ThemenBibelverständnis

Mehr Jesus weniger ­Paulus? – Wenn Gottes Wort gegen Gottes Wort ausgespielt werden soll

Immer wieder wird das Argument gebracht, dass dies oder jenes „nur“ Paulus gesagt habe, aber nicht Jesus. Es ist aber vollkommen unberechtigt, Bibelkritik auf die Art zu üben, dass biblische Aussagen gegeneinander ausgespielt werden.

»Die biblischen Aussagen von Jesus Christus sind am wichtigsten! Schließlich sind es wörtliche Zitate von Gott selbst. Was Paulus, Petrus und Jakobus oder Mose, David und Jeremia gesagt haben, ist zwar auch irgendwie Gottes Wort, aber eben doch nicht auf derselben Stufe der Wichtigkeit und Autorität.«

Solche Unterschiede in der Bedeutung biblischer Aussagen zu machen hat sich verbreitet. Und irgendwie würde spontan auch fast jeder Christ der Feststellung zustimmen, dass Jesus wichtiger ist als Mose oder Paulus.

Oftmals dient die Unterscheidung zwischen den Aussagen von Jesus und denen von Paulus aber nicht dazu, die Bibel besser zu verstehen oder Gott ehrlicher nachzufolgen, sondern viel eher dazu, unangenehme Themen und Anweisungen des Neuen Testaments auszuschalten.

Weil in den Evangelien nur wenige konkrete Angaben zu finden sind, wie der Christ in Familie, Gemeinde und Staat zu leben hat, eröffnet sich ein viel größerer Interpretationsspielraum, wenn man mit dem Hinweis auf die Reden von Jesus die Anweisungen der Briefe relativiert. Gleichzeitig fallen auch Lehren weg, für die Christen heute in einer säkularen Welt kritisiert werden: z.B. zur Homosexualität (Römer 1,24-27), Unterordnung der Frau (Epheser 5,22f.), Akzeptanz der Todesstrafe (Römer 13,4), Züchtigung der Kinder (Sprüche 19,18; Hebräer 12,6f.) usw. Auch wenn es sich fromm anhören mag, solche Unterscheidungen zwischen autoritativen Worten von Jesus und „zweitrangigen“ Aussagen von Paulus werden in der Bibel nicht gemacht.

Zum Beispiel wollen sich einige Vertreter der sogenannten emergenten Bewegung („missionale“ bzw. „transformatorische Theologie“) vor allem auf die Aussagen Jesu in den Evangelien berufen.1

Dabei wird dann auch noch ausgewählt und ein besonderer Schwerpunkt auf die Stellen gelegt, die man gesellschaftskritisch und sozialrevolutionär interpretieren kann.

Auch feministische Bibelinterpretationen meiden gerne die Paulusbriefe, weil sie ihrer Meinung nach frauenfeindlich sind.2 Weil Jesus in den Evangelien nur wenig über die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft sagt, beruft man sich lieber auf ihn und füllt die fehlenden Aussagen der Evangelien mit der eigenen Weltanschauung aus. So eine Vorgehensweise nimmt letztlich weder die Bibel noch Jesus Christus wirklich ernst, sondern will beide zumeist eher als Steinbruch für die Propagierung eigener Ideen nutzen.

Die Unterordnung von Aussagen alttestamentlicher Propheten und neutestamentlicher Apostel unter die Worte Jesu ist nach dem Selbstanspruch der Bibel und ihrer Autoren kaum möglich. Zum einen gibt es auch im Alten Testament zahlreiche wörtliche Zitate des Redens Gottes, z.B. „Aber Gott sprach zu Abraham …“ (1Mo 21,12) oder „So spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels …“ (Jeremia 44,25). Folglich werden auch hier authentische Aussagen Gottes wiedergegeben, ganz wie in den Evangelien, wenn Jesus zu den Menschen spricht.

Zum anderen nehmen die Autoren des Neuen Testaments für sich in Anspruch, ganz dasselbe zu sagen wie Jesus Christus und nicht etwa nur ihre eigenen Meinungen und Interpretationen. Sie wollen die Aussagen Jesu lediglich erklären und auf die neuen Fragen der Gemeinde anwenden.

„Aber selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch etwas anderes als Evangelium verkündigen würden als das, was wir euch verkündigt haben, der sei verflucht! Wie wir es zuvor gesagt haben, so sage ich auch jetzt wiederum: Wenn jemand euch etwas anderes als Evangelium verkündigt als das, welches ihr empfangen habt, der sei verflucht! Rede ich denn jetzt Menschen oder Gott zuliebe? Oder suche ich Menschen zu gefallen? Wenn ich allerdings den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich nicht ein Knecht des Christus. Ich lasse euch aber wissen, Brüder, dass das von mir verkündigte Evangelium nicht von Menschen stammt; ich habe es auch nicht von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi“ (Gal 1,8-12).

Außerdem weisen die Schreiber der neutestamentlichen Bücher deutlich darauf hin, dass sie nicht ihre eigenen Gedanken zusammengefasst haben, sondern, dass sie weitergeben, was Gott ihnen auf übernatürliche Art und Weise eingegeben hat. Demnach ist auch das, was Paulus oder Jakobus aufgeschrieben haben, unmittelbare Mitteilung Gottes, auf derselben Stufe wie die Aussagen von Jesus Christus selbst: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit […]“ (2Tim 3, 16). Mit „alle Schrift“ sind in erster Linie natürlich die inspirierten Texte gemeint, die vor dem 2. Timotheusbrief verfasst wurden. Es ist aber ebenfalls durchaus denkbar, dass es sich hier um eine prophetische Äußerung handelt, die auch die noch nicht verfassten Texte des Neuen Testaments einbezieht.

Paulus beteuert mehrfach ganz im Sinne von Jesus zu schrei­ben: „Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist“ (Röm 9,1). Er macht auch deutlich, dass seine Lehren im Einklang mit Gottes Offenbarungen im Alten Testament stehen: „Wie geschrieben steht: »Es ist keiner gerecht, auch nicht einer …“ (Röm 3,10).

Jesus selbst warnt davor, Unterschiede zwischen den verschiedenen Mitteilungen Gottes zu machen:

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen! Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergangen sind, wird nicht ein Buchstabe noch ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und die Leute so lehrt, der wird der Kleinste genannt werden im Reich der Himmel; wer sie aber tut und lehrt, der wird groß genannt werden im Reich der Himmel.“ (Matthäus 5,17-19).

Hier spricht Jesus den inspirierten Texten des Alten Testaments dieselbe Autorität und Gültigkeitsdauer zu wie seinen eigenen Worten. „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mat 24,35).

Manchmal haben die Aussagen von Paulus für den Christen im 21. Jahrhundert sogar eine größere Relevanz als solche Worte Jesu, die er teilweise eben eher an Juden seiner Zeit gerichtet hatte und nicht so sehr an die neutestamentliche Gemeinde. Jesus Christus hielt die Gebote des Alten Testaments (Beschneidung, Wallfahrtsfeste, Kleider und Speisegebote – soweit sie nicht von den Pharisäern stammten) und nahm auch Bezug darauf. Immer wieder diskutierte er mit den jüdischen Gelehrten seiner Zeit über die richtige Auslegung und Anwendung der Gebote Gottes in Israel (z.B. Mat 12,2ff; 15,1ff). Paulus hingegen gibt fast ausschließlich göttliche Anweisungen für christliche Gemeinden, damals und heute.

Gottes Aussagen gelten, ganz gleich ob sie durch den Mund von Moses, Jesus oder Paulus zu uns gesagt wurden.

„Auf ewig, o Herr, steht dein Wort fest in den Himmeln; deine Treue währt von Geschlecht zu Geschlecht! Du hast die Erde gegründet, und sie steht; nach deinen Bestimmungen stehen sie noch heute; denn alles muss dir dienen! Wäre dein Gesetz nicht meine Freude gewesen, so wäre ich vergangen in meinem Elend. Ich will deine Befehle auf ewig nicht vergessen; denn durch sie hast du mich belebt“ (Psalm 119, 89-93).

Die Relevanz der verschiedenen biblischen Aussagen für den heute lebenden Christen ist natürlich unterschiedlich, auch wenn alle gleichermaßen von Gott stammen und deshalb ewig gültig sind. Anweisungen für den Bau und Betrieb der Stifts­hütte beispielsweise berühren ihn weniger, weil Christen nicht direkt mit den dort vorgeschriebenen Ritualen und Opfern zu tun haben. Aussagen zu den Aufgaben der Ältesten oder der optimalen Familienordnung – wie sie in den Briefen des Paulus stehen – sind hingegen nach wie vor von großer Relevanz, weil sie sich direkt an neutestamentliche Christen wenden.

Manche göttliche Anweisungen sind im entsprechenden Bibeltext selbst klar auf eine bestimmte Zeit bezogen (z.B. Gebote für die Wüstenwanderung Israels), andere Aussagen gelten für bestimmte Personengruppen (z.B. Priester, Frauen, Juden, Christen), wieder andere wenden sich an alle Menschen zu allen Zeiten (z.B. Ehe, Abgötterei). Zweifellos bleiben Jesu Worte absolut und ewig gültig auch dort, wo sie sich mit Umständen befassen, in denen der Christ im 21. Jahrhundert meist nicht lebt.

In keinem Fall ist es erlaubt, die klaren Aussagen, die Paulus durch die Inspiration Gottes für die christliche Gemeinde geschrieben hat, mit fehlenden Worten von Jesus aufheben oder uminterpretieren zu wollen. Das oft zu höherende Argument „Dazu hat Jesus nichts gesagt, dann ist es auch nicht wichtig“ ist dann falsch, wenn Paulus oder Petrus oder Jakobus dazu eine Weisung weitergeben, weil sie von Jesus kommt.


  1. Vgl. z.B. Shane Claiborne / Tony Campolo: Die Jesus Revolution. Was passiert, wenn wir ihn beim Wort nehmen, Gerth Medien GmbH, Asslar / Random House GmbH, München 2014, S. 17ff. 

  2. Vgl. z.B. Marlene Crüsemann: Unrettbar frauenfeindlich: Der Kampf um das Wort von Frauen in 1 Kor 14, (33b) 34-35 im Spiegel antijudaistischer Elemente der Auslegung, in: Luise Schottroff / Marie Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Biblical Interpretation Series 17, Leiden 1996, 199-223; = Gott ist Beziehung, Gütersloh 2014 (Nr. 90), 144-162.