ThemenBibelverständnis, Geschichte der Christen

Bibelübersetzung und Textkritik

Ein Beitrag zur Geschichte der Brüderbewegung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Neuerdings wird die Frage nach dem ‚richtigen‘ griechischen Text des NT verstärkt diskutiert. Zwar gibt es im Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland seit der 26. Auflage (1979) einen neuen Grundtext, der von fast allen anerkannt wird, doch treten in letzter Zeit vermehrt Stimmen auf, die meinen, man müsse zum Textus Receptus (TR) aus dem Jahr 1633 zurückkehren oder – besser noch – zu dem griechischen Text, den Martin Luther (1483-1546) im Jahr 1522 benutzte bzw. zu dem, der den Übersetzern der Authorized Version (AV) 1611 in England vorlag. In diesem Zusammenhang soll vorgestellt werden, wie die ‚Brüder‘ bei ihren Übersetzungen vorgegangen sind und was sie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Erforschung des Urtextes zu sagen hatten. Denn interessanterweise brachen diese Grundsatzfragen gerade zu der Zeit auf, als John Nelson Darby (1800-1882) und seine Mitarbeiter die Bibel neu übersetzten.

Die Bibelübersetzungen der ‚Brüder‘

1. Wie beurteilten die ‚Brüder‘ die wichtigsten Bibelübersetzungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts?

1.1 Deutschland:

Luthers September-Testament war 1522 erschienen und hatte als Grundlage den Text von Erasmus (1466-1536), den er 1519 in Basel herausgegeben hatte. Nach zwischenzeitlichen kleineren Korrekturen dachte man seit 1857 über eine Revision der Lutherbibel nach, die 1883 als Probebibel vorgelegt wurde.

Darby sieht Luthers Übersetzung sehr kritisch, denn der Reformator hatte andere Grundsätze angewandt.

Für Darby gilt Texttreue als herausragendes Merkmal einer guten Bibelübersetzung

Für Darby gilt Texttreue als herausragendes Merkmal einer guten Bibelübersetzung und nicht so sehr Luthers sprachschöpferische Leistung. Man könne ihn nicht häufig in der Bibelübersetzung verwenden, meint er, und sich nie auf ihn verlassen, wenn man mit ihm irgendwelche Wahrheiten beweisen wolle.1 Er nennt die Lutherbibel die absolut schlechteste Übersetzung, die er kenne.2 Doch im Vorwort zum NT der Elberfelder Bibel (EB) von 1855 werden die Verdienste Luthers ausdrücklich anerkannt:

Luther war

„Gottes Werkzeug, die Wahrheit in Deutschland zu verkünden und als ein treuer, glaubensstarker Arbeiter hat er die Heilige Schrift in die Sprache seines Volkes übersetzt. Es sei ferne von uns, die Mühe und Liebesarbeit dieser gesegneten Werkzeuge“ (das sind die Bibelübersetzer) „des Herrn gering zu achten … Allein die Bedürfnisse unserer Zeit sind andere geworden. Es beweisen die häufigen Anführungen des Urtextes auf den Kanzeln, sowie die Verbesserungen der lutherischen Übersetzung, sowie endlich die in den letzten Jahren erschienenen neuen Übersetzungen auf das Klarste das Bedürfnis unserer Zeit … Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes hat …die Übersetzung von Luther als ein unschätzbares Mittel gesegnet.“3

1.2 Frankreich:

Im September 1532 versammelte sich in Chanforans im Piémont eine Synode der Waldenser. Dort wurde beschlossen, eine Bibelübersetzung herauszugeben, die auf dem Grundtext basierte. Olivetanus (1506-1538) legte diese Übersetzung 1536 für das NT vor. Calvin (1509- 1564) selbst hat diese Bibel revidiert und nach ihm Théodore de Bèze (Beza) (1519-1605). Die Revision von Ostervald (1663-1747) 1744 wurde anderthalb Jahrhunderte mit verschiedenen Verbesserungen beibehalten, bis 1880 das NT von Segond (1810-1885) herauskam, das im Grunde ein Revision von Ostervald war. Zu den französischen Bibeln gibt es keine Stellungnahme von den ‚Brüdern‘. Man muss dabei bedenken, dass es keine französische Übersetzung gab, die so verbreitet und berühmt war wie die Lutherbibel in Deutschland oder die AV in England.

1.3 England:

Die Authorized Version (AV) stammt aus dem Jahr 1611. Nach kleineren Verbesserungen gab es 1840-65 eine Überarbeitung von Samuel Tharpe und 1881-85 die Revidierte Fassung (RV). Im Jahr 1856 wird im ‚Treasury‘4 die Frage diskutiert, ob man eine neue englische Übersetzung brauche.5 Anlass war ein Artikel in der ‚Edinburgh Review‘ 1855 über den Zustand der englischen Bibel und über die im gleichen Jahr erschienene ‚Paragraph Bible‘.

Es gab von allen Seiten Widerstand gegen eine neue englische Übersetzung

Natürlich gab es von allen Seiten Widerstand gegen eine neue englische Übersetzung. Der Bischof von Manchester und der Theologe Cummings wollen bei der AV bleiben, weil sie niemals verbessert werden könne. Dem stimmt der Herausgeber des ‚Treasury‘ nicht zu. Er gibt zu bedenken, dass man die Fragen nach der richtigen Übersetzung und dem augenblicklichen Stand der Handschriftenforschung neu stellen müsse.6 Schon vorher heißt es, dass es, theoretisch gesehen, keinen Zweifel gebe, dass eine englische Bibelübersetzung, die den Urtext richtig und vollständig wiedergibt, zu wünschen sei.7 Aber gleichzeitig wird anerkannt, dass die AV das Werk der frömmsten und gelehrtesten Männer ihrer Zeit sei und dass sie seitdem als Norm für Reinheit und Qualität des Stils der englischen Sprache angesehen werde. Von den Gründen, die für eine Neuausgabe sprechen, werden vor allem zwei anerkannt, nämlich 1. die Überprüfung des Textes anhand der vorliegenden Handschriften und 2. die Richtigkeit der Übersetzung. Natürlich sei in einem Artikel in der ‚Eclectic Review‘ mit Recht hervorgehoben worden, dass die vielen verschiedenen Manuskripte nicht an der Wahrheit des Evangeliums, der Erlösung aus Glauben, rütteln konnten. Der einfache Christ solle ja nicht denken, er habe in der AV nicht die volle Wahrheit des Evangeliums.

Der einfache Christ solle nicht denken, er habe in der AV nicht die volle Wahrheit des Evangeliums

Auch der Lärm über neue Lesarten und neue Übersetzungen habe nicht im Entferntesten etwas zu tun mit der Frage der Erlösung aus Glauben an den Herrn Jesus Christus.8 In Achtung vor der AV ließ Darby daher später noch (1868) betonen, dass sein englisches NT keine Revision der AV sein wolle.9

2. Darbys Bibelübersetzungen nach seinen Briefen

2.1 Deutsch: 1855

2.1.1 Wer hat die Elberfelder Bibel übersetzt?

Im Vorwort zum NT der EB steht immer wieder ‚wir‘. Damit wird ein Team bezeichnet.10 Trotzdem wird immer wieder betont, wie sehr diese Übersetzung – daneben auch die französische und die englische – seine eigene Arbeit war. So meint Turner:

„Die bedeutendste und verdienstvollste Arbeit war seine Übersetzung der Heiligen Schrift (eine ganz freie und unabhängige Wiedergabe des Urtextes unter Benutzung aller bekannten Hilfsmittel) ins Deutsche und Französische, sowie eine Übersetzung vom Griechischen ins Englische.“11

Weremchuk sagt, dass die französische, deutsche und englische Übersetzung wirklich sein Werk seien.12 Er weist darauf hin, dass Carl Brockhaus (1822-1899) keine Griechisch-Kenntnisse besaß und Julius A. Poseck (1816-1896) Darby ein halbes Jahr beim NT geholfen habe. Beim AT habe er die Hilfe des Holländers Hermanus Cornelius Voorhoeve (1837-1901), der Hebräisch konnte, geschätzt. Jordy urteilt, dass die Hauptlast ohne Zweifel bei Poseck gelegen habe, da dieser gleichzeitig Altphilologe und Deutscher war.13 Darby selbst spricht von seiner deutschen Bibel.14

2.1.2 Konnte Darby Deutsch?

Über seine Deutschkenntnisse berichtet Darby an verschiedenen Stellen in seinen Briefen. Darbys Deutschkenntnisse reichten nicht aus, um mit Sicherheit einen deutschen Wortlaut für die Bibel-Übersetzung zu formulieren Offensichtlich hat er im Laufe der Zeit viel dazugelernt. Im Brief vom Mai 185415 sagt er, er könne nur ein bisschen, ein paar Brocken Deutsch. Im September desselben Jahres meint er, er könne sich sehr gut auf Deutsch verständigen, obwohl er nur unzureichende Sprachkenntnisse habe.16 Zwar sei er noch nicht in der Lage, auf Deutsch ausführliche Erläuterungen zu geben, aber er könne die Wahrheit herausstellen, und die Zuhörer verstünden ihn sehr gut. Am 25.1.1855 schreibt er, dass er etwas Deutsch lese, um das, was er gehört und was die anderen gesagt haben, zu festigen.17 Damit erzielt er so gute Erfolge, dass er am 20.4. 1855 berichten kann, er habe in einer größeren Baptistengemeinde auf Deutsch gepredigt. Und das Deutsche sei, Gott sei Dank., einfach aus ihm herausgeflossen.18 14 Jahre später, im Jahr 1869, wagt er es, vor über 500 Personen auf Deutsch zu predigen. Nun kann er melden, dass seine Deutschkenntnisse recht gut und ihm wieder ins Gedächtnis zurückgekommen seien, so dass er in verschiedenen Versammlungen habe sprechen können, zwar mit Fehlern, aber für die Aufgabe sei es ausreichend gewesen. Die Zuhörer könnten ihm gut folgen.19

Aus diesen Äußerungen ist zu schließen, dass Darby, der äußerst sprachbegabt war, immer mehr Deutsch gelernt hat; aber das reichte nicht aus, um mit Sicherheit einen deutschen Wortlaut für die Bibel-Übersetzung zu formulieren. Das wird an anderer Stelle bestätigt.

2.1.3 Wie ging es bei der Übersetzungsarbeit zu?

Wie die Arbeit ablief, erfahren wir aus seinem Brief vom September 1854:20 Er habe einen geborenen Deutschen (d. h. Poseck) für die Formulierung der deutschen Sätze und einen Holländer (d. h.Voorhoeve), den besten, den er kenne, daneben englische und rein deutsche Übersetzungen zum Vergleich und seine zwei kritischen griechischen Neuen Testamente. Im Zusammenhang mit der Kontrolle der Übersetzung des AT im Jahr 1870 werden diese Personen wieder genannt. Ein deutscher und ein holländischer Bruder hielten die holländische bzw. die deutsche Übersetzung und er (Darby) den hebräischen Text in der Hand mit all den anderen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln.21 Das Vorwort zum NT der EB gibt weitere Auskunft über die Formulierung der Sätze. Sie wurden „wie ein Spiegel“ des Urtextes verfasst:

„In unseren Tagen geht man weiter als ehemals. Alles wird untersucht, die Schriften werden erforscht; und wer wollte dieses tadeln? … Die Anstrengungen des Feindes sind wider sein Wort gerichtet. Während nun der Gelehrte dasselbe im Urtext untersuchen kann, ist dem Nichtgelehrten und der Sprache des Urtextes Unkundigen der Weg dazu versperrt. Es war daher unser Bemühen und unser Zweck, … eine möglichst treue und genaue Wiedergabe des Wortes Gottes in ihrer eigenen Sprache darzureichen. Freilich wird jede Übersetzung mehr oder weniger mangelhaft sein … Weil nun aber niemand die ganze Tragweite dieser Offenbarung zu erfassen vermag und oft in einem Satze ein das Verständnis des Übersetzers übersteigender Sinn verborgen liegt, der in einer freien Übersetzung verloren geht, in einer genaueren hingegen durch eine tiefere Belehrung des Heiligen Geistes gefunden werden könnte, so ist es eine gebieterische Notwendigkeit, das Wort des Urtextes gleichsam wie einen Spiegel wieder hervorzubringen.“22

2.1.4 Welche griechischen Textausgaben benutzte Darby?

Wir dürfen zu unserer Freude wiederholen, dass die Handschriften in allen wichtigen Fällen in der Lesart übereinstimmen

Die Grundsätze seiner Textauswahl stehen im Vorwort zum NT von 1855. Der Textus Receptus galt als unvollkommen und bildete deshalb nicht die Grundlage der Übersetzung. Lesarten des TR, die unberücksichtigt blieben, wurden in einem Anhang aufgeführt, wo sie in der Praxis aber kaum Beachtung fanden.

„Wir hielten uns verpflichtet, unserer Übersetzung einen möglichst genauen Text, so wie ihn die mühevolle Arbeit der Gelehrten hergestellt hat, zu Grunde zu legen …Wir taten folgendes: Da wo die Gelehrten, nach Vergleichung der vorhandenen Manuskripte, in betreff der Lesart einstimmig waren, sind wir ihnen gefolgt; und wir dürfen zu unserer Freude wiederholen, dass sie, wenige Stellen ausgenommen, in allen wichtigen Fällen in der Lesart übereinstimmen. Infolge der von uns eingeschlagenen Methode mussten wir nicht selten von dem unvollkommenen Texte des Textus Receptus abweichen, den fast alle früheren Übersetzer in Ermangelung eines besseren ihrer Arbeit zu Grunde legten. Die verworfenen Lesarten haben wir unter dem Buchstaben R. am Schlusse des Buches zusammengestellt. Wir haben dies jedoch nicht getan, um den angenommenen Text als etwas Ungewisses oder Zweifelhaftes hinzustellen, sondern nur um dem Einwurfe zu begegnen, als hätten wir nach Willkür oder aus Nachlässigkeit diese oder jenen Stelle verändert oder ausgelassen. Nur wo man in betreff der Veränderungen in der Lesart unschlüssig war, übersetzten wir nach dem Textus receptus.“23

Darby war beeindruckt von der Einheitlichkeit der Ergebnisse der Textforschung der damaligen Zeit.24 Als Textgrundlage nennt er zunächst Tischendorf. Es kann sich nur um die Ausgaben gehandelt haben, die vor der Entdeckung des Codex Sinaiticus veröffentlicht wurden. Von 1841 bis 1859 gab es 7 verschiedene Neuauflagen.25 Es bleibt daher offen, welche von diesen Darby vorlag. Des Weiteren sagt er, dass er bei der zweiten Übersetzung von Römer bis Kolosser Griesbach, Scholz und Lachmann offen vor sich habe und Matthaei und andere an seiner Seite. Wenn alle miteinander übereinstimmten, dann habe er den Text von dem gemeinsamen Ergebnis dieser besten Ausgaben übersetzt, es sei denn, es läge ein besonderer Grund vor, davon abzuweichen. Aber er stelle kaum Abweichungen untereinander fest. Scholz spreche zwar von einer Konstantinopler Textfamilie, aber wenn dieser die hauptsächlichen Unzial-Handschriften vor sich habe, dann folge er ihnen wie auch die anderen Herausgeber. Anders liege es bei Matthaei.26

2.2 Französisch (1859)

Viele Jahre hätten einige Leute gefürchtet, dass der Glaube aus der Bahn geworfen werden könne, wenn man die Zuverlässigkeit des TR anzweifele

Diese Übersetzung war zunächst für die französische Schweiz gedacht. Als Mitarbeiter werden William Lowe, der an den Korrekturfahnen gute Verbesserungsvorschläge unterbreitet habe27, und M. Schlumberger aus Mülhausen28 genannt. Im Vorwort spricht Darby einige Fragen zum Text an. Seine Kritik am TR ist nirgends so stark wie hier:

„Trotz der Schwierigkeit der Auswahl habe die Güte und die Fügung Gottes klare und ausreichende Entscheidungsgesichtspunkte gegeben. Die Übersetzer der Reformation hätten damals nur sehr wenige Manuskripte, vielleicht 13 oder höchstens 14 als Grundlage gehabt. Auch Théodore de Bèze (Beza) habe keine anderen für seine griechische Textausgabe gekannt. Die Verleger Elzevier in Holland hätten die Kühnheit besessen, ihre Ausgabe von 1633, die den Beza-Text enthalten habe, als den Text zu bezeichnen, der von allen anerkannt werde (textus ab omnibus receptus) (TR). Viele Jahre hätten einige Leute gefürchtet, dass der Glaube aus der Bahn geworfen werden könne, wenn man die Zuverlässigkeit des TR anzweifele. Aber es seien neue Manuskripte entdeckt worden, einige von sehr alter Hand. Die Gelehrten hätten die vorhandenen Handschriften systematisch erforscht und sie nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet, so dass jede ihren speziellen Wert zugemessen bekomme. Dadurch habe man die Fehler ausmerzen können, die sich im Laufe der Zeit eingeschlichen hätten, da ja Menschen eben unachtsam sein könnten oder sich sogar etwas anmaßten. Wir hätten daher nun einen zuverlässigeren Text. Natürlich gehe es auch da nicht ohne menschliche Schwäche ab, aber Gott habe in seiner Vorsehung über sein Wort gewacht, so dass trotz der unterschiedlichen Systeme, die die Gelehrten für ihre Forschung anwandten, die Ergebnisse fast gleich lauteten. Vielleicht mit Ausnahme von 1 oder 2 Stellen stimmten ihre griechischen Texte fast überall überein, wo es überhaupt wichtig sei. Die recht wenigen verschiedenen Lesarten seien von geringerer Wichtigkeit und häufig in einer Übersetzung überhaupt nicht wiederzugeben. Deswegen habe er (Darby) gleich zu Anfang den TR, der diesen Namen ohne eigentliche Berechtigung führe, aufgegeben. Vor allem bei der 2. Ausgabe habe er sich verstärkt mit dem Textstudium befasst. Wo jedoch der TR irgendwie bedeutsam sein könnte, gebe es dazu einen Hinweis. Er lege keine wissenschaftliche neue kritische Bibelausgabe vor, sondern er möchte eine Übersetzung bieten, die so einfach und so wortgetreu wie möglich sei.“29

Auch diese Übersetzung hat ihre Würdigung gefunden. Lortsch sagt30 1910, dass die Wörtlichkeit dieser Ausgabe geschickter, wissenschaftlicher und glücklicher sei als die Lausanner Übersetzung von 1839. Er zitiert Prof. Porret , der gemeint habe, dass sie denen am meisten entgegenkomme, die eine möglichst genaue Übersetzung des Originals haben möchten, wobei aber die Sprache nicht auf der Strecke bleibe. Von Godet, der wichtige Kommentare zu Büchern des NT geschrieben hat, berichtet er, dass dieser eine Übersetzung gehabt habe, mit der er (Godet) in den meisten Fällen einverstanden gewesen sei. Godet sei sehr überrascht gewesen, als er erfuhr, dass es Darbys Übersetzung war.

2.3 Englisch (NT 1868)

Diese Übersetzung steht zeitlich am Ende der Reihe. Das AT hat Darby selbst nicht mehr vollenden können. Als Begründung für die neue Übersetzung des NT gibt er an, dass er im Gegensatz zu den meisten Lesern Zugang zu wichtigen Werken und Informationen habe, und er wolle den Lesern, denen das Wort Gottes genauso kostbar ist wie ihm, soweit es ihm möglich sei, die Früchte seiner Arbeit mitteilen, damit sie das Wort Gottes in Englisch so vollkommen wie möglich in Händen hätten. Er habe aus den besten ihm zur Verfügung stehenden Texten übersetzt und alle möglichen Hilfsmittel genutzt. Aber die Übersetzung sei seine eigene, doch habe er jede Möglichkeit der Kontrolle ausgeschöpft, um die Genauigkeit der Wiedergabe so eng wie möglich sicherzustellen. Seine Übersetzung sei nicht für die breite Masse bestimmt, sondern für den, der ernsthaft in der Bibel forschen möchte, dem aber die Kenntnisse in der Ursprache fehlen.31

Damit sie das Wort Gottes in Englisch so vollkommen wie möglich in Händen hätten, habe er aus den besten ihm zur Verfügung stehenden Texten übersetzt

An verschiedenen Stellen seiner Übersetzung weist Darby darauf hin, dass bestimmte Stellen, die in der Authorized Version (AV) stehen, von ihm nicht übersetzt werden. So sagt er z. B. zu Apg 8,37, dass der Vers nicht als echt angesehen werde, oder zu Apg 9,5f., dass das Ende von Vers 5 und ein Teil von Vers 6, wie sie in der AV übersetzt sind, nicht in den besten Handschriften zu finden seien. Diese Formulierung kommt gelegentlich an anderer Stelle auch noch vor, z. B. Apg 23,9. Daneben gibt es unverbindlichere Hinweise, z. B.: Viele lassen ‚Christus‘ aus (2Thess 1,12).

Darbys englische Übersetzung bekam später noch eine besondere Anerkennung:

„Die von der englischen Regierung im Jahre 1881 mit der Revision der englischen Bibel betrauten Gelehrten benutzten sein Neues Testament, und wie zwei der Besten unter ihnen dem verstorbenen William Kelly schrieben, waren sie erstaunt über die Sorgfalt, die bei den oft außerordentlich mühevollen Nachforschungen aufgewandt worden war und die Arbeit anderer in den Schatten stellte.“32

Zusammenfassung:

Die Bibelübersetzungen der ‚Brüder‘ sind im Wesentlichen das Werk von Darby. Er bestimmt beim NT durch seine Kenntnisse der griechischen Sprache und der textkritischen Studien seiner Zeit das Vorgehen bei der Arbeit.

Darby verwirft den Textus Receptus als unzuverlässig und sieht ihn als Notbehelf für die Bibel-Übersetzer der Reformation an

Den Textus Receptus verwirft er als unzuverlässig, und er sieht ihn als Notbehelf für die Bibel-Übersetzer der Reformation, weil ihnen damals kein besserer Text zur Verfügung stand. Die Bezeichnung ‚Textus Receptus‘ hält er für eine Anmaßung des Verlegers Elzevier. Die Textkritik des 18. und 19. Jahrhunderts beeindruckt Darby sehr, denn sie zeigt, wie genau im Grunde der biblische Text überliefert wurde. Vor allem die griechischen NT von Griesbach, Scholz und Lachmann bilden die Grundlage für seine Arbeiten. Darby strebt eine Bibelübersetzung an, die den Urtext in aller Genauigkeit wie ein Spiegel wiedergibt. Er weiß, dass eine solche Arbeit nicht für den normalen Leser geeignet ist, sondern er will dem Christen, der ernsthaft die Bibel studieren möchte, aber keine Griechisch-Kenntnisse hat, die Möglichkeit geben, trotzdem den Text in seiner Tiefe zu erfassen und zu beurteilen. Seitdem haben verschiedene Fachleute anerkannt, dass Darby seine Absicht erfolgreich durchgeführt hat.

II. Die Textausgaben des griechischen NT im 19. Jahrhundert

Eine ausführlichere Darstellung über die Haltung der ‚Brüder‘ zur Textkritik erhalten wir durch die Hinweise, die vor allem William Kelly in seiner Zeitschrift ‚The Bible Treasury‘ veröffentlicht hat. Mit großem Interesse verfolgte er die Literatur zu diesem Thema, und er teilte seinen Lesern mit, wie diese neuen Werke zu beurteilen waren. Auch J.N. Darby und C. E. Stuart beteiligten sich an dieser Arbeit. Allerdings sind die Artikel nur selten mit einem Namenszeichen versehen. Wie genau er Textkritik betrieb, ersehen wir aus seiner Auseinandersetzung mit E. B. Elliotts Horae Apocalypticae. In der Einleitung zu seinem Buch ‚Lectures on the Book of Revelation‘ werden viele Einzelheiten diskutiert.

1. Wie beurteilten die ‚Brüder‘ den Textus receptus?

1.1 Ist Textkritik grundsätzlich berechtigt?

Es bestehe kein Zweifel, dass sich in dem griechischen Text Hinzufügungen von Menschenhand befänden, die beurteilt werden müssten

Gleich im ersten Band des ‚Treasury‘ erscheinen Artikel zum griechischen Text des NT. Danach ist Textkritik nötig. Die wesentlichen Fehlerquellen beim Abschreiben der Dokumente werden aufgeführt:

Es bestehe kein Zweifel, so heißt es 1857, dass sich in dem griechischen Text Hinzufügungen von Menschenhand befänden, die beurteilt werden müssten, wenn wir das richtige Wort Gottes lesen wollten. Denn der Wert dieses Wortes sei das Maß des Wertes eines Textes, der so fehlerlos sein soll, wie man es nur erreichen und feststellen kann.33 Gott habe in seiner Fügung über sein Wort gewacht. Jedoch sei es der Verantwortung des Menschen übergeben, und der Mensch habe hier versagt wie überall sonst auch. Es gebe zufällige Abschreibfehler. Wörter, Ausdrücke und Sätze würden aus Unachtsamkeit weggelassen. Hin und wieder habe man Wörter verwechselt. Nicht selten sei durch die Unkenntnis oder Nachlässigkeit späterer Abschreiber eine Randnotiz in den Text eingefügt. Es könne kaum bezweifelt werden, dass man auch Spuren von absichtlicher Änderung im Text finde, z. B. durch völlig unberechtigte Zusätze. Häufiger sei versucht worden, Ausdrücke, vermeintliche grammatische Fehler und andere Irrtümer zu berichtigen. Dazu gehörten auch Angleichungen von Textstellen wie z.B. in den Parallelstellen der Evangelien. Die Aufgabe, den griechischen Text richtig zu bestimmen, sei eine sehr verzwickte Angelegenheit.34 Doch textkritische Richtigkeit ist nach Kelly die wichtigste aller Fragen für jeden Ausleger, der Genauigkeit auf sicherer Grundlage erreichen will.35

1.2 Soll man den Textus Receptus aufgeben?

Eine englische Zeitschrift, The Edinburgh Review, hatte 1855 einen Artikel über den Zustand der englischen Bibel veröffentlicht, in dem es u.a. darum geht, ob man den TR aufgeben soll. Der Herausgeber des ‚Treasury‘ greift diese Frage 1856 auf und meint, das dürfe erst geschehen, wenn man einen neuen gesicherten Text habe. Die Arbeiten von Griesbach, Scholz, Tischendorf, Lachmann usw. könnten dazu eine Grundlage bilden. Aber es sei gefährlich, eine neue Übersetzung des NT für ganz England herauszugeben, bevor sie nicht von anerkannter Autorität – nicht von einer kirchlichen, sondern einer fachlich-kritischen – gebilligt sei. Alle bisherigen Herausgeber seien sicher ehrenhafte und ehrliche Männer. Dennoch hätten sie ihren persönlichen Standpunkt, da sie ja jeweils in ihrer christlichen Gemeinschaft erzogen wurden. Sie hätten daher auch ihre persönlichen Ansichten über den heiligen Text. Ein Herausgeber müsse von der wahren Kirche Gottes anerkannt sein als jemand, der mit dem Geist der Weisheit und des Verständnisses, dem Geist der Liebe und einem gesunden Urteilsvermögen ausgestattet sei. Sonst blieben seine Mühen, wie groß seine Gelehrsamkeit, seine Sprachkenntnisse und seine Kritikfähigkeit auch sein mögen, von geringem Gewicht für die Kirche Gottes und für die ganze Welt. Er müsse schon ein genaues Verständnis von dem haben, was die Analogie des Glaubens genannt wird. Das erst versetze ihn in die Lage, falsche Lesarten oder irrige Annahmen zu entdecken. Seine Arbeit müsse sorgfältig im Licht der göttlichen Wahrheit geprüft und mit der Waage des Heiligtums gewogen werden.36

In den Ausgaben von November und Dezember 1857 erschien ein grundsätzlicher Artikel im ‚Treasury‘ über die Textkritik des NT. Anlass war die Herausgabe eines Buches von T.S. Green über dieses Thema. Der Autor (vermutlich Kelly) gibt zunächst eine Übersicht über die Geschichte der Textkritik, beginnend mit der Complutensischen Polyglotte von 1514, die aber erst 1520 veröffentlicht wurde. Über Erasmus, der mit seinem griechischen NT 1516 die Grundlage zu dem späteren Textus Receptus legte, urteilt er: „Es kann kaum einen Zweifel geben, dass die Ausgabe des Rotterdamer Gelehrten einen Text enthielt, der auf wenigen und geringwertigen Handschriften beruhte und der mit einer zu missbilligenden Hast zusammengestellt wurde, wenn man daran denkt, dass es ja um das Wort Gottes“ ging.37

Erasmus hat z. B. in Offb 11,8 in seiner ersten Ausgabe einen Fehler eingefügt, obwohl der Stand der Manuskripte schon damals klar war.38

Beim TR habe es mangelnde Sorgfalt gegeben, bei den neuen Ausgaben aber manchmal überhebliche Selbstzufriedenheit

Dennoch kommt der TR zu seinem Recht, denn es heißt weiter, es sei ein Wunder und ein Grund zum Danken, dass dieser Text in solch relativer Reinheit und inhaltlich hervorragendem Zustand bewahrt worden ist, dieser TR, bei dem es Mode geworden sei, ihn zu verachten. Es werde gern zugestanden, dass es darin Fehler gebe, die nicht erst durch ältere und bessere Handschriften, sondern schon durch sorgfältigere Überprüfung der vorher bekannten Dokumente hätten berichtigt werden können. Die Ausgaben des 16. Jahrhunderts gründeten sich auf ungesicherte Daten und seien liederlich in Einzelheiten, aber die neueren kritischen Arbeiten verstießen häufig schrecklich gegen den wahren Text. Beim TR habe es mangelnde Sorgfalt gegeben, bei den neuen Ausgaben aber manchmal überhebliche Selbstzufriedenheit. Der Text werde neuerdings missgestaltet durch Zusätze, Verstümmelungen oder andere Fehler. Allerdings seien die nicht von gleicher Anzahl und von gleichem Gewicht wie beim TR, obwohl höchst beschämend für die moderne Zeit, die stolz sei auf ihre Errungenschaften. Das sei eine scharfe Sprache, aber eine nicht so harte Verurteilung, wie vorurteilsfreie Gerechtigkeit sie eigentlich fordern müsse.39

Es folgt ein Beispiel (Mt 21,28-31), an dem gezeigt werden soll, dass es nötig ist, nicht nur zu beurteilen, wie eine Textstelle in den Handschriften bezeugt ist, sondern verstärkt auch die inneren Gründe zu berücksichtigen. Wer von den beiden Söhnen des Weinbauern hat den Willen des Vaters getan, der erste oder der zweite? Offensichtlich hätten die Kritiker die falsche Entscheidung getroffen, indem sie die überwältigende Mehrheit der besten Autoritäten zurückwiesen. Sie böten eine Lesart an (der zweite Sohn habe den Willen des Vaters getan), die nicht in einer einzigen Unzial-Handschrift stehe, und all das, obwohl die starken und unzweifelhaften Gründe des inneren Zusammenhangs das richtige Wort festlegten. Die Kritiker hätten sich nach ihren eigenen Aussagen an die alten äußeren Gründe gehalten. Man müsse fairerweise hinzufügen, dass Tischendorf dies schon seit langem aufgegeben habe. Dann folgt die Diskussion über das Ende des Markus-Evangeliums, das ja von manchen Kritikern als unecht angesehen wird.

Wir müssen diesen skrupellosen Anglo-Germanismus zurückweisen

Es heißt:

„Wir müssen diesen skrupellosen Anglo-Germanismus“ (d. h. diese Forderung, die englische und deutsche Gelehrte gemeinsam stellen) „zurückweisen und fügen hinzu, dass die äußeren Gründe entschieden für die Beibehaltung des fraglichen Abschnitts sind. Kann das Fehlen dieser Passage bei B und in einigen Abschriften der armenischen und arabischen Übersetzungen und eine einzelne lateinische Handschrift … die große Menge der positiven Zeugen über den Haufen werfen?. Es erscheint wahrscheinlich, dass vieles davon, wenn nicht alles, durch die Schwierigkeit beim Harmonisieren dieser Stelle mit anderen erklärt werden kann. Deswegen wurde der Knoten zerschnitten, anstatt dass man es dem Herrn überließ, das Problem durch geduldigere Hände zu lösen. Was die vorgegebenen inneren Schwierigkeiten anbelangt, so haben wir sie mit Sorgfalt geprüft und glauben, dass die besonderen Merkmale dieser Stelle die Echtheit bestätigen und erforderlich machen.“40

2. Andere Textausgaben

Die bei Darby und Kelly am meisten genannten Kritiker werden im Treasury auch vorgestellt.

1. Matthaei (1744-1811) Er gab 1782-88 ein griechisches NT in 12 Bänden heraus mit Lesarten aus 30 unbearbeiteten Handschriften aus Moskau. Darby meint, Matthaei folge aber im Grunde dem TR.41

2. Griesbach (1745-1812):

„Seine 1. Ausgabe stammt von 1775-7, aber die 2. von 1796-1806 hat dem Herausgeber einen hohen Platz bei den Textkritikern gegeben. Er sparte keine Mühe und vernachlässigte kein Dokument, das ihm zugänglich war. In seiner Urteilsfähigkeit war er fast unerreicht.“

3. Scholz (+1852) … (ein katholischer Gelehrter; er hat 607 neue Handschriften zum ersten Mal der Welt vorgestellt, abgesehen von den 674, die Griesbach und seine Vorgänger benannten)

„… war der nächste wichtige Herausgeber. In seiner Ausgabe von 1830-6 nimmt er an, dass der gemeinsame Konstantinopel-Text, der durch eine große Anzahl neuerer Handschriften bezeugt ist, reiner ist, als die ältere Alexandriner Gruppe, die Griesbach besonders vorzog.“

4. Lachmann (1793-1851):

„1831 erschien die 1. Ausgabe ohne Angabe seiner Grundsätze und seiner Quellen. Aber in der größeren Ausgabe von 1842-50 hat er das nachgeholt…Er verwirft das Argument der inneren Beweisführung, weil das mehr eine Interpretation als eine Herausgabe sei. Des Weiteren hielt er sich sklavisch an Zeugen (Handschriften, Übersetzungen, Väterzitate) aus der Zeit vor dem 5. Jahrhundert. Natürlich sollen die inneren Gründe auch nicht überzogen werden, um den klaren und eindeutigen Bestand einer äußerlich fest bezeugten Lesart zu verwerfen. Sie liefern aber ein äußerst wichtiges Veto in den seltenen Fällen, in denen ein offensichtliche Irrtum schon sehr früh als Lesart erscheint. Auch können sie eine äußerst wirksame Entscheidungshilfe sein in den Fällen, in denen verschiedene Lesarten gleich stark bezeugt sind.“

In seiner 7. Ausgabe hat Tischendorf die moralische Ehrlichkeit und den Mut, viele seiner unreifen Neuerungen zu berichtigen

5. Tischendorf (1815-1874):

„Er ist der letzte große Herausgeber, dessen Mühen beachtet werden müssen … In seiner 7. Ausgabe, die gerade herauskommt, hat er die moralische Ehrlichkeit und den Mut, viele seiner unreifen Neuerungen zu berichtigen und eine Menge gewöhnlich bezeugter Lesarten wieder einzuführen. Viel Lob können wir seinen ersten Ausgaben von Leipzig und Paris 1841 und 1849 nicht zollen. Aber die unschätzbaren Neu-Ausgaben der besten Unzial-Handschriften, sein mühevolles und erfolgreiches Vergleichen der wichtigsten Dokumente verschiedener Art und Sprache in der ganzen Alten Welt und deren meist richtiges, schnelles und sachkundiges Anwenden bei der Herstellung des griechischen Textes in einer so reinen Form wie möglich … machen die christlichen Gelehrten zu seinen tiefen Schuldnern.“42

Im Juli 1870 erscheint im ‚Treasury‘ ein Artikel, mit JND (John Nelson Darby) signiert, über Tischendorfs Codex Sinaiticus, den Text, den Tischendorf unter abenteuerlichen Umständen aus dem Katharinenkloster vom Sinai für die Forschung rettete. Darby meint, der Sinaiticus werde überschätzt und der Vaticanus sei vertrauenswürdiger. Der Sinaiticus enthalte besonders viele Fehler im Johannesevangelium. Zur englischen Ausgabe von Tischendorf heißt es, dass man Tischendorf zu Dank verpflichtet sei, wie jeder wisse, wegen seiner sorgfältigen und fleißigen Arbeiten. Aber die englische Ausgabe sei etwas unglücklich. Es werde der TR geboten und dann drei alte Handschriften. Dadurch würden alle diese Dokumente in Zweifel gezogen und nichts werde entschieden. Dann diskutiert Darby den Text von Joh 8,1-11 (die Ehebrecherin). Er weist auf Augustinus hin, der schon damals gemeint hat, dass einige Handschriften diesen Text aus Moralgründen gefälscht hätten. Das komme in alten Handschriften öfter vor. Z. B. sei der Sinaiticus an einer Stelle geändert worden, um die Frage zu vermeiden, ob die Jungfrau Maria noch andere Kinder hatte.43 Im Dezember 1870 erscheint ein Artikel, der Tischendorfs Entdeckung des Sinaiticus ausführlich darstellt. Dabei wird dessen Arbeit als mikroskopisch genau gewürdigt. Durch das genaue Vergleichen dieses Textes mit anderen seien vor allem hier die Fehler bekannt geworden, während andere Manuskripte als fehlerfreier gälten, einfach weil sie noch nicht so sorgfältig untersucht worden seien. Deswegen dürfe man sich über die vielen Fehler, die beim Sinaiticus aufgefallen seien, nicht wundern.44

6. Westcott (1825-1901) Hort (1828-1892) Im Jahr 1881 war der griechische Text des NT von Westcott und Hort herausgekommen. Dazu gibt es 1884 im ‚Treasury‘ eine Buch-Besprechung: Zunächst sagt der Autor, dass kein sorgfältiger Gelehrter ohne die Fülle der Informationen, die Tischendorf geliefert habe, auskomme. Nachdem nun Westcott-Hort erschienen sei, müsse jeder, der sich um die verschiedenen Lesarten bemühe und auch die Begründungen dafür suche, Tischendorf und Westcott-Hort, also beide, haben. Der Autor freut sich darüber, dass nur 1/8 des Textes Fragen aufwerfe, und dass die meisten ohne Bedeutung seien, dass vielleicht nur 1/60 zur Diskussion stehe. Dann wird die Methode vorgestellt, nach der Westcott-Hort gearbeitet haben. Jeder habe selbständig für sich einen Text entworfen, dann habe man die Ergebnisse verglichen. Die Bezeugung einer Lesart in den Handschriften werde über die inneren Gründe gesetzt. Kritisch wird vermerkt, dass die Arbeit auf das Wissenschaftliche reduziert worden sei. Es gebe eine Verschiebung der Wichtigkeit der Gesichtspunkte. Von dem inneren Zusammenhang gehe es weg zum Bestand der Dokumentation. Die wesentlichen Schwächen der Grundsätze – alle für den Gläubigen sehr schwerwiegend – seien diese:

  • 1. Das NT werde genauso behandelt wie jedes andere Buch.
  • 2. Der Heilige Geist spiele keine Rolle mehr in der Beurteilung einer Textstelle.45

7. Tregelles (1813 – 1875): Schon als Jugendlicher beschäftigte sich Tregelles mit Griechisch und Hebräisch, da er als Quäker kein Studium antreten konnte. Völlig selbständig erreichte er einen Kenntnisstand, der ihn zu den führenden Textkritikern um die Mitte des 19. Jahrhunderts machte. Er schloss sich für eine Zeit den ‚Brüdern‘ an, wodurch er in Kontakt mit Wigram kam, der ihn für seine Arbeiten an der hebräischen und griechischen Konkordanz heranzog. Tregelles übersetzte das hebräische Wörterbuch von Gesenius ins Englische und entwickelte Grundsätze zur Textkritik, die völlig unabhängig entstanden und denen von Lachmann glichen. Sein griechisches NT wurde in 6 Teilen zwischen 1857 und 1872 herausgegeben.46 In seiner endgültigen Ausgabe kennzeichnete er im Druck die Stellen, die er nicht bis ins Letzte entscheiden konnte. Nestle stellt ihn neben Tischendorf. Allerdings sei sein Erfolg äußerlich unscheinbar gewesen, aber er habe mit um so größerer Treue gearbeitet.47 Aland würdigt seine Arbeit als eine, „‚die im allgemeinen Bewusstsein zu sehr hinter der Tischendorfs zurückgetreten ist.‘“48

Zusammenfassung

Die ‚Brüder‘ beobachteten die Entwicklung der Theologie mit Aufmerksamkeit. Sie waren mit ihren Kenntnissen jeweils auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Zwar sahen sie schon zu Anfang die Schwächen des TR, aber solange noch keine einheitliche Übereinkunft über einen neuen allgemein verbindlichen Text erreicht werden konnte, hielten sie es für zu früh, einen solchen vorzulegen, ja sogar gefährlich. Bei den neuen Textausgaben glaubten sie, dass die inneren Gründe und Zusammenhänge eines Textes zu wenig berücksichtigt würden. Sie bedauerten zum Schluss, dass die Textkritik ein Handwerk geworden sei, das bei jedem anderen Buch der Antike in gleicher Weise angewendet werde. Die Leitung durch den Heiligen Geist sei völlig verdrängt worden.

Literaturhinweise

Bibelausgaben

  • Darby, John Nelson, Elberfelder Bibel, Wuppertal, 1961.
  • Darby, John Nelson, Holy Bible , Kingston, 1954.
  • Darby, John Nelson, La Sainte Bible, Valence, 1981.

Sekundärliteratur

  • Aland, Kurt und Barbara, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart, Deutsche Bibelgesellschaft, 2. 1989.
  • Darby, John Nelson, Letters, 3vol., Kingston, o. J.
  • Gerlach, Rolf-Edgar, Carl Brockhaus – ein Leben für Gott und die Brüder, Wuppertal, 1994.
  • Douglas, J.D., The New International Dictionary of the Christian Church, Exeter, 1974.
  • Jordy, Gerhard, Die Brüderbewegung in Deutschland, Teil 1, Wuppertal, 1979.
  • Kelly, William, Lectures on the Book of Revelation, London, o. J.
  • Kelly, William (Herausgeber ab 1857), The Bible Treasury 1856 – 1906, London, Reprint 4. 1995.
  • Lortsch, D., Histoire de la Bible française, St.-Légier, 1989.
  • Metzger, Bruce M., A Textual Commentary on the Greek New Testament, London, United Bible Societies, 1975.
  • Nestle, Eberhard, Einführung in das griechische Neue Testament, Göttingen, 2. 1899.
  • Turner, W.G., John Nelson Darby, Huttwil, o. J. (Vorwort von 1928)
  • Weremchuk, Max S., John Nelson Darby und die Anfänge einer Bewegung, Bielefeld, 1988.

  1. Darby, Letters, Vol. 1, S. 240; 1855. 

  2. Zit. Gerlach, S. 135. 

  3. Elberfelder Bibel, S. V (Kursiv: Wortlaut der Zitate). 

  4. The Bible Treasury, London, 1856-1920, Reprint 1995, war eine Monatszeitschrift , die von 1857 bis 1906 von William Kelly (1821-1906) herausgegeben wurde. Seine eigenen Beiträge hat er nicht signiert. Im Vorwort zum Reprint (S. III) wird gesagt, dass man annehmen könne, dass die nicht signierten Artikel von Kelly stammten. 

  5. Kelly, Treasury, Vol. 1, S. 87. 

  6. Kelly, Treasury, Vol. 1, S. 118. 

  7. Kelly, Treasury, Vol. 1, S. 9. 

  8. Ebd., S. 10 f. 

  9. Holy Bible, S. IV. 

  10. Wenn man nicht annehmen will, dass Darby den Plural für sich benutzt, was allerdings sonst nie seine Ausdrucksweise ist. 

  11. Turner, S. 76. 

  12. Weremchuk, S. 184. 

  13. Jordy, S. 108. 

  14. Darby, Letters, Vol. 2, S. 67. 

  15. Darby, Letters, Vol. 1, S. 234. 

  16. Darby, Letters, Vol. 3, S. 292. 

  17. Darby, Letters, Vol. 1, S. 241. 

  18. Darby, Letters, Vol. 1, S. 242. 

  19. Darby, Letters, Vol. 2, S. 55. 

  20. Darby, Letters, Vol. 3, S. 291. 

  21. Darby, Letters, Vol. 2, S. 61. 

  22. Elberfelder Bibel, S. Vf. 

  23. Elberfelder Bibel, S. VI. 

  24. Darby, Letters, Vol. 1, S. 234. 

  25. Nestle, S. 21. 

  26. Darby, Letters, Vol. 1, S. 235. 

  27. Weremchuk, S. 184. 

  28. Lortsch, S. 148. 

  29. Sainte Bible, S. Vf. 

  30. Lortsch, S. 148. 

  31. Holy Bible, S. IVf. 

  32. Turner, S. 76. 

  33. Kelly, Treasury I, S. 280. 

  34. Kelly, Treasury I, S. 295. 

  35. Kelly, Revelation, S. XXXV. 

  36. Kelly, Treasury I, S. 11. 

  37. Kelly, Treasury I, S. 279 (Übersetzung vom Verfasser). 

  38. Kelly, Revelation, S. 18. 

  39. Kelly, Treasury I, S. 295. 

  40. Kelly, Treasury I, S. 296. 

  41. Darby, Letters, Vol. 1, S. 234. 

  42. Kelly, Treasury I, S. 279f. 

  43. Kelly, Treasury VIII, S. 112. 

  44. Kelly, Treasury VIII, S. 188f. 

  45. Kelly, Treasury XV, S. 207f. 

  46. Douglas, S. 984. 

  47. Nestle, S. 22. 

  48. Aland, S. 29.