschäftsleute mit dem Ziel zusammen, die Bibel zu verbreiten, der „Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer“ versucht Kontakte christlich gesinnter Wirtschaftsvertreter untereinander zu pflegen, Austauschforum und offizielle Interessenvertretung zu sein, der „Verband Christlicher Kaufleute“ bietet darüberhinaus wie auch die „Internationale Vereinigung Christlicher Geschäftsleute“ durch Zeitschriften und Tagungen biblische Orientierung und Hilfestellungen zum Christsein in der Wirtschaft und zu Fragen der Unternehmensführung an, die
„Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik e.V. hat es sich zum Ziel gesetzt, Forschung und Lehre in den Wirtschaftswissenschaften auf der Grundlage einer Ethik zu fördern, die auf dem biblischen Welt- und Menschenbild beruht.“
7. Politische Parteiarbeit
Natürlich besteht für Christen in Deutschland auch die Möglichkeit sich unmittelbar politisch zu engagieren, indem sie bewusst wählen, einer Partei beitreten oder selbst Parteiarbeit betreiben. Zu diesem Zweck haben sich meistens auf sehr allgemeiner Grundlage Christen in den verschiedenen großen Parteien (CDU, SPD, FDP oder EVP in der Schweiz) zusammengefunden, um gemeinsame Interessen zu vertreten. Darüberhinaus haben Christen in den letzten Jahren eigene Parteien gegründet (PBC, CPD, CL), die in allen politischen Bereichen eine evangelikale, von den biblischen Geboten aus begründete Alternative zur allgemein üblichen Politik bieten wollen.
„Die PBC sieht ihr Ziel darin, Gottes ewig gültiges Wort für die Menschen … in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen. Dabei geht es um ein verbindliches Leben als bekennende Christen, die treu zu Gott und seinem Wort, der Bibel stehen … Die PBC will das Bewusstsein fördern, dass sich jeder für sein Handeln in Familie, Gesellschaft und Politik vor dem Schöpfer des Himmels und der Erde verantworten muss.“23
„Denn das ist der Wille Gottes, dass ihr durch Gutestun die Unwissenheit der unverständigen Menschen zum Schweigen bringt, als Freie, aber nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für die Bosheit benutzen, sondern als Sklaven Gottes. Erweist allen Ehre, liebt die Geschwister, fürchtet Gott, ehrt den König.“24
Helmut Kohl, Rede zum 50 jährigen Bestehen der Evangelischen Akademie Tutzing, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 4/97, S. 38. ↩
Joschka Fischer, Die Linke nach dem Sozialismus, 1992. ↩
Erwin Teufel, Worte für die Zukunft, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 4/97, S. 20. ↩
Karl Lehmann, Braucht die Kirche eine neue Sozialform?, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 4/97, S. 85. ↩
Vgl. Peter Guyot / Richard Klein, Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen, 2 Bde., Darmstadt, 1993. ↩
Augustinus, De civitate dei, 15,7. ↩
Vgl. H. Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte, Leipzig, 1911. ↩
Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 31-88, 311-325; Reinhold Zippelius, Staat und Kirche, München, 1997, S. 27-45. ↩
Vgl. Wolfgang Hage, Das Christentum im frühen Mittelalter, Göttingen, 1993, S. 41-50. ↩
Vgl. Nobert Brox Hrsg., Die Geschichte des Christentums, Bd. 5, Teil 4: Römischer Zentralismus und Einigung der Christenheit, S. 555-795. ↩
Vgl. Erwin Iserloh, Mit dem Evangelium lässt sich die Welt nicht regieren, in: Aus der Lutherforschung, Opladen, 1983, S. 49ff. ↩
Vgl. H. Haussherr, Der Staat in Calvins Gedankenwelt, Leipzig, 1923. ↩
Christoph Link, Art. Kirche und Staat IV in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres Gesellschaft, Freibung, 1987, Bd. 3, Sp. 484f. ↩
Vgl. Gustav Adolf Brenrath, Die Lehren der Täufer, in: Handbuch der Dogmen und Theologiegeschichte, Carl Andresen Hrsg. Göttingen, 1980, Bd. 2, S. 611-664. ↩
H. S. Bender, Art. Theologie des Täufermennonietentums, in: ML 4, 1967, S. 307. ↩
Vgl. Ronald J. Sider, Der Weg durchs Nadelöhr, Neukirchen Vluyn, 1978. ↩
Erst in Frankreich von dem hugenottischen Pfarrer Rabaut (1789) beeinflusst, dann von den nach Amerika ausgewanderten Glaubensflüchtlingen bei der Gründung der USA. ↩
Martin Schmidt, Pietismus, Stuttgart, 1972, S. 143. ↩
Martin Schmidt, Pietismus, Stuttgart, 1972, S. 165. ↩
Vgl. F. Stepun, Dostojewski und Tolstoi – Christentum und soziale Revolution, 1961. ↩
Vgl. R.Hoffmann Hrsg., Gottesreich und Revolution. Zur Vermengung von Christentum und Marxismus in politischen Theologien der Gegenwart, 1987. ↩
Vgl. Paul Mikat, Art. Kirche und Staat VI 1 in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres Gesellschaft, Freiburg, 1987, Bd. 3, Sp. 490-497. ↩
Grundsatzprogramm der Partei Bibeltreuer Christen, Karlsruhe, 1990, S. 7. ↩
1Petr 2,16f. ↩