Ohne allen Zweifel existieren sie, die sogenannten „populären Irrtümer“. Dass sie von sachverständigen Autoren zu einem Lexikon zusammengetragen wurden (Krämer und Trenkler, Das Neue Lexikon der populären Irrtümer, Eichborn 1998), ist eine verdienstvolle Leistung. Für den Leser entstand ein teils belustigendes, teils beschämendes Lesevergnügen. Wer wusste schon, dass der legendäre Western-General Custer gar kein General und einer der unfähigsten Militärführer war? Und: unser Körper braucht im Winter überhaupt nicht mehr zu essen als im Sommer.
In der Fortsetzung des ersten Bandes geht es „555 weiteren Vorurteilen, Mißverständnissen und Denkfehlern“ an den Kragen. Christen wissen, dass sich auch manche Legende, manche Fehldeutung von Berichten in der Gemeinde hartnäckig hält. So wundert es eigentlich auch nicht, wenn die Autoren den frommen Bereich nicht aussparen. Auf Seite 34 liest man unter obiger Überschrift:
„Jesus Christus wurde nach Meinung fast aller modernen Bibelforscher in Nazareth geboren; die These der Evangelisten Lukas und Johannes, Jesus sei in Bethlehem zur Welt gekommen, sei eher als Versuch zu werten, die Geburt des Messias dorthin zu verlegen, wo sie nach dem Willen des Alten Testamentes stattzufinden hatte: in die Stadt Davids, in die Stadt, wo David geboren und zum König wurde: ‚Aber du, Bethlehem-Ephratha, so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird hervorgehen, der über Israel herrschen soll (…). Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn, im hohen Namen Jahwes, seines Gottes.‘ (Micha 5, 1-3). Also schreibt Lukas: ‚So zog auch Josef von der Stadt Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt, denn er war aus dem Haus und dem Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.‘ Aber außer dieser einen einzigen Begründung – ‚er war aus dem Haus und dem Geschlecht Davids‘ – hat Lukas und haben andere frühe Kirchenmänner keine weiteren Indizien für diese Reise vorzuweisen, so dass man diese wie auch Marias Niederkunft in Bethlehem als Fiktion und als Versuch bewerten sollte, das Alte und das Neue Testament nachträglich besser aufeinander abzustimmen.“
Man ist sich also einig: Jesus wurde nicht Bethlehem, sondern in Nazareth geboren. Natürlich haben Nazareth und Jesus etwas miteinander zu tun. Er wuchs dort auf. Alle in Nazareth kannten ihn. Aber dort auch geboren? Dann wären ja seit Menschengedenken die beliebten Krippenspiele nur Schaustücke ohne Wahrheitsgehalt in vielen Details gewesen. Dann müsste man den Predigten in der Weihnachtszeit ebenfalls in vielen Aussagen die Wahrhaftigkeit absprechen.
Sollte man stur (oder konsequent) am Gewohnten festhalten? Wo sich doch alle schon einig sind. Oder ist Zeit zur Korrektur?
Nach der ersten Überraschung fragt man nach: Woher kommt denn eigentlich die neue Sicht? Welche Argumente kann man zu ihren Gunsten anführen? Schaut man die Begründung an und studiert die Literaturverweise, erlebt man die nächste Überraschung: Es gibt gar keine Fakten, sondern nur Verdachtsmomente. Offensichtlich reicht das im Umgang mit den Berichten der Bibel.
Zunächst zu den Literaturverweisen. Man nennt das Lexikon Encarta von Microsoft (von 1994). In der Ausgabe von 1998 heißt es unter dem Stichwort „Bethlehem (Westjordanland)“:
„… Bethlehem wird erstmals im Alten Testament als der Ort erwähnt, an dem Rachel (Ehefrau des Patriarchen Jakob) beerdigt wurde (A.T., Genesis 35,19). Nach dem Buch Ruth war die Stadt Geburtsort von König David und damit Stammort seiner Dynastie (A.T., 1.Samuel 17,12), und nach Micha 5,1-4 sollte sie der Geburtsort des Messias sein. Die Evangelisten Matthäus und Lukas nennen Bethlehem als Geburtsort Jesu Christi. Bethlehem, früher Efrat genannt, besitzt eine der ältesten Kirchen der Welt, die Kirche der Geburt Christi, die von Konstantin dem Großen erbaut wurde (330) …“
Dass Bethlehem als Geburtsort zweifelhaft ist, geht aus dem Text absolut nicht hervor. Was in der Ausgabe von 1994 steht, ist leider unbekannt. Doch wenn dort schlagkräftige Beweise gestanden hätten, müssten sie eigentlich auch noch in der Ausgabe von 1998 gültig und nachzulesen sein.
Als weitere Literaturangabe wird ein Artikel „Abschied von Bethlehem?“ von Hans Josef Miller aus dem Katholischen Sonntagsblatt (50/1996, S. 26) genannt. Obwohl dieser Artikel mir inhaltlich nicht zugänglich ist, darf man das Gewicht einer solchen Quelle bezweifeln. Jedenfalls, wenn es um die historische Zuverlässigkeit des biblischen Berichts geht.
Alles in allem sieht es mit der Beweiskraft der Literatur recht dürftig aus.
Dies ist aber nur die eine Seite. Die andere wiegt weit schwerer. Die ganze „Beweisführung“ besteht in einer Vermutung bzw. in einem Verdacht. Man geht von einer Manipulation in der Berichterstattung aus. Natürlich haben Matthäus und Lukas ein Interesse an Bethlehem als Geburtsort Jesu. Denn nur dann ließe sich der Anspruch Jesu, der verheißene Messias zu sein, aufrechterhalten. Aber berechtigt dies bereits dazu, eine Manipulation als gegeben hinzustellen? Berechtigt dies schon, alle geschilderten Fakten als unwahr abzustempeln?
Offenbar macht sich niemand Sorgen wegen fehlender Beweise. Denn es werden keine begründenden Fakten genannt. Hätte man sie, würden sie genannt werden. Man ist sich nur einig, es anders zu sehen. Das genügt.
Uns muss es nicht genügen. Um die biblischen Berichterstatter als Lügner darzustellen, sollte man wenigstens um des Anstandes willen, starke Gründe haben. Der Hinweis auf gute Absichten dabei (Übereinstimmung des verheißenen Messias mit Jesus), zählt nicht und macht nichts besser.
Mit großer Selbstverständlichkeit geht man davon aus, dass die Berichte der Bibel unzutreffend sind. Herodes, keineswegs an der Glaubhaftigkeit der Heiligen Schrift interessiert und deswegen unverdächtig, schickt die Gäste aus dem Osten nach Bethlehem und lässt Neugeborene in Bethlehem töten. Sein Vorhaben misslingt freilich. Aber nicht deshalb, weil er seine Bluttat am falschen Ort verrichten ließ, sondern weil Gott für Rettung sorgte.
Werten wir das Tun „fast aller modernen Bibelforscher“ als Versuch, die Zuverlässigkeit und Glaubhaftigkeit der Heiligen Schrift zu untergraben. Wer nach wie vor von Bethlehem als Geburtsort Jesu ausgeht, kann das weiterhin mit gutem Gewissen tun.