ThemenGeschichte der Christen

Wohin geht der Pietismus?

Der Pietismus befindet sich in einer Krise. Als eine Bewegung der Bibel hat er sich der Bibelkritik geöffnet. Als eine Bewegung der Heiligung hat er sich dem unheiligen Zeitgeist geöffnet. Als eine Bewegung der geistlichen und kirchlichen Erneuerung hat er sich in den Glaubensabfall der Kirche hineinziehen lassen. Werden seine Vertreter noch die Kraft finden, das Ruder herumzureißen? Wird es eine Neubesinnung zu Christus allein, zur Heiligen Schrift allein, zu Gnade und Glaube allein geben?

1. Der Pietismus und seine Anfänge

„Pietismus“ kommt von dem lateinischen Wort „pius“. Dieses bedeutet „fromm und rechtschaffen“. Damit verwandt ist das lateinische Hauptwort „pietas“, „Frömmigkeit“.

Der Pietismus entstand als Erneuerungsbewegung im 17. Jahrhundert angesichts einer aus der Reformation hervorgegangenen theologischen Richtung, die man als „Orthodoxie“, d. h. „Rechtgläubigkeit“, bezeichnet hatte. Letzterer warf man vor, nur noch trockene Dogmatik zu lehren, welche nicht mit Leben gefüllt war. Der Grundsatz des Pietismus lautete dagegen: Der Glaube muss vom Kopf ins Herz dringen, er muss gelebt werden.

Vor allem in Württemberg, aber etwa auch im Siegerland, im sächsischen Erzgebirge und am Niederrhein bei Wuppertal besaß der Pietismus eine große Tradition und ist auch heute noch weit verbreitet. Der Pietismus hat die Altpietistischen Gemeinschaften, den Württembergischen Brüderbund, die Liebenzeller Gemeinschaften, die Pregizer Gemeinschaften, die Hahnschen Gemeinschaften, die Süddeutsche Vereinigung, die Chrischona-Gemeinschaften, den AB-Verein, die Evangelische Gesellschaft für Deutschland, die Siegerländer Gemeinschaften und viele andere Gemeinschaften hervorgebracht. Im 19. Jahrhundert entstand unter dem Eindruck der „Großen Erweckung“ (Wesley, Finney, Moody u. a.) der Neupietismus – in gewissem Gegensatz zum Altpietismus, der sich auf die ursprünglichen pietistischen Väter stützt.

Der Pietismus lief eine Zeitlang parallel zu einer Strömung, die man die „Aufklärung“ nennt. Gemeinsam mit der Aufklärung betonte der Pietismus die Bedeutung des Subjekts, der individuellen Erfahrung des Menschen. Gemeinsam mit der Orthodoxie jedoch hielt er grundsätzlich an der Offenbarung Gottes in der Bibel fest, was für die Aufklärung aufgrund ihrer Bibelkritik (weithin) undenkbar war. Je mehr sich allerdings Pietisten dem „inneren Wort“, der subjektiven „Erleuchtung“ und Ähnlichem öffneten, desto mehr rückten sie von der Bibel ab und näherten sich der Verstandes- und Gefühlsreligion der Aufklärung an (ein Vorgang, den wir auch heute beobachten). Der Pietismus wandte sich also einerseits – zu Recht – gegen die orthodoxe Erstarrung im Buchstaben, zugleich aber auch gegen die aufklärerische Verwässerung des Buchstabens.

Im Unterschied zur Aufklärung finden wir im Pietismus eine lebendige, verinnerlichte Religiosität, eine Herzensfrömmigkeit. Die „Praxis pietatis“, die „Frömmigkeitspraxis“ trat an die Stelle einer bloßen Kopftheologie (zumindest wurde diese den Gegnern unterstellt). Besonders betont wurden Wiedergeburt und Heiligung, stärker als in der Theologie der Reformatoren.

Überwiegend wollte man „Kirchlein in der Kirche“
(„ecclesiola in ecclesia“) sein

Die Scheidung von der Welt war ein weiterer Lehrschwerpunkt. Diese nahm oft asketische und weltverneinende Formen an. Eine Konventikel-Tendenz führte zum Teil zum Separatismus (Absonderung von der Kirche). Überwiegend jedoch wollte man „Kirchlein in der Kirche“ („ecclesiola in ecclesia“) sein, wie Spener formulierte.

Einige der bedeutendsten Väter der Frühzeit des Pietismus waren: Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke, Gottfried Arnold, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger, Philipp Matthäus Hahn und Johann Michael Hahn. Weitere wichtige prägende Persönlichkeiten des Pietismus waren z. B.: Johann Jakob Rambach, Philipp Friedrich Hiller, Gerhard Tersteegen, Johann Friedrich Oberlin, Johann Heinrich Jung-Stilling, Aloys Henhöfer, Ludwig Hofacker, Christian Gottlob Pregizer und Johann Christoph Blumhardt.

Neben etlichen Gemeinsamkeiten gab es zum Teil auch tiefgreifende Unterschiede und Gegensätze zwischen diesen Vätern. Der Pietismus war und ist keineswegs eine einheitliche Größe!

Der Pietismus, der ursprünglich als Reform- und Erneuerungsbewegung auf den Plan trat, rief von Anfang an bis heute zahlreiche Gegenschriften, Stellungnahmen, Verordnungen und Verbote hervor. Widerstand erfuhr er von verschiedenen Seiten: von der Orthodoxie ebenso wie von der Aufklärung, von Kirchenleitungen ebenso wie von Regierungen.

Allgemein wurde den Pietisten vorgehalten, sie setzten die Bekenntnisschriften der Reformatoren herab und verurteilten undifferenziert alle Philosophie. Später hat man dann versöhnlichere Töne angestimmt, etwa in Württemberg in Form des Pietisten-Reskripts von 1743, welches pietistische Versammlungen unter Aufsicht der Kirchenleitung duldete – ähnlich wie das neue Pietisten-Reskript aus dem Jahre 1993.

2. Der Pietismus und die Kirche heute

Heute geht es verstärkt um die Frage der Innerkirchlichkeit des Pietismus, insbesondere der im „Gnadauer Verband für Evangelisation und Gemeinschaftspflege“ zusammengeschlossenen Gemeinschaften und Werke. Der 1888 durch eine erste große Pfingstkonferenz von Gemeinschaftsvertretern in Gnadau bei Magdeburg initiierte und schließlich 1897 konstituierte „Gnadauer Verband“ ist bis heute der Dachverband der meisten pietistischen Werke und Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum mit zur Zeit zusammen über 300.000 Mitgliedern. Konkret stellt sich die Frage: Sollen heutzutage Pietisten auf Gedeih und Verderb in der Volks- oder Landeskirche bleiben, während diese sich immer stärker vom Wort Gottes entfernt?

Viele Pietisten berufen sich auf ein Zitat, das einem der Hauptinitiatoren des ersten Gnadauer Kongresses im Jahre 1888, Professor Theodor Christlieb, zugeschrieben wird: „Wir Gnadauer wollen sein in der Kirche, wenn möglich mit der Kirche, aber nicht unter der Kirche.“ Dieser Satz stellt ein durchaus lobenswertes Motto dar, solange es möglich ist, in der Kirche zu bleiben.

2.1 Der Kirchenaustritt eines Gemeinschaftspräses

Im Jahre 1993 geschah etwas Spektakuläres, das es in der Zeit der über 100-jährigen Geschichte der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung noch nie zuvor gegeben hatte. Im Juni 1993 trat der Vorsitzende eines pietistischen Landesverbandes gemeinsam mit seiner Frau aus der Evangelischen Landeskirche aus, nämlich der Bauunternehmer Willi Quast aus Siegen, der Präses des Siegerländer Gemeinschaftsverbandes. Quast begründete seinen Austritt, der viel Wirbel hervorrief, mit einer Stellungnahme, die ich anschließend im Wortlaut wiedergebe:

„Ein Austritt aus einer Kirche, in der man fast 70 Jahre gewesen ist und in der man auch durch klare Verkündigung des Gotteswortes manchen Segen empfangen durfte, ist in unserem Leben ein tiefer Einschnitt. Aber die Entscheidung zum Austritt ist zur Reife gekommen, da wir vieles, was in der Kirche schon länger und allmählich immer stärker zum Ausdruck kommt, mit unserem Schriftverständnis nicht mehr in Einklang bringen können. Wenn wir weiter in der Kirche geblieben wären, hätten wir uns schuldig an unserem Herrn gemacht.“

Die Ideologieanfälligkeit der Kirche löst den Absolutheitsanspruch der biblischen Autorität ab

Und dann nennt Willi Quast folgende Austrittsgründe:

  1. „Die historisch-kritische Bibelauslegung, die einen verhängnisvollen Prozess der Umdeutung und Inhaltsveränderung vieler biblischer Begriffe ergeben hat.
  2. Die Ideologieanfälligkeit der Kirche. Diese löst den Absolutheitsanspruch der biblischen Autorität ab durch aktuellen Gültigkeitsanspruch der konkreten Zeitgeistsituation. Dadurch ergibt sich ein enormer biblischer Substanzverlust. Anstelle der Kerninhalte des biblischen Zeugnisses treten letztlich die Losungen einer universalen Welterneuerung.
  3. Die Politisierung der Kirche. Diese setzt andere Schwerpunkte als die Schrift.
  4. Der Kirchentag. Dort werden die Impulse des protestantischen Liberalismus wirksam. Hier befindet sich die Kirche (der Kirchentag) im Nebel der Vieldeutbarkeit, hier wird das Schwimmen mit dem Strom der Zeit deutlich. Die Eskalation massiver Irrlehren auf dem Kirchentag ist unbestritten. Dazu zählt auch der Synkretismus der Kirche durch die Mitbeteiligung buddhistischer, hinduistischer und mohammedanischer Vertreter und das Offensein für ihre religiöse Propaganda auf dem Kirchentag.
  5. Die Ökumene. Hier tritt das soziale, politische, humanitäre und moralische Engagement an die Stelle des missionarischen. Die Ökumene ist zur Brutstätte des Zeitgeistes und ein Tummelplatz der Ideologien geworden.
  6. Das Gebet von Assisi 1986. Es stellt eine noch nie dagewesene Einheitsaktion der Ökumene unter der Führung Roms und im Zusammenwirken mit dem Genfer Weltkirchenrat dar, wobei der Weltkirchenrat zu 40 Prozent von deutschen Kirchensteuergeldern finanziert wird. Hier wurde der christliche Absolutheitsanspruch vollkommen aufgegeben.1
  7. Die Weltfriedensversammlung Frieden, Gerechtigkeit und die Schöpfung bewahren wurde durch Carl Friedrich von Weizsäcker propagiert. Dieser Weltfriede hat mit dem Frieden Gottes nichts gemein.
  8. Die evangelische Kirche verlässt massiv die göttlich biblischen Maßstäbe und Ordnungen:

a) durch die Ordination von Frauen zum Hirtendienst in der Gemeinde und zum Bischofsamt,

b) in der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare (Bejahung der Homosexualität),

c) durch ihr Ja, wenn auch begrenzt, zur Abtreibung.

d) In der Predigt hat Gottes Wort oft nicht mehr die uneingeschränkte Autorität, weil auch diese an den Theologischen Fakultäten geleugnet wird.

e) Die Humanität ist an die Stelle der Nächstenliebe getreten und setzt für diese völlig falsche Akzente.

Die evangelische Kirche verlässt massiv die göttlich biblischen Maßstäbe und Ordnungen

Ein weiterer Anlass zu unserem Schritt ist auch die Verwendung unserer nicht geringen Kirchensteuer zu von uns nicht gewollten Zwecken.

Die Bezeugung der Botschaft des Evangeliums mit der zentralen Mitte in der Person Jesu Christi, dem Sohn Gottes, und die in der Schrift uns deutlich gekennzeichnete Gemeinde Jesu als dem Leib Christi ist mir zur Aufgabe geworden, die ich in aller menschlichen Schwachheit weiter erfüllen möchte.

Wir grüßen mit dem Gotteswort:

‚Habe acht auf dich selbst und auf die Lehre; beharre in diesen Stücken. Denn wo du solches tust, wirst du dich selbst retten und die dich hören (1. Timotheus 4,16).‘“2

2.2 Die gegenwärtige Diskussion über die Inner- oder Freikirchlichkeit Gnadaus

Die Erwiderung des Präses des Gnadauer Gesamtverbandes, Christoph Morgner, ließ nicht lange auf sich warten. In einem Brief vom 22. Juni 1993 schrieb er an Willi Quast:

„Lieber Willi, … – Du hast unsrer Kirche den Rücken gekehrt und damit unzähligen Pfarrern und Mitarbeitern, die ganz in unsrem Sinn arbeiten (auch im Siegerland!). Sie spielen für Dich künftig keine Rolle mehr, Du lässt sie allein und gibst sie auf. Das halte ich nicht für verantwortlich, zumal es wesentlich mehr sind, als wir manchmal ahnen. Lassen wir uns doch durch die Medien, die überall zielsicher das Fallobst aufspüren, nicht den Blick für die ganze Wirklichkeit verzerren …

  • Was werden diejenigen Gemeinschaftsleute im Siegerland über Deinen Schritt denken, die sich treu zur Kirche halten, in ihr Verantwortung übernommen haben und sich z.B. als Presbyter engagieren? Die können sich doch nur, weil Dein Beispiel Schule machen wird, aus ihren Gremien zurückziehen und die kirchliche Arbeit anderen Kräften überlassen …
  • Du hast Dich aus der Kirche herausgelöst. Damit hast Du Dich auch des Rechts begeben, künftig auf irgendeine Weise Einfluss zu nehmen. Wer austritt, kann nicht mehr auftreten. Er hat zwar seine persönliche Ruhe, begibt sich jedoch in die Belanglosigkeit.
  • Du bist einen Schritt aus der Weite in die Enge gegangen. Diese Tendenzen beobachte ich im Siegerland mit großem Schmerz …
  • Dein Schritt wird Schule machen. Bald werden Dir die nächsten, wahrscheinlich aus dem Vorstand, auf Deinem Weg aus der Kirche folgen – falls das bei vielen nicht schon geschehen ist. Was wird das für Bedeutung im Blick auf Eure Zugehörigkeit zur deutschen Gemeinschaftsbewegung haben? …

‚Wer glaubt, flieht nicht.‘ Mit Weglaufen verändern wir nichts. Wo wir auch hingehen – ähnliche Probleme sind schon da, nur zeitverzögert und in kleinerem Maßstab. Das zeigen uns doch die Freikirchen zur Genüge.

Die Geschichte des Reiches Gottes sagt uns: Gott hat in einer desolaten Kirche, für die wer weiß wie oft kein Pfifferling mehr gegeben worden ist, immer wieder Erneuerungs- und Erweckungsbewegungen geschenkt. Wenn wir nicht damit rechnen und daran glauben – wie wollen wir dann über Hes 37 predigen?“3

Man ist auf das Wohlwollen des jeweiligen Pfarrers angewiesen

Der Präsesbericht Christoph Morgners von 1996 stellt drei Modelle vor, die in der Zwischenzeit in Gnadau propagiert und toleriert werden:

  1. Ergänzender Dienst: Die Gemeinschaft versteht sich als eine Art geistliche Frischzelle im Körper der Kirchengemeinde. Sie ergänzt deren Angebot etwa durch Kinder- und Jugendarbeit und durch Bibelstunden. Die Kasualien (Taufe, Beerdigungen Hochzeiten) und das Abendmahl bleiben vollständig Aufgabe der Kirchen. Die Gemeinde trifft sich in einem eigenen Gemeinschaftshaus (Typ A) oder aber in kirchlichen Räumen (Typ B). Ein Vorteil ist, wie Morgner sagt, die Nutzung der Infrastruktur der Kirche. Außerdem stehe man nicht in der Gefahr, als Sekte betrachtet zu werden. Man segele im Fahrtwind der Kirche
  2. Partielle Stellvertretung: Der Gemeinschaftsprediger führt im kirchlichen Auftrag anstelle des Pfarrers Kasualien durch. In dieser Hinsicht sind bereits Vereinbarungen getroffen worden. Die Durchführung geschieht allerdings nur in begrenztem Umfang. Diese Handlungen müssen immer im Einzelnen abgesprochen werden. Man ist auf das Wohlwollen des jeweiligen Pfarrers angewiesen.
  3. Alternative Stellvertretung (Richtungs- oder Personalgemeinde innerhalb der EKD). Es handelt sich dabei in erster Linie um Missionsgemeinden in entkirchlichten Großstädten. Morgner: „Dort … wo die Volkskirche geradezu verdunstet ist, brauchen wir evangelische Gemeinden, die sich als Missionsstationen begreifen und entsprechend unkonventionell agieren.“ Das bedeutet, dass ein vollzeitlicher Dienst unabhängig von der parochialen Kirchengemeinde erfolgt, aber man doch innerhalb der Kirche arbeitet. Es gibt dann auch ein Visitationsrecht der Kirche: Die Kirche überprüft die Gemeinde auf ihre Ordnungsmäßigkeit hin.

Die Gemeinschaftsgemeinde erhält keine Zuweisungen bei der Verteilung der Kirchensteuermittel

In Baden etwa gibt es laut § 10 Abs. 2 der landeskirchlichen Grundordnung eine Regelung, die es ermöglicht, neben den (parochialen) Ortsgemeinden auch Personalgemeinden zu gründen. Die Kirche kann aber in Personalfragen der Gemeinschaften mitbestimmen und sich in deren Belange einmischen. So besitzt sie das Recht der Visitation (Überprüfung) und kann etwa darauf dringen, dass der Prediger von einer von der Landeskirche anerkannten Ausbildungsstätte kommen muss.

Hierdurch erklärt sich die überraschende Tatsache, dass immer mehr pietistische Seminare Verträge mit weltlichen Universitäten oder bibelkritischen theologischen Fakultäten schließen, um „anerkannte“ Abschlüsse zu erhalten. Ein hoher Preis! Aber man zahlt nicht nur einen geistlichen, sondern auch einen materiellen Preis aufgrund dieser Verlautbarungen. Es heißt in „Grundsätze zur Bildung von Gemeinschaftsgemeinden innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Württemberg“, die am 12.04.2000 vom württembergischen Oberkirchenrat herausgegeben wurden:

„Die Gemeinschaftsgemeinde erhält keine Zuweisungen bei der Verteilung der Kirchensteuermittel gemäß den allgemeinen Verteilgrundsätzen.“

Aufgrund solcher gravierender Forderungen und Bevormundungen, vor allem aber angesichts der – aus geistlich-biblischer Sicht betrachtet – immer unerträglicher werdenden Missstände in der EKD gibt es mittlerweile – gegen den Willen des Gnadauer Präses – ein viertes Modell:

Selbstständige Gemeinden: Hierbei gehören Gemeinden nur noch dem Gemeinschaftsverband, nicht aber der Kirche an. Diese Möglichkeit haben die Väter immer offen gelassen. Volker Heckl, der Direktor der Evangelischen Gesellschaft, sagte bereits in seinem Jahresbericht von 1993:

„Die vierte Form wäre die ‚selbständige Gemeinde‘ als ‚freie Gemeinde‘ außerhalb der Landeskirche aber innerhalb des Gemeinschaftsverbandes. Hier bestehen keine Rechte und Pflichten mehr gegenüber der Landeskirche. Diesen Zustand könnte man bezeichnen als ‚Konkurrenz‘. Alle diese vier Formen haben wir in der Evangelischen Gesellschaft in Deutschland. Diese Pluralität muss auch bei uns möglich sein, wenn denn die Gemeinschaftsbewegung die ekklesiologische Frage nicht zur obersten Norm erhebt.“ 4

Es gibt eine „Arbeitsgemeinschaft Modell Vier“, die zur Zeit in Heuchelheim bei Gießen ihren Sitz hat. Sie vertritt folgende Ziele.

  1. Stärkung und Zusammenführung der bestehenden Gemeinschaften dieser Art und Ermutigung weiterer Gemeinschaften, dieses Modell zu praktizieren.
  2. Initiative zum Bleiben innerhalb des Deutschen Gemeinschaftsverbandes und der segensreichen Tradition ihrer Gründerväter.
  3. Klare, unverfälschte Verkündigung der biblischen Wahrheiten ohne Verwässerung durch theologische und politische Verwirrungen

Argumente und Gegenargumente zum Kirchenaustritt

  1. Gnadau hat seine grundsätzliche Platzanweisung in der Kirche. Wir haben uns diesen Standort nicht ausgesucht. Wir finden ihn vor. Gegenargument: Darf das vermeintliche Wissen um eine Platzanweisung absolut und für alle Zeiten in den Raum gestellt werden? Darf es auch dann noch behauptet werden, wenn sich die kirchlichen Verhältnisse so grundlegend und schwerwiegend geändert haben, dass schon die Gestalt der antichristlich-babylonischen „Hure“ aus Offenbarung 17 und 18 am Horizont auftaucht?
  2. Absonderung ist Pharisäismus. Wer sich separiert, ist automatisch der Schuldige an der Spaltung. Gegenargument: Separatismus um seiner selbst willen wäre in der Tat zu kritisieren, aber nicht Absonderung aufgrund von vorhandenen Verführungen und Irrlehren (vgl. 2. Kor 6,14-18 u.a.).
  3. Die Kirche ist die kranke Mutter, die man nicht im Stich lassen darf. Solange wir von ihr nicht abgewiesen werden, müssen wir alles tun, um ihr zu helfen. Wer sie verlässt, disqualifiziert sich moralisch und lässt diejenigen im Stich, die dort treu ihren Dienst tun. Gegenargument: Es kann – gerade in der Endzeit mit ihren Umwälzungen – keine Vasallentreue um jeden Preis geben. Wer sich von einer Institution nicht trennt, welche die Sünde toleriert oder inzwischen sogar „segnet“ – der setzt ein falsches Signal und macht sich dadurch an der Verwirrung der Seelen mitschuldig.
  4. Die Botschaft der Propheten besteht nicht in der Absonderung des reinen Restes, sondern im Ruf zur Umkehr des ganzen Volkes. Gegenargument: Die Propheten haben Gericht und Gnade verkündet, aber eben auch Gericht. Niemals hätten sie die „Segnung“ von Sünde gebilligt, wie dies heute innerhalb der EKD und anderen Kirchen geschieht. Jahrzehntelange Proteste und Warnungen an die Adresse von Kirchenleitungen haben so gut wie nichts gebracht.
  5. Gott wirkt noch in der Volkskirche Gegenargument: Er wirkt noch mehr in Freikirchen und unabhängigen Gemeinden, soweit diese ungeteilt auf der Grundlage der Heiligen Schrift stehen.
  6. Die Kirche steht auf dem Boden von Bibel und Bekenntnis Gegenargument: Dies ist heute keineswegs mehr eindeutig der Fall. Außerdem muss das formale Bekenntnis mit der kirchlichen Praxis übereinstimmen. Diese weicht aber mehr und mehr von den auf dem Papier noch existierenden Bekenntnissen ab. Lehrzuchtverfahren wegen Irrlehren kommen so gut wie nicht mehr vor.
  7. Die Kirche hat überall noch Ansehen Gegenargument: Auf dem Land vielleicht, aber nicht mehr in der Stadt. Außerdem handelt es sich um ein rein „menschliches“ Argument, welches für einen echten Christen stets hinter den Gehorsam gegenüber Gott zurückzutreten hat.
  8. Die Kirche besitzt eine gute Infrastruktur (Geld, Gebäude etc.), die wir nutzen können. Gegenargument: Oft bekommt man die Gelder (z.B. aus Kirchensteuern) gar nicht, auf die man hofft (s.o.). Vor allem aber sind Wahrhaftigkeit und Übereinstimmung mit der biblischen Wahrheit unendlich viel wichtiger als solch vordergründige Argumente, wenn eine Gemeinde im Segen wirken will.5

3. Der Pietismus und der Zeitgeist

3.1 Die gegenwärtige innere Gespaltenheit der pietistischen und evangelikalen Bewegung

Niemals hätten biblische Propheten die „Segnung“ von Sünde gebilligt, wie dies heute innerhalb der EKD und anderen Kirchen geschieht

Im Jahre 2000 erschien in England ein Buch mit einem äußerst provokativen Titel: „Evangelicalism Divided“, zu deutsch: „Die Evangelikalen sind gespalten“. Autor ist Iain H. Murray, der frühere Assistent von Dr. Martyn Lloyd-Jones (1899-1981). Murray dokumentiert darin „die verhängnisvolle Veränderung in den Jahren 1950 bis 2000“ (so der Untertitel seines Buches), die von der biblischen Klarheit und Eindeutigkeit hin zur unbiblischen Verwässerung und Ökumenisierung der Evangelikalen geführt hat. Diese Veränderung führt Murray u.a. auf den Einfluss des immer liberaler gewordenen theologischen Fuller-Seminars in den USA sowie des bekannten Evangelisten Billy Graham zurück.

Wie Murray ausführlich belegt, hat Graham – im Gegensatz zu seinen Anfängen – seit den 50er Jahren in seinen Evangelisations-Feldzügen eine immer weitere Öffnung bezüglich seiner Partner vorgenommen – bis hin zu liberalen Kirchen und Rom. Er hat schließlich sogar darauf verzichtet, erweckte und bekehrte Menschen in eindeutig bibeltreue Gemeinden zu schicken.

Als Höhepunkt im Zusammenhang dieser Entwicklung ist das im Jahre 1994 in den USA veröffentlichte Dokument zu werten: „Evangelicals and Catholics Together“ („Evangelikale und Katholiken gemeinsam“), das u.a. von führenden Evangelikalen wie Charles Colson, Richard Land, Brian O’Connell, Bill Bright, Os Guiness, James Packer und Pat Robertson unterzeichnet ist. Darin wird – trotz Benennung fundamentaler Unterschiede – behauptet: „Evangelikale und Katholiken sind Brüder in Christus“ und dazu aufgerufen, auf „Proselytenmacherei“ (also „Abwerbung“ von den jeweiligen Kirchen) zu verzichten.

3.2 Spaßkultur gegen Ernsthaftigkeit

In dem Buch „Was will der Pietismus?“ aus dem Jahre 2002 führte der Studienleiter am (pietistischen) Albrecht-Bengel-Haus, Tübingen, Volker Gäckle, unter der Überschrift „Fromme Wünsche in veränderter Zeit – Herausforderungen für den Pietismus im 21. Jahrhundert“ Folgendes aus:

„Während die überkommene pietistische Gemeinschaftsstunde ebenso wie die traditionellen Konferenzen sich als überaus formkonservativ zeigen und offensichtlich v.a. die Bedürfnisse älterer Glieder bedienen, erweist sich die pietistische bzw. evangelikale Jugend im Blick auf Gemeinschafts- und Veranstaltungsformen vielfach als sehr innovativ, kreativ und damit auch progressiv. Entsprechend kommt es heute zu dem skurrilen Phänomen, dass junge Pietistinnen ihrem Glauben mit heißem Herzen und glühender Jesusliebe Samstag nachts um 2 Uhr in HipHop-Sprechgesang, Szene-Chargon, mit grellgrün gefärbtem Haar, bauchnabelfrei und mit evangelistischem Anspruch Ausdruck verleihen, während sich ihre Väter und Großväter in der Gemeinschaftsstunde Sonntag mittags um 14 Uhr treffen, um dort dieselben pietistisch-evangelikalen Glaubensinhalte am Brüdertisch zu predigen. Die Töchter schlafen derweil noch aus. … Es wird für die Zukunft des Pietismus entscheidend sein, diese innovative Kraft nicht zuletzt auch im Bereich der Gemeinschaftsformen wieder zu entdecken.“6

„Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein“

Das missionarische Anliegen in Ehren, aber hier stellt sich die Frage, ob dieses „bauchnabelfreie Szene-Christsein“ wirklich noch mit der Heiligen Schrift, z.B. Eph 5 in Einklang ist:

„Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen gehört. Auch schandbare und närrische oder lockere Reden stehen euch nicht an, sondern vielmehr Danksagung … Lebt als Kinder des Lichts! … Seht

sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt! … Sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt … Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem HERRN in eurem Herzen!“

Rainer Wagner bringt in seinem Buch „Gemeinde Jesu zwischen Spaltungen und Ökumene“ erschütternde Beispiele für die heutige – endzeitliche! – Verweltlichung bei vielen, die sich „Pietisten“ und „Evangelikale“ nennen, ohne dies noch im Sinne der Heiligen Schrift und der Väter wirklich zu sein. Zunächst weist er auf die schleichende Veränderung hin:

„Vor einigen Jahrzehnten meinten pietistisch geprägte Gemeinden, Musik und Kultur der Welt nutzen zu müssen, um so besser Außenstehende erreichen zu können. Später ging man weiter und hielt weltliche Elemente der Unterhaltungsindustrie auch für die Gestaltung des Gemeindelebens für nötig. Die jüngere Generation sollte so besser angesprochen werden. Heute gleichen viele Glaubenskonferenzen in weiten Teilen der ´Wetten-dass-Show` des Blödelmeisters Thomas Gottschalk. Ja, selbst Tagungen für Pastoren und Prediger verlaufen in ähnlichem Stil. In Mitarbeiterschulungen versucht man, Gemeindeglieder mit Methoden zum Dienst zu motivieren, wie es Unternehmensberater und Motivationstrainer in ihren Seminaren machen.“7

4. Der Pietismus und die Bibel

4.1 Wo beginnt Bibelkritik?

Das Verhältnis zwischen Pietismus und Bibel war schon bei den „Vätern“ nicht immer ganz eindeutig

Die Bibelfrage ist die entscheidende Frage. Aus dem Verhältnis zur Bibel ergibt sich entweder ein fester, klarer Standpunkt oder aber ein Schwanken und Spekulieren auch auf anderen Gebieten. Das Verhältnis zwischen Pietismus und Bibel war schon bei den „Vätern“ nicht immer ganz eindeutig. Manche Fehlentwicklungen lassen sich daraus erklären, dass man das Wort Gottes in Gestalt der Heiligen Schrift nicht ganz ernstnahm und eigenwillig darüber hinausging.

So tobt auch innerhalb der pietistisch-evangelikalen Bewegung seit vielen Jahren immer wieder ein Kampf um die Bibelfrage, sei es zwischen verschiedenen Seminaren in den USA (z.B. Fuller und Dallas), sei es in der deutschen Gemeinschaftsbewegung der 50er Jahre (der Gnadauer Präses Walter Michaelis votierte bereits damals gegen die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift), sei es in den virulent immer vorhandenen, aber seit der Jahrtausendwende mit neuer Schärfe aufgebrochenen Diskussionen über die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel.

Bibelkritik beginnt nicht erst da – wo die Jungfrauengeburt Jesu Christi, seine Wunder, die sühnende Wirkung seines Todes am Kreuz, seine wirkliche, leibliche Auferstehung von den Toten, seine Himmelfahrt und Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit geleugnet, umgedeutet oder relativiert werden oder wo bestritten wird, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.

Bibelkritik beginnt schon da,

  • wo biblische Schriften gegen ihren Selbstanspruch in verschiedene „Quellen“ aufgeteilt werden;
  • wo ihre Entstehung in eine andere Zeit datiert wird, als es die biblischen Schriften selber bezeugen;
  • wo ihre Entstehung anderen Verfassern zugeschrieben wird als denen, die in den jeweiligen Schriften genannt sind;
  • wo behauptet wird, dass die von Jesus Christus in den Evangelien überlieferten Worte nicht alle von ihm stammen;
  • wo die Erfüllung von Prophezeiungen in den biblischen Schriften in andere Zeiträume verlegt wird, als es an den betreffenden Stellen ausdrücklich vermerkt ist;
  • wo behauptet wird, die Bibel sei in naturwissenschaftlicher, geographischer und historischer Hinsicht nicht irrtumslos.

Aus solcher angeblich „gemäßigten“ Bibelkritik (Kritik an der Entstehung und Einheit der biblischen Schriften) folgt früher oder später die „radikale“ Kritik (Kritik an den in der Bibel berichteten Inhalten), da die angeblich „gemäßigte“ Kritik dazu beiträgt, die Autorität der Bibel insgesamt zu untergraben und den Glauben an die Inspiration der Bibel durch Gott zu zerstören.

4.2 Der Kernpunkt der Diskussion über Bibeltreue unter Pietisten

Im evangelikalen Bereich ist der Streit um die Bibel neu entflammt. Kurz zusammengefasst geht es um die Frage: Ist die Bibel nur auf dem Gebiet des christlichen Glaubens und Lebens absolut zuverlässig (Unfehlbarkeit) – oder ist sie auch in historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Fragen (z. B. Sechs-Tage-Schöpfung, Sintflut, einheitliche Verfasserschaft der fünf Mosebücher, der Propheten Jesaja, Sacharja u. a.) Gottes absolut zutreffendes Wort (Irrtumslosigkeit)?

Während die Unfehlbarkeit der Bibel in Glaubens- und Lebensfragen unter Evangelikalen weithin unstrittig ist, wird die Diskussion über die Irrtumslosigkeit auf historischem, geographischem und naturwissenschaftlichem Gebiet zum Teil heftig geführt. Das große Problem dabei ist die Vermischung und philosophische Übertünchung der Begriffe. So wird von Verfassern, die die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift auf naturwissenschaftlichem, historischem und geographischem Gebiet ablehnen oder zumindest hinterfragen, trotzdem die Bezeichnung „bibeltreu“ in Anspruch genommen. Und so wird von Seminaren, die sich der historisch-kritischen Theologie geöffnet haben, sogar behauptet, sie seien „an Bibeltreue nicht zu überbieten“ (so etwa H. Hempelmann von Liebenzell).

4.3 Warnung auch vor „gemäßigter“ Bibelkritik

Bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts – kurz vor seinem Heimgang – warnte Friedrich

Seit einiger Zeit wird auch hin und her in Predigerseminaren
Bibelkritik getrieben

Heitmüller, der frühere Vizepräses des Gnadauer Verbandes, eindringlich vor der gemäßigten Bibelkritik. Ihm soll in dieser Diskussion das letzte Wort gehören. Heitmüller schreibt:

„Wir stehen vor dem Tatbestand, dass auch im Raum des Pietismus die ‚gemäßigte‘ Bibelkritik ihren Eingang gehalten hat. Seit einiger Zeit wird auch hin und her in Predigerseminaren Bibelkritik getrieben, wenn auch nicht mit dem ehrfurchtslosen gott- und christusfeindlichen Radikalismus Bultmanns und seiner Schüler, so doch in der Verneinung der Inspiration der Bibel durch den Heiligen Geist und in der Bejahung der Notwendigkeit einer ‚zweifachen Buchführung‘, das heißt, einer Unterscheidung zwischen zuverlässigen heilsgeschichtlichen Wahrheiten und unzuverlässigen, sich widersprechenden profangeschichtlichen (= naturkundlichen, geschichtlichen) und sonstigen Aussagen. Auch die ‚gemäßigte‘ Bibelkritik spricht von ‚Irrtümern‘ und ‚Widersprüchen‘, die nun einmal zur ‚Knechtsgestalt‘ der Bibel gehören sollen, und sie machen uns den Vorwurf, dass die Bibel für uns ein ‚papierener Papst‘ sei, und dass wir das Wort des Apostels Paulus: ‚Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig‘ (2Kor 3,6), offenbar nicht kennten. Sie wissen nicht, dass Paulus mit dem ‚Buchstaben‘ nicht den Text des Alten und Neuen Testamentes, sondern das alttestamentliche Gesetz vom Sinai meint.“8

5. Wohin geht der Pietismus?

Je mehr der Pietismus sich dem Denken und Geschmack der „Masse“ anpasst, umso mehr wird er von dieser vereinnahmt

Entweder: Der Pietismus geht weiter auf dem eingeschlagenen Weg. Dann verliert er mehr und mehr seine geistliche Vollmacht und wird mit der Endzeitkirche und -Gesellschaft eins, die auf das Kommen des Antichristen und seines falschen Propheten zusteuert. Dieser Weg ist der breite Weg der großen Masse, der ins Verderben führt (Mt 7,13). Je mehr der Pietismus sich dem Denken und Geschmack der „Masse“ anpasst, umso mehr wird er von dieser vereinnahmt und in seiner prophetischen Beauftragung gelähmt werden. Umso mehr verliert er seine Kraft, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ zu sein (Mt 5,13 ff.). Umso mehr wird er „lau“ werden – und der Herr wird ihn – wie die Gemeinde von Laodizäa – „ausspucken“ aus seinem Munde (Offb 3,16).

Oder: Der Pietismus kehrt um. Er nimmt die Heilige Schrift und das Erbe der Väter ernst, die in ihrer Zeit die Menschen aus einer oberflächlich gewordenen Orthodoxie zu einer Vertiefung ihres Glaubenslebens riefen. Dies wird sicherlich nicht der Weg der Mehrheit – auch nicht innerhalb des Pietismus – sein, aber es ist der schmale Weg (Mt 7,14) der kleinen Schar, der in der Endzeit eine besondere Verheißung hat: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben“ (Lk 12,32).

Wie kann diese Umkehr aussehen? In Anknüpfung an Philipp Jakob Speners programmatische Schrift nenne ich sieben „fromme Wünsche“ (lat.: „Pia Desideria“) an den Pietismus (also nicht: des Pietismus).9 Unter die Adressaten reihe ich mich ausdrücklich ein, denn ich weiß sehr gut um meine eigene Unvollkommenheit.

  1. Wir Pietisten sollten wieder umkehren zum unverfälschten, unverkürzten, unfehlbaren und irrtumslosen Wort Gottes in Gestalt der Heiligen Schrift.
  2. Allein der dreieinige Gott der Bibel – Vater, Sohn und Heiliger Geist – soll im Zentrum unseres Glaubens stehen, insbesondere Jesus Christus als der einzige Weg zu Gott dem Vater, als der einzige Herr und Erlöser, der das vollständige und vollkommene Opfer für unsere Sünden am Kreuz von Golgatha vollbracht hat (Hebr 9).Wir Pietisten sollten Acht geben, dass wir im „ökumenischen Zeitalter“ nicht einen anderen Christus annehmen, etwa den „Christus in der Hostie“. Wir sollten auch keinen Christus verehren, der auf einer gnostisch-kabbalistischen Stufenleiter von Geistwesen steht oder uns in mystischer Weise in einer „Ikone“ begegnet. Und vor allem keinen Christus, der in einer Linie mit Show-Unterhaltern und „Lachkünstlern“ zitiert wird. Denn dies ist nicht der biblische Herr Jesus Christus, sondern eine von Menschen erfundene irdische Gestalt. Bewahren wir als Pietisten doch die Ehrfurcht vor dem heiligen und allmächtigen Gott!
  3. Wir Pietisten sollten mit der biblisch-reformatorischen Erkenntnis Ernst machen, dass der Mensch nicht aufgrund seiner eigenen Werke gerettet wird, sondern allein aufgrund der Gnade und Barmherzigkeit Gottes durch die Erlösung Jesu Christi, die der bußfertige Sünder im Glauben erfasst (Röm 3,24-28).
  4. Wir Pietisten sollten zurückkehren zu der Erkenntnis und dem Vertrauen, dass Gott die Macht hat, durch sein richtig – und das heißt: bibeltreu – gepredigtes Wort Menschen zu bekehren.Wir sollten keine Formen, Mittel und Methoden in Gottesdienst und Evangelisation verwenden, die von diesem Wort ablenken oder gar in Widerspruch zu ihm treten. Stellen „Rahmenprogramme“, die der Fernseh-Unterhaltungskultur entnommen sind, das „Wort vom Kreuz“, das für diese Welt ein „Ärgernis“ ist (1Kor 1,18ff.), nicht doch auf die Ebene dieser Welt?
  5. Wir Pietisten sollten daran festhalten oder es wieder ganz neu lernen, die Wahrheit in Liebe zu sagen und aus Liebe die Wahrheit nicht zu verschweigen (vgl. Eph 4,15).Tendierte man früher eher zur „Wahrheit ohne Liebe“, so ist in unserer harmoniebedürftigen Zeit das Pendel stark in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen. Wer sich auf Gottes Wort beruft und es wagt, Irrlehren und Missstände beim Namen zu nennen, wird – auch in pietistischen Kreisen – unter Umständen schnell als „Querulant“ gebrandmarkt. Wenn wir es aber nicht mehr wagen, uns auf die Bibel zu berufen, geben wir nicht nur die Wahrheit, sondern den Herrn selber preis!
  6. Wir Pietisten sollten uns fragen, ob wir auf Gedeih und Verderb in einer Kirche bleiben können, die sich in immer größeren Schritten von Gottes Wort und Seinen Geboten entfernt.Die Kirche zur Zeit von Philipp Jakob Spener war – trotz aller Missstände auch damals – noch nicht in einen solchen offensichtlichen Gegensatz zu Gottes Wort getreten, wie dies heute der Fall ist. Spener besaß noch Hoffnung für eine Reform der Kirche, die dann zum Teil auch eintrat. Gibt es auch heute noch solche Hoffnung? Ich wage es zu bezweifeln, da wir in einer endzeitlichen Lage stehen und die Zeichen der Zeit sich erfüllen.
  7. Wir Pietisten sollten in froher Erwartung der Wiederkunft unseres HERRN Jesus Christus entgegenschauen und bereit sein für den Eintritt in sein Reich.

  1. 1986 haben Vertreter vieler Religionsgemeinschaften gemeinsam mit Repräsentanten großer christlichen Kirchen um den Weltfrieden zu Götzen, Dämonen und Ahnengeistern „gebetet“ oder meditiert. 

  2. Austrittsbrief von Willi Quast; zit. nach: Idea-Dokumentation Nr. 16/93, S. 19. 

  3. Brief von C. Morgner an W. Quast vom 22. Juni 1993; zit. nach Idea-Dokumentation Nr. 16/1993, S. 20 ff. 

  4. Volker Heckl, Jahresbericht der EG, 1993, S. 12. 

  5. Die Argumente stammen im Wesentlichen vom Gnadauer Präses Christoph Morgner, insbesondere aus seinem Präsesbericht von 1996, sowie von Klaus Bockmühl, auf den sich Morgner zum Teil beruft. 

  6. H. Schmid (Hg.), Was will der Pietismus?, Tübingen/Holzgerlingen 2002, S. 202 f. 

  7. R. Wagner, Gemeinde Jesu zwischen Spaltungen und Ökumene, Wuppertal 2002, S. 107. 

  8. F. Heitmüller, Warnung auch vor „gemäßigter“ Bibelkritik (1963), in: H. Jochums (Hg.), Die Bibel ist Gottes Wort, Wuppertal 2000, S. 75 ff. 

  9. „Neue Pia Desideria“ wurden in der letzten Zeit mehrfach formuliert, freilich mit unterschiedlicher Zielrichtung (so z.B. von H. Bräumer, Pietismus 2000, Holzgerlingen 1999; V. Gäckle, in: Schmid 2002, S. 189-218).