ThemenBibelverständnis, Zeitgeist und Bibel

Worüber die Meinungen geteilt sein können

Über einiges darf es unter Christen, die die Bibel ernst nehmen, durchaus verschiedene Meinungen geben. Allerdings ist es nicht beliebig, was dazu gezählt werden darf. Weil die Grenzen immer wieder verwischt werden, müssen wir uns über klare Maßstäbe Rechenschaft geben.

Jede Generation von Christen ist von der Notwendigkeit herausgefordert, zu entscheiden, welche Überzeugungen und Verhaltensweisen für alle Glaubenden moralisch gefordert sind und welche Überzeugungen und Verhaltensweisen dem Gewissen des einzelnen Glaubenden überlassen bleiben. Diese Unterscheidung hat ihren Ursprung in der Schrift: Es garantieren nämlich bestimmte Verhaltensweisen, dass eine Person nicht ins Reich Gottes kommen wird (1Kor 6,9-10), andere bleiben aber der Entscheidung jedes Christen überlassen:

„Der eine hält bestimmte Tage für besonders heilig, der andere misst jedem Tag die gleiche Bedeutung bei. Aber jeder soll mit voller Überzeugung zu seiner Auffassung stehen. Wer einen bestimmten Tag bevorzugt, tut das zur Ehre des Herrn. Genauso ist es bei dem, der alles isst. Er tut es zur Ehre des Herrn, denn er dankt Gott dafür. Und auch der, der nicht alles isst, tut das zur Ehre des Herrn und sagt Gott Dank” (Römer 14,5-6).

Die Dinge, in denen sich Christen unbeschadet unterscheiden können, wurden traditionell adiaphora, „Mitteldinge” genannt. Sie sind keine „Mitteldinge” in dem Sinne, dass alle Seiten sie für unwichtig halten.

Weil einige Gläubige sie für sehr wichtig halten, andere dagegen ihre Freiheit an der Stelle betonen, darum sagt Paulus: „Jeder soll mit voller Überzeugung zu seiner Auffassung stehen.” Sie sind insofern Mitteldinge, dass es eine Person nicht aus dem Reich Gottes ausschließt, ob sie eine bestimmte Überzeugung teilt oder nicht, ein bestimmtes Verhalten pflegt oder nicht. Heute sehe ich eine Tendenz dazu, die adiaphora als die Dinge zu bezeichnen, über die man unterschiedlicher Meinung sein darf, sie stehen theologisch zur Diskussion oder sind strittig. Wahrscheinlich ist diese Terminologie besser als das heute leicht missverständliche Wort „Mitteldinge”.

Im einfachsten Fall ist der Unter­schied zwischen den unbestreitbaren und den strittigen Themen unter den Christen ganz eindeutig. Die Auferstehung von Jesus Christus gehört zu den Dingen, die nicht zur Diskussion gestellt werden können. Das ist etwas, das als unverrückbare Wahrheit bekannt werden muss, wenn das Evangelium irgendeinen Sinn machen soll und Menschen gerettet werden sollen (1Kor 15,1-19). Wenn Christus nicht vom Tod auf­er­standen ist, dann ist unser Glaube sinnlos; die Zeugen, die behauptet haben, sie hät­ten ihn gesehen, sagten nicht die Wahrheit; wir wären noch in unseren Sünden; wir wären die bedauernswertesten Menschen, weil wir unser Leben auf einer Lüge aufgebaut hätten. Im Gegensatz dazu erlaubt Paulus es Menschen in der Frage, wie hoch sie einzelne Feiertage achten, unterschiedlicher Überzeugungen zu sein.

Wir erkennen schnell, dass einige Dinge, die man früher für nicht diskutabel hielt, inzwischen zu diskutablen geworden sind. Die Taufe von Kindern wurde früher in bestimmten Kreisen als so unbestreitbar angesehen, dass man Wiedertäufer mit dem Denken ertränkte, wenn sie denn untergetaucht werden wollten, dann solle man ihnen ihren Wunsch erfüllen. Bis vor rund 40 Jahren war es unter der Mehrheit der amerikanischen Evangelikalen verboten, ins Kino zu gehen oder Alkohol zu trinken. Dieses Verbot war nicht diskutabel. Heute sehen die meisten Evangelikalen solche Verbote als altertümlich an und haben sie geschickt in die Spalte der Dinge verschoben, über die man verschiedener Meinung sein kann. Das könnte sicher auch ein mögliches Zeichen dafür sein, dass man die Freiheit des Evangeliums lebt.

Ich erinnere daran, dass ich die Feststellungen mit Formulierungen wie „die meisten Evangelikalen” und „die Mehrheit evangelikaler Kreise” qualifiziert habe. Das zeigt, dass die Grenze zwischen dem, was theologisch unstrittig ist und dem, was diskutabel erscheint, durch kulturelle und historische Faktoren beeinflusst wird, über die wir uns in der jeweiligen Zeit kaum bewusst sind.

Einige Dinge können die Trennlinie zwischen nicht dis­kutabel und Mei­­nungs­­sache auch in der ande­ren Richtung über­­­springen.

Zum Bei­spiel gehörte das Rauchen für viele Christen lange Zeit zu den adia­phora, aber ihre Zahl ist deutlich geschrumpft. Wissen­schaftlich gesicherte Gesundheitsaspekte haben ver­stärkt durch eine schön gestrickte Theologie des Körpers dazu geführt, dass für die meisten Christen Rauchen ohne Zweifel abgelehnt werden muss.

Dass einzelne Themen in der Vergangenheit die Kategorie gewechselt haben, ermutigt manche, diesen Prozess aktiv zu nutzen.

Wenn auf diese Art bestimmte Dinge von der einen in die andere Spalte geglitten sind, kann es nicht überraschen, dass heute einige Leute diesen Prozess bewusst in Gang setzen, um eine ähnliche Bewegung zu bewirken. Zweifellos gilt das im Moment für die Heirat Homosexueller. Eine solche Heirat war in der Vergangenheit ohne Diskussion falsch, aber heute sollten wir, so argumentiert man, dieses Thema in die Spalte „diskutabel” verschieben. „Lasst jeden Christen von seiner Meinung überzeugt sein. Macht diesen Punkt nicht zu einem Prüfstein für echte Nachfolge, sondern allein die Themen, die für die Errettung wesentlich sind.”

Ich möchte zehn Überlegungen folgen lassen, was ein theologisches Thema kennzeichnet, damit man es unter die diskutablen einordnen kann, und was eben nicht.

1. Diskussion heißt noch nicht diskutabel

Dass etwas in der Diskussion steht, macht es noch lange nicht theologisch diskutabel und zu einem Teil der adiaphora. Man muss sagen, dass es keine wesentliche Lehre gibt und auch nur wenige Verhaltensweisen, über die noch nicht gestritten wurde.

Wenn die Unruhestifter, die dem Weg des Paulus folgten, behaupteten, dass man zusätzlich zu Christus und seinem Sterben noch die Beschneidung brauchte und das alttestamentliche Gesetz befolgen musste, damit man ein Christ unter einem jüdischen Messias sein konnte, dann zog Paulus nicht in Betracht, dass darin „jeder seine eigene Meinung“ haben sollte. Vielmehr rief er ein „verflucht” aus, weil es abseits des apostolischen Evangeliums mit der Rettung allein durch Christus keine andere Rettung geben konnte (Gal 1,8-9).

Wenn einige in Korinth den Eindruck erwecken wollten, dass man bestimmte Formen von Unzucht in der Kirche tolerieren könnte und dies sogar ein Ausdruck christlicher Freiheit sei, dann bestand Paulus auf Ausübung der Kirchenzucht notfalls mit Ausschluss aus der Gemeinde. Und er lehrte nachdrücklich, dass bestimmte Verhaltensweisen, Unzucht eingeschlossen, unzweifelhaft bedeuten, dass eine Person auch aus dem Himmelreich ausgeschlossen wird.

Über die Jahr­hunderte haben Menschen über die Lehre von der Dreieinigkeit genauso diskutiert, wie über die Gottheit Christi, seine Auferstehung vom Tod und vieles mehr. Aber das bedeutet nicht, dass diese Themen in die Spalte „diskutabel“ gehören.

Dass eine Sache diskutiert wurde oder wird, bedeutet noch nicht, dass sie für einen Christen wirklich theologisch zur Diskussion steht. Sonst könnte auf diese Weise jede Lehre und moralische Haltung relativiert werden.

Kurz gesagt: Dass eine Sache diskutiert wird, bedeutet nicht, dass sie für einen Christen theologisch diskutabel wird. Wenn dieser Punkt nicht gelten würde, dann könnte jede Lehre oder moralische Haltung dadurch relativiert werden und unter die adiaphora eingereiht werden, dass man ein paar Leute findet, die über ihre Bedeutung streiten.

2. Sorgfältige Schriftauslegung entscheidet

Was eine Lehre oder eine Verhaltensweise in die Spalte „nicht diskutabel” bringt, ist also nicht, ob sie von einigen Leuten diskutiert wird oder diskutiert wurde, sondern was die Heilige Schrift über das Thema wesentlich aussagt und wie die Schrift es mit anderen Themen verbindet.

Das beruht letztendlich auf nüchterner, abgewogener, ehrfürchtiger Exegese – wie Athanasius (296-373) das zu seiner Zeit in einem anderen Zusammenhang meinte. Athanasius siegte in der christo­­logischen Debatte durch die Qualität und Glaub­würdig­keit seiner sorgfältigen Exegese und seiner theologischen Verknüpfungen.

Sorgfältige Exegese im Detail und saubere theologische Verknüpfungen sind der Maßstab dafür, ob etwas nach der Heiligen Schrift als diskutabel gelten darf.

Und heute: Selbst wenn man mit dem einen oder anderen Detail ihrer Argumentation nicht übereinstimmt, die Art von sorgfältiger exegetischer Arbeit aber, die das Buch von Kevin DeYoung auf allgemeinverständlicher Ebene und auf einem mehr technischen Level das von Robert A. J. Gagnon darstellen1, erreicht einen Grad an Einzelbeobachtung und Umsicht, die man bei jenen einfach nicht findet, die sogar das umschiffen, was offensichtlich in den ent­sprechenden Texten zu lesen ist.

Um diese beiden ersten Punkte zu verbinden: Dass einige immer noch behaupten, die neutestamentlichen Texte erlaubten eine arianische Christologie oder verlangten sie sogar, und dabei endlos weiterdiskutieren, bedeutet nicht, dass wir die Zeugen Jehovas heute in die christliche Gemeinschaft aufnehmen sollten. Sie machen exegetische und theologische Fehler und ihr Irrtum ist so folgenschwer, dass er niemals zu Recht aus der Spalte „nicht diskutabel“ verschoben werden kann, wie engagiert auch darüber argumentiert wird, wie die Gottheit des Wortes das Fleisch des ewigen Sohnes gemacht habe.

Komplexe seelsorgerliche Aspekte entscheiden nicht darüber, was zur Diskussion steht, sondern gewissenhafte Schriftauslegung.

Genau das Gleiche muss festgehalten werden, wenn es um das biblische Verbot der Homosexualität geht, wie komplex auch immer die seelsorgerlichen Aspekte dabei sind. Kurz gesagt: Das wesentlichste Werkzeug, um festzuhalten, was nicht zur Diskussion steht, ist sorgfältige und gewissenhafte Schriftauslegung.

3. Das Gewissen nicht beschädigen

Meine dritte, vierte und fünfte Beobachtung über Dinge, über die man zu Recht diskutieren kann, ergeben sich aus dem Studium von 1. Korinther 8,1 – 11,1. In 1. Korinther 8 behauptet Paulus nicht, dass Christen kein Fleisch essen dürften, das vorher Götzen geopfert wurde. Vielmehr besteht er darauf, dass das Fleisch selbst nicht durch Götzen verunreinigt ist.

Es ist an sich nichts falsch daran, solches Fleisch zu essen. Nichtsdestotrotz dürfen Christen mit einem „schwachen” Gewissen das Fleisch nicht essen, weil sie ihrem Gewissen schaden würden.2 D.h. Christen, die in der Vergangenheit selbst mit dem Götzendienst verbunden waren, können so ungefestigt sein, dass sie meinen, solches Fleisch zu essen sei Sünde, obwohl am Essen selbst nichts Sündiges ist.

Fleisch zu essen, das vorher Götzen geopfert wurde, ist an sich nicht falsch, aber sein eigenes Gewissen zu vergewaltigen, ist falsch. Das Gewissen ist ein so empfindliches geistliches Organ, dass man es leicht verletzen kann. Gegen sein Gewissen zu handeln beschädigt es, weil das Gewissen dadurch verhärtet wird.

Sicher will kein Christ, dem es um Richtig oder Falsch geht, mit einem beschädigten Ge­wissen leben, einem Gewissen, das nach und nach immer härter wird. Wenn wir nämlich unser Gewissen verletzten, auch wenn wir nur denken, dass falsch ist, was wir tun (obwohl es nach Paulus gar nicht wirklich falsch sein muss), dann werden wir uns auch leichter damit tun, unser Gewissen zu übergehen, wenn es um Taten geht, die tatsächlich falsch sind. Im Ergebnis wird uns unser Gewissen immer weniger vor offensichtlicher Sünde warnen können.

Wer sein Gewissen immer wieder verletzt, der wird letztlich nicht einmal mehr vor offensichtlicher Sünde gewarnt.

Sicher hoffen und beten wir, dass auf lange Sicht die „schwachen” Christen ihr „schwaches” Gewissen in ein widerstandsfähiges „starkes” Gewissen verändern, indem sie durch ein sorgfältiges Lesen der Schrift in der Erkenntnis von Richtig und Falsch wachsen. Es ist nämlich keine Tugend, dauerhaft mit einem „schwachen” Gewissen zu leben, weil das zeigt, dass das eigene moralische Verständnis noch nicht ausreichend an Gottes Wort geschärft wurde.

4. Verzichten aus Liebe geboten

Inzwischen aber halten die Christen mit einem „starken” Gewissen daran fest, dass es an sich unbedenklich ist, solches Fleisch zu essen. Das sind also diejenigen, die zu Recht erkannt haben, dass an sich nichts falsch daran ist, Fleisch zu essen, dass Götzen geopfert wurde und ihr Gewissen deswegen auch nicht beunruhigt ist, wenn sie es essen.

Paulus aber besteht trotzdem in 1. Korinther 8 darauf, dass sie sich wegen des Gebots der Liebe vom Essen dieses Fleisches enthalten. Denn sie würden – willentlich oder nicht – diejenigen mit dem schwachen Gewissen dazu verführen, es ihnen gleich zu tun.

Kurz gesagt: Die Liebe der „starken” Christen für die „schwachen” Christen bringt die ersten in eine Lage, in der sie sich dafür entscheiden, etwas nicht zu tun, was an sich nicht falsch ist. Mit anderen Worten: Für die „starken“ Gläubigen ist jetzt eine Handlung „verboten”, die eigentlich in die Spalte „diskutabel” gehört und bei der es einem Christen zu Recht frei stand, selber zu entscheiden, ob er sie tun will.

Der Grund ist die verpflichtende Liebe für den schwächeren Gläubigen. Das heißt aber nicht, dass die Handlung tatsächlich in die Spalte „nicht diskutabel” gerückt ist, weil das bedeutete, dass sie an sich und für immer falsch wäre.

Christen verbieten sich manche Handlungen, nicht weil sie selbst von Gott verboten sind, sondern weil ein Mitchrist dadurch verletzt würde.

Wir kommen hier also zu dem Schluss, dass eine Handlung, die in die Spalte „diskutabel” gehört, nicht notwendig eine ist, die auch von allen Christen frei gewählt werden darf. Christen sehen also solche Handlungen als verboten an, entweder weil ihr eigenes schwaches Gewissen es ihnen verwehrt, oder – im Wissen, dass sie ein starkes Gewissen haben – weil sie sich entscheiden, das Handeln aus Liebe zu den schwächeren Gläubigen zu unterlassen.

Nebenbei bemerkt sollte man die Logik von 1Kor 8 allerdings nicht mit der Haltung eines gesetzlichen Christen verwechseln, der zu einem anderen Glaubenden, der das Essen von Fleisch, das Götzen geopfert wurde, für akzeptabel hält, sagt:

„Du magst zwar denken, dass eine solche Handlung erlaubt ist, aber jedes Mal, wenn du das tust, dann greifst du mich an. Und weil es dir nicht erlaubt ist, mich anzugreifen, darfst du auch mit deinem Handeln nicht weitermachen.”

Eine Person, die sich mit diesem Zweck äußert, ist offenbar nicht in Gefahr, durch das Handeln des Anderen ins Schwanken gebracht zu werden. Sie benutzt vielmehr ein manipulatives Argument, um die falsche Position zu verteidigen, dass der Akt des Essens von Fleisch, das Götzen geopfert wurde, unverrückbar falsch sei. Mit anderen Worten: man agiert aus der Überzeugung, die Tat läge auf der Seite des Unbestreitbaren und liegt selbst im Streit mit der Weisheit und Einsicht des Paulus.

5. Der kulturelle Kontext kann entscheidend werden

Wie aber verhält sich diese Argumentation zu der in 1. Korinther 10,14-22, wo es so aussieht, als ob Paulus das Essen der Opfer von Heiden absolut verbietet, weil es nichts anderes wäre als die Teilnahme an einer Anbetung von Dämonen?

Man kann sich zwar nicht absolut sicher sein, aber es scheint doch so, dass Paulus in 1. Korinther 8 das Essen von Götzenopferfleisch im Prinzip erlaubt, während er in 1. Korinther 10 ein solches Fleischessen verbietet, das ein Teil einer Teilnahme an irgendeinem Gottesdienst oder Anbetung oder Kult oder religiösem Ritus darstellt, der einer heidnischen Gottheit gilt.

Das führt uns zu einer weiteren Einsicht: Handlungen können zwar zu den adiaphora gehören, also zu Recht zu den diskutablen gezählt werden, aber trotzdem in bestimmten kulturellen Zusammenhängen absolut verwerflich sein und dann zur Spalte „nicht diskutabel“ gehören.

Vereinfacht gesagt: Im entsprechenden Kontext kann etwas, was ursprünglich in der diskutablen Spalte stand, zu den indiskutabel falschen Dingen verschoben sein. Auf der Basis von Römer 14 und dem, was Paulus darüber sagt, dass manche bestimmte Festtage besonders achten und andere alle Tage als gleich ansehen, könnte es sein, dass Christen es ablehnen, dass ihre Kinder sonntags in einem Fußballspiel mitspielen. Und unter gewissen Umständen, wenn etwa diese Fußballspiele regelmäßig zur Folge hätten, dass weder das Kind noch die Eltern mit anderen Christen in einem gemeinsamen Gottesdienst zusammen wären und keine biblische Lehre und Schulung erhielten, dann wird, was diskutabel erschien, unstrittig schlecht (Heb 10,25).

6. Der theologische Zusammenhang ist zu beachten

Das führt uns zu einer weiteren Überlegung. Manchmal kann auch der theologische Zusammenhang in einem bestimmten Kontext darüber entscheiden, ob ein Handeln richtig oder falsch ist.

In dem einen Kontext wäre eine solche Handlung ganz klar richtig oder falsch und gehörte damit in die Spalte „Nicht diskutabel“. In einem anderen Kontext könnte die gleiche Handlung zu den adiaphora gehören.

Bedenken wir, dass Paulus es absolut verwirft, Titus eine Erlaubnis zur Beschneidung zu erteilen (Gal 2,1-5) und Timotheus beschneidet er (Apg 16,3). Wenn man böswillig liest, wundert man sich kaum, dass die Gegner des Paulus ihn als jemanden ablehnen, der nur Menschen gefallen will (Gal 1,10), sich nach dem Wind ausrichtet und jede Position vertritt, die gerade vorteilhaft erscheint.

Aber ein wenig Nachforschung offenbart die Gründe von Paulus in den beiden Fällen. Im Zusammenhang von Galater 2 scheinen die Gegner von Paulus argumentiert zu haben, dass ein Nichtjude sich beschneiden lassen und unter das Gesetz des Mose treten muss, wenn er oder sie von einem jüdischen Messias gerettet werden soll. Hätte Paulus dieser Argumentation zugestimmt, bedeutete das, dass der Opfertod von Jesus und seine Auferstehung für Nichtjuden nicht ausreichen würde, um von Gott angenommen zu werden. Sie müssten auch noch Juden werden. Das aber würde die Suffizienz von Christus und seinem Kreuz und seiner Auferstehung gefährden. Das Evangelium steht auf dem Spiel. Paulus und die anderen Apostel versichern, dass Titus nicht beschnitten ist. Das ist nicht verhandelbar. Das Verbot gehört zur Spalte „nicht diskutabel“.

Im Fall von Timotheus fordert niemand, dass er beschnitten werden müsste, um gerettet zu werden. Weil nur ein Elternteil Jude war, war er nie beschnitten worden. Und wenn er nun beschnitten würde, dann machte das die Bewegungsfreiheit in jüdischen Häusern und in Synagogen etwas leichter, mithin eine Erleichterung für Evangelisation. Es ist nicht so, dass Timotheus nicht beschnitten werden darf, und es ist auch nicht so, dass er beschnitten werden muss.

Es ist vielmehr ein Ausdruck der kulturellen Flexibilität des Apostels im Hinblick auf das evangelistische Anliegen: Er ist ganz Jude, um Juden zu gewinnen, und wird wie einer ohne Gesetz, um die Nichtjuden zu gewinnen (1Kor 9,19-23).

7. Vorsicht bei geistlicher Profilierungssucht

Unter dem Neuen Bund beobachtet man ein tiefes Misstrauen solcher, die um einer höheren Spiritualität oder einer tieferen Reinheit willen, die Ehelosigkeit erheben, bestimmte Speisen verbieten oder menschliche – und das heißt biblisch wertlose – Forderungen aufstellen oder eher untergeordnete Punkte überbetonen (z.B. Mk 7,19; 1Tim 4,3-4; 1,6; 2Tim 2,14. 16-17; Tit 1,10-16; Röm 14).

Solche Leute versuchen, bestimmte Themen zu überhöhen, die niemals in der Spalte „nicht diskutabel“ platziert werden dürften und denen kein hoher Rang in der Liste der Tugenden zusteht. Paulus lehnt Ehelosigkeit nicht ab und kann ihre Vorteile in dem richtigen Zusammenhang loben (1Kor 7). Aber er widersteht denen klar, die das Heiraten verbieten, weil Ehelosigkeit angeblich eine höhere Spiritualität anzeigen würde. Fast immer bilden diese Themen, die Einzelne zu absoluten Forderungen erheben, höchstens relative Nebensächlichkeiten oder Äußerlichkeiten. Oder sie sind in der Heiligen Schrift klar als wahlfrei oder zeitlich begrenzt dargestellt.

8. Nicht theologische Kategorien entscheiden

Manche haben argumentiert, dass auch das moralische Gesetz der Bibel sich mit der Zeit ändern kann, etwa wenn es neue Entdeckungen gibt. Weil mit Römer 14,5-6 die Beachtung von Feiertagen der Spalte „diskutabel“ zugeordnet wurde und zu den Feiertagen auch der Sabbat gehört, der ein Teil der Zehn Gebote ist, und die Gebote doch das moralische Gesetz zusammenfassen, darum könne es wohl auch an der Zeit sein, das moralische Verbot für homosexuelles Heiraten aufzuheben.

Wenn ein moralisches Gebot, bei dem man davon ausging, dass es in die Kategorie „nicht diskutabel“ gehörte, durch die Autorität des Neuen Testaments in die Kategorie „diskutabel“ verschoben wurde, warum sollten wir nicht darüber nachdenken, auch andere moralische Gesetze zu verschieben?

Das ganze Thema ist sicher umfassend und komplex, aber ein paar Überlegungen können doch wenigstens etwas Klarheit schaffen.

(a) Nicht wenige Lehrer denken, dass die in Römer 14 erwähnten Tage sich auf jüdische Festtage wie Passah oder Großer Versöhnungstag beziehen und nicht auf den Sabbat. Sie rechnen sie deswegen dem Zeremonialgesetz zu.

(b) Andere halten es für möglich, dass der Sabbat in den Festtagen eingeschlossen war, aber meinen, dass es in Römer 14 mehr um die Flexibilität geht, auch den Sonntag zu heiligen.

(c) Obwohl viele Gläubige den Dekalog für eine ideale Zusammenfassung des moralischen Gesetzes halten, meinen andere, dass die Kategorie Moralgesetz3, so hilfreich sie auch ist, nicht von vornherein a priori festlegen kann, was vom Alten im Neuen Bund weiter gilt, sondern nur eine nachträgliche a posteriori Folgerung darstellt.4 In diesem Fall würde das Argument, das Sabbatgesetz sei ein Moralgesetz, weil es zum Dekalog gehört, natürlich hinfällig, selbst wenn die Kategorie Moralgesetz beibehalten wird.

Es gibt in der ganzen Bibel keinen Text, der auch nur einen Hinweis darauf bietet, dass eine homosexuelle Ehe unter bestimmten Umständen akzeptabel sein könnte.

(d) In jedem Fall gibt es in der gesamten Bibel keinen Text, der auch nur einen Hinweis darauf bietet, dass eine homosexuelle Ehe unter bestimmten Umständen akzeptabel sein könnte. Die Art des Verbots ist absolut. Für die Einhaltung von Feiertagen haben wir einen Text, der zeigt, dass es eine Veränderung der Einstellung zu ihrer Einhaltung gibt, selbst wenn wir darüber streiten können, was das genau zu bedeuten hat.

9. Nicht theologische Prinzipien entscheiden

Einige machen hier auf die Argumentation aus William J. Webbs einflussreichem Buch Slaves, Women & Homosexuals5 aufmerksam. Webb legt dar, dass die Bibel bestimmte Bahnen für die Entwicklung von ­moralischen Positionen eingeführt habe, und dass es diese Bahnen waren, die die Kirche schließlich zur Ächtung der Sklaverei führ­ten und die sie heute zur völligen Gleich­be­rechtigung von Mann und Frau führen sollte.

Webb favorisiert Gründe, warum er seine Argumente nicht auf die Segnung homosexueller Partnerschaften ausweiten will, aber manchen Kreisen dient seine Argumen­tation trotz­dem dazu.

Sie führt aber zu der selt­sa­men Position, dass die Ethik erst Jahr­hun­derte nachdem das Neue Testa­ment abgeschlossen und verbreitet war, einen höheren Grad erreicht haben soll als den, den Gott selbst ihr in den biblischen Dokumenten gab.

Die beste Kritik an dieser Position ist sicher die von Wayne Grudem6 in seiner längeren Besprechung des Buchs.

Was absolut gefordert ist oder jedem frei steht, das darf nur aus der Bibel selbst erhoben werden.

Zusammengefasst sagt er, dass die wesentlichen Einsichten für christliche Überzeugungen und christliches Verhalten, speziell was absolut gefordert und was diskutabel ist, aus dem erhoben werden müssen, was in der Schrift selber an Entwicklungen aufgezeigt wird. Das aber rechtfertigt nicht dazu, bestimmte Ent­wick­lungen, die über die Schrift hinausgehen, als normativ zu behandeln, insbesondere, wenn diese Entwicklungs­bahnen das untergraben, was die Schrift tatsächlich aussagt.

10. Sich etwas erlauben oder Gott ehren?

Ein großer Teil dieser Diskussion könnte auch als Test konstruiert werden, was Christen gerade noch erlaubt ist zu tun, oder etwas zynischer formuliert, womit sie noch bei Gott durchkommen können.

Eigentlich ist kein Punkt der Diskussion tatsächlich so gemeint (siehe besonders Punkt 4). Aber das menschliche Herz ist derart verdreht, dass es überraschend wäre, wenn niemand es sich so hindrehte.

Ernsthafte Christen werden jedoch eine Reihe anderer Fragen stellen: Was wird Gott Ehre geben? Was dient meiner Heiligung? Welches Verhalten wird mich dazu befähigen, das Evangelium auf den Leuchter zu stellen? Was bedeutet es, mein Kreuz auf mich zu nehmen und Jesus zu folgen? Was trägt dazu bei, mich für den neuen Himmel und die neue Erde vorzubereiten? Was trägt zu fruchtbarer Evangelisation bei? Was führt zu einem Über­strömen in Liebe, Glaube, Freude und Frieden? Welche Überzeugungen und welches Ver­halten schubst mich zurück zum Kreuz und vorwärts dazu, Gott mit Herz, Seele, Den­ken und Kräften zu lieben und meinen Nächsten wie mich selbst? Und nochmal: Was ehrt Gott?

Nehmen wir an, ein Christ ver­sucht zu entscheiden, ob er einen Film ansehen soll, der nicht nur keine Jugend­freigabe hat, sondern auch noch den gut bezeugten Ruf von spöttischer An­stößigkeit. Es wäre eine gute Übung, anhand der Linien dieses Artikels zu entscheiden, ob es eine nicht bestreitbare Notwendigkeit christlicher Moral darstellt, ihn zu verbannen oder ihn zu den adiaphora zu zählen. Man könnte zum Beispiel anerkennen, dass manche mit einem wirklich „schwachen“ Gewissen den Film nicht anschauen sollten. Andere mit einem „starken“ Gewissen sollten ihn nicht ansehen, weil das Auswirkungen auf das Gewissen der Schwachen hätte. So könnte man mit den verschiedenen Punkten weiter verfahren.

Ernsthafte Christen werden sich fragen: Was wird meinen Gott ehren?

Aber Christen werden sich noch weitere Fragen stellen wollen: Wird das Anschauen des Films einen negativen Effekt auf meinen Wunsch nach Reinheit haben? Wird er meine Phantasie mit Bildern anfüllen, die ich nicht behalten will, aber nicht wieder loswerde? Gäbe es andere Dinge, die ich besser tun sollte? Würde ich Jesus dazu einladen, mich zu begleiten, wenn ich könnte? Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass das Anschauen dieses Films Gott ehren könnte?

Nachdruck aus Themelios 40.3 (2015): 383-88. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Übersetzung: Thomas Jeising


  1. Kevin DeYoung, What Does the Bible Really Teach About Homosexuality?, Wheaton, IL: Crossway, 2015; Robert A. J. Gagnon, The Bible and Homosexual Practice: Texts and Hermeneutics, Nashville: Abingdon, 2001. 

  2. Zu diesem Thema siehe: Andrew David Naselli and J. D. Crowley, Conscience: What It Is, How to Train It, and Loving Those Who Differ, Wheaton, IL: Crossway, 2016. 

  3. siehe das jüngste Buch von Philip S. Ross, From the Finger of God: The Biblical and Theological Basis for the Threefold Division of the Law, Fearn: Mentor, 2010. 

  4. vgl. D. A. Carson, “The Tripartite Division of the Law: A Review of Philip Ross, The Finger of God,” in From Creation to New Creation: Biblical Theology and Exegesis: Essays in Honor of G. K. Beale, ed. Daniel M. Gurtner and Benjamin L. Gladd, Peabody, MA: Hendrickson, 2013: 223–36. 

  5. William J. Webb, Slaves, Women & Homosexuals: Exploring the Hermeneutics of Cultural Analysis, Downers Grove, IL: InterVarsity Press: 2001. 

  6. Wayne A. Grudem, “Review Article: Should We Move Beyond the New Testament to a Better Ethic? An Analysis of William J. Webb, Slaves, Women and Homosexuals: Exploring the Hermeneutics of Cultural Analysis,” JETS 47 (2004): 299–346. Vgl. auch Benjamin Reaoch, Women, Slaves, and the Gender Debate: A Complementarian Response to the Redemptive-Movement Hermeneutic, Phillipsburg, NJ: Presbyterian & Reformed, 2012.