Vor gut 40 Jahren dringt der Begriff „evangelical“ aus der englischen Sprache in die deutsche ein. Man findet ihn in deutscher Übersetzung („evangelikal“) seit 1965 im Evangelischen Allianzblatt, der damaligen Zeitschrift der Deutschen Evangelischen Allianz. Später übernimmt ihn die evangelische Nachrichtenagentur idea und macht ihn einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Heute findet man den Begriff in fast jedem Lexikon erklärt. Fernsehsendungen und Zeitungsartikel informieren über die Evangelikalen. Leider sind die Informationen nicht immer seriös. Manchmal sind die Beiträge einseitig und ihre Verfasser erweisen sich als schlecht informiert.
Zwei Beispiele:
Die „Tagesthemen“ vom 7. November 2005 wollten aus Anlass der in jenen Tagen stattfindenden EKD-Synode über wachsende protestantische Gemeinden berichten. Dazu stellten sie ausgerechnet eine englischsprachige internationale Baptistengemeinde in Stuttgart vor, die überhaupt nichts mit der EKD zu tun hat. Gibt es keine wachsenden deutschsprachigen, zur evangelischen Kirche gehörenden Gemeinden, die man hier hätte porträtieren können?
Noch uninformierter verhielten sich die Redakteure des ARD-Beitrags „Jesus’ junge Garde – die christliche Rechte und ihre Rekruten in Deutschland“ vom 16. November 2005. Man wollte über die Evangelikalen in Deutschland berichten und wählte dazu die aus den USA stammende charismatische Jugendbewegung „The Call“ aus. Diese erst im Jahr 2003 in Berlin entstandene Organisation ist selbst evangelikalen Experten nicht bekannt und kann in keiner Weise als repräsentativ für den deutschen Evangelikalismus gesehen werden. Den Zuschauern wurde ein völlig verzerrtes Bild der deutschen Evangelikalen Bewegung (EB) geboten.
Was bedeutet „evangelikal“?
Der DUDEN (Bd. 1) definiert evangelikal als die unbedingte Autorität des Evangeliums vertretend. Das ist ohne Zweifel korrekt. Doch diese Definition würden auch viele Protestanten und Katholiken für sich in Anspruch nehmen, ohne mit den Evangelikalen identifiziert werden zu wollen. Deshalb muss exakter definiert werden.
Die deutschen Evangelikalen sammelten sich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Protestbewegung gegen theologischen Liberalismus und Bibelkritik. Evangelikale entstanden also in jener Zeit, als Evangelische nicht mehr wirklich evangelisch waren. Wären die Evangelischen bei ihren eigenen, in der Reformationszeit formulierten Grundlagen geblieben, hätte es wahrscheinlich keine evangelikale Bewegung gegeben. Die Protestanten haben aber weithin seit der Aufklärung das verlassen, wofür sie einst bereit waren zu sterben:
- Die Bibel wird nicht mehr als Wort Gottes verstanden, sondern nur noch als religionsgeschichtliches Zeugnis der Antike.
- Jesus Christus wird nicht mehr als Sohn Gottes verehrt, sondern nur noch als vorbildlicher Mensch angesehen.
- Der christliche Glaube wird nicht mehr als der allein selig machende akzeptiert, sondern nur noch als eine Religion unter anderen betrachtet.
Evangelikale halten – trotz Aufklärung und Rationalismus – an den orthodoxen christlichen Glaubensüberzeugungen fest, wie sie in der Bibel zu lesen und über die Jahrhunderte in den Kirchen vertreten worden sind: Jesus ist wirklich von der Jungfrau Maria geboren worden; er tat wirklich die Wunder, die wir in den Evangelien lesen; er starb wirklich stellvertretend für die Sünden der Menschen und wurde am dritten Tage von den Toten auferweckt; er wird wirklich sichtbar wiederkommen und sein Reich aufrichten.
Hinzu kommt, dass Evangelikale das persönliche Glaubensleben betonen. Es genügt nicht, christliche Überzeugungen formal für wahr zu halten. Vielmehr will der Glaube im Alltag Gestalt gewinnen. Deshalb haben für Evangelikale Gebet, Bibelstudium und Gemeinschaft mit anderen Christen einen hohen Stellenwert. Auch die missionarische Weitergabe des Glaubens gehört zu den wichtigsten Aufgaben jedes Christen. Denn Jesus Christus hat gesagt: Verkündigt das Evangelium in der ganzen Welt! (Matthäus 28,18-20).
Mit fünf Punkten lässt sich definieren, was evangelikal bedeutet:
- Die Bibel ist Gottes Wort und deshalb autoritativ für Glauben und Leben. Bibelkritik wird als unsachgemäß abgelehnt.
- Jesus von Nazareth ist der Mensch gewordene, für unsere Sünden gestorbene und auferstandene Sohn Gottes, in dem allein wir durch Glauben Heil und ewiges Leben finden. Andere Religionen werden nicht als Heilswege anerkannt.
- Gebet, Bibelstudium und Gemeinschaft mit anderen Christen sind konstitutiv für jede christliche Existenz. Eine passive Kirchenmitgliedschaft widerspricht sich daher selbst.
- Christliches Leben konkretisiert sich in Mission und Diakonie. Glaube ohne Werke ist tot.
- Jesus Christus wird sichtbar wiederkommen und diese Welt vollenden. Die Menschheit kann aus eigener Kraft kein Paradies schaffen.
Eigentlich sind diese Punkte – zumindest jeweils in ihrem ersten Teil – genuin christliche Überzeugungen, wie sie durch die Jahrhunderte mit großer Selbstverständlichkeit von der Christenheit vertreten wurden. Deshalb behauptet auch der englische (evangelikale) Theologe John Stott:
„Wenn ‚evangelikal‘ eine Theologie beschreibt, dann ist es die biblische Theologie. Die Evangelikalen behaupten, dass sie ganz einfach biblische Christen sind …“
Dennoch kann man nicht behaupten, dass Paulus, Augustinus, Luther und Calvin schon Evangelikale waren. Zwar würden die genannten Personen jeweils dem ersten Teil der fünf Definitionskriterien zustimmen, doch mit dem zweiten Teil könnten sie nicht immer etwas anfangen. Die Bibelkritik zum Beispiel kam erst nach der Reformation auf und entfaltete im 20. Jahrhundert ihre volle Wirksamkeit. Ohne die Bibelkritik hätte es jedoch nie eine EB gegeben. Daher formiert sich die deutsche EB erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In den USA dagegen entstand sie, wie wir noch sehen werden, etwas früher.
Mit den genannten fünf Kriterien identifizieren sich Christen aus den unterschiedlichsten Kirchen. Deshalb findet man auch Evangelikale unter den Lutheranern, Reformierten, Baptisten, Anglikanern, Methodisten, Mennoniten und auch unter Katholiken. Die Evangelikalen gehören also einer transkonfessionellen Erneuerungsbewegung an und wollen in den unterschiedlichsten Denominationen zu einer Rückbesinnung auf das biblische Erbe und zu einer geistlichen Belebung beitragen. Allerdings gibt es inzwischen auch erste Gemeinden und Gemeindeverbände, die das Wort „evangelikal“ als Selbstbezeichnung aufgenommen haben (die „Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Gemeinden“ in Deutschland und die „Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Gemeinden“ in Österreich).
Die Zweige der Evangelikalen
Am Baum der deutschen Evangelikalen lassen sich vier große Zweige erkennen, zu denen jeweils wieder viele kleine Äste gehören (siehe auch Seite 86-87). Die vier Zweige sind:
- die Allianz-Evangelikalen
- die Bekenntnis-Evangelikalen
- die Pfingst-Evangelikalen
- die unabhängigen Evangelikalen
A. Die Allianz-Evangelikalen
Hiermit sind jene Evangelikalen gemeint, die sich von der Evangelischen Allianz vertreten fühlen. (Die Allianz-Evangelikalen könnten auch zutreffend als „pietistische Evangelikale“ bezeichnet werden, weil die Evangelische Allianz stark von der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus geprägt worden ist. Doch möchte ich bewusst bei dem Begriff Allianz-Evangelikale bleiben. Denn zu den pietistischen Evangelikalen würden auch Pfingstler zu rechnen sein; sie sind in Deutschland aus der pietistischen Gemeinschaftsbewegung erwachsen und weisen bis heute typisch pietistische Frömmigkeitsmerkmale auf. Da jedoch – trotz einer Annäherung von Evangelischer Allianz und Pfingstbewegung und trotz der Tatsache, dass sich viele Pfingst-Evangelikale von der Allianz vertreten fühlen – viele Allianz-Evangelikale noch eine distanzierte Haltung zu den Pfingstlern einnehmen, erscheint es wenigstens gegenwärtig noch sinnvoll, auch terminologisch den Unterschied zwischen Allianz-Evangelikalen und Pfingst-Evangelikalen durchzuhalten.)
Die Evangelische Allianz wurde 1846 in London als eine überkonfessionelle Bewegung ins Leben gerufen. 921 Vertreter aus mehr als fünfzig verschiedenen Kirchen trafen sich, um Christen näher zusammenzuführen. Man hatte den Wunsch, in Zukunft enger zusammenzuarbeiten, da man entdeckt hatte, dass es überzeugte Christen in allen Denominationen gibt und ihre Übereinstimmung in Glaubensfragen viel größer ist als das Trennende. Es sollte jedoch keine neue Kirche entstehen, sondern eine überkonfessionelle Arbeitsgemeinschaft derer, die an Jesus Christus glauben.
Es wurde eine Glaubensbasis beschlossen, zu der sich jeder bekennen muss, der in der Allianz mitarbeiten möchte. Diese Basis stellt bis heute eine Art Glaubensbekenntnis vieler Evangelikaler dar. Es lautet in seiner revidierten Fassung von 1972:
„Als Mitglieder der Evangelischen Allianz bekennen wir uns zur Offenbarung Gottes in den Schriften des Alten und Neuen Testaments. Wir heben folgende biblische Leitsätze hervor, die wir als grundlegend für das Verständnis des Glaubens ansehen und die uns als Christen zu gegenseitiger Liebe, zu praktischem Dienst und evangelistischem Einsatz eine Hilfe sein sollen.
- Die Allmacht und Gnade Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in Schöpfung, Offenbarung, Erlösung und Endgericht.
- Die göttliche Inspiration der Heiligen Schrift, ihre völlige Zuverlässigkeit und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.
- Die völlige Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen.
- Das stellvertretende Opfer des Mensch gewordenen Gottessohnes als einzige und allgenugsame Grundlage der Erlösung von der Schuld und Macht der Sünde und ihren Folgen.
- Die Rechtfertigung des Sünders allein durch die Gnade Gottes aufgrund des Glaubens an Christus, der gekreuzigt wurde und von den Toten auferstanden ist.
- Das Werk des Heiligen Geistes, der Bekehrung und Wiedergeburt des Menschen bewirkt, im Gläubigen wohnt und ihn zur Heiligung befähigt.
- Das Priestertum aller Gläubigen, die die weltweite Gemeinde bilden, den Leib, dessen Haupt Christus ist, und die durch seinen Befehl zur Verkündigung des Evangeliums in aller Welt verpflichtet sind.
- Die Erwartung der persönlichen, sichtbaren Wiederkunft des HERRN Jesus Christus in Macht und Herrlichkeit. Das Fortleben der von Gott gegebenen Personalität des Menschen. Die Auferstehung des Leibes zum Gericht und zum ewigen Leben der Erlösten in Herrlichkeit.“
Es fällt auf, dass in diesem Credo zwar die typisch evangelikalen Glaubensüberzeugungen artikuliert werden, jedoch Streitthemen ausgeklammert sind. Denn unter den Evangelikalen, die – wie oben angedeutet – aus den unterschiedlichsten Konfessionen kommen, gibt es keine Einheit über das Verständnis der Sakramente. So halten etwa lutherisch geprägte Evangelikale an der in ihrer Kirche praktizierten Säuglingstaufe fest. Baptistische Evangelikale dagegen lehnen diese ab und anerkennen nur die Glaubenstaufe. Auch beim Abendmahlsverständnis gibt es Unterschiede, die allerdings in der evangelikalen Welt nicht so hohe Wellen schlagen wie die Tauffrage. Die Verfasser der Glaubensbasis der Allianz haben diese Streitthemen bewusst ausgeklammert. Denn nach evangelikaler Überzeugung sind die Sakramente nicht heilsnotwendig; auch findet man im Apostolischen Glaubensbekenntnis, das eines der wichtigsten Bekenntnisse der Christenheit ist, keinerlei Erwähnung der Sakramente.
Die Evangelische Allianz fasste nur langsam in den Ländern Europas und später auch weltweit Fuß. Es gab mancherorts Angst davor, die Allianz könnte sich zu einer neuen Kirche entwickeln und so den konfessionellen Frieden stören. Doch bis heute ist die Allianz eine Bewegung von Christen aus Landes- und Freikirchen geblieben und hat der Versuchung widerstanden, eine „Allianzkirche“ ins Leben zu rufen. Vor allem drei Aufgaben verfolgt die Evangelische Allianz: Sie ruft jeweils am Anfang eines neuen Jahres zur Allianz-Gebetswoche auf, sie initiiert Großevangelisationen wie etwa (früher) die Veranstaltungen mit Billy Graham oder (heute) die ProChrist-Vortragsreihen mit Ulrich Parzany, und sie setzt sich für die weltweite Ausbreitung des Evangeliums ein. Daneben entfaltet die Allianz auch gesellschaftspolitisches Engagement: Sie setzt sich für Religionsfreiheit ein und kämpft gegen Armut und für die Einhaltung der Menschenrechte. Im 19. Jahrhundert bedeutete dies zum Beispiel, sich für die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen. Heute setzt sich die Allianz für das Lebensrecht Ungeborener ein und macht immer wieder auf den Skandal der hohen Abtreibungszahlen aufmerksam.
B. Die Bekenntnis-Evangelikalen
Bekenntnis-Evangelikale engagieren sich besonders im apologetischen Bereich. Als Mitglieder der evangelischen Landeskirchen verteidigen sie die Wahrheit von Bibel und kirchlichem Bekenntnis gegenüber Rationalismus, Bibelkritik und Atheismus.
Schon im 18. Jahrhundert gab es Theologen und Philosophen, die einzelne biblische Geschichten in Zweifel zogen. Mit der Ausbreitung von Aufklärung und Rationalismus breitete sich auch die Bibelkritik mehr und mehr aus. Der Zweifel an der Bibel wurde zum Prinzip erklärt. Alles in der Bibel Erzählte, was sich nicht auch heute noch ereignet, wurde ins Reich der Phantasie verwiesen. Die Jungfrauengeburt Christi, seine zahlreichen Wunder, die Auferweckung Christi von den Toten – alle diese Ereignisse seien mythischer Natur, hätten sich nicht wirklich in Raum und Zeit abgespielt, da sie heute nicht mehr vorkämen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen einige noch einen Schritt weiter:
Sie meinten, die Existenz Gottes nicht mit den Gräueln des Krieges vereinbaren zu können und sprachen von einer „Theologie nach dem Tode Gottes“. Der Gott, der alles „so herrlich regiere“, sei tot; man müsse nach Auschwitz lernen, Gott anders zu denken und von ihm anders zu reden. Im Extremfall führte dies dazu, dass einzelne Theologen ihren Abschied vom christlichen Glauben erklärten. So sagte sich der frühere Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann im Jahre 1998 offiziell vom christlichen Glauben los. Er verlor in der Folge seine Stelle als Professor für Neues Testament und bekam einen Lehrstuhl für „Geschichte und Literatur des frühen Christentums“ zugewiesen.
Die Bekenntnis-Evangelikalen haben sich vor allem in der 1966 gegründeten Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ zusammengefunden. Sie entstand als Antwort pietistisch geprägter Theologen auf das von dem Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann vertretene Entmythologisierungsprogramm. Bultmann hatte in diesem Programm die Geschichtlichkeit vieler biblischer Berichte in Frage gestellt und wollte sie nun existential interpretieren. Kritiker erkannten jedoch, dass Bultmanns Interpretieren letztlich ein Eliminieren war: Zentrale biblische Wahrheiten wie der Sühnetod und die Auferweckung Christi wurden aufgegeben. Bultmanns bibelkritische Theologie fand viele Anhänger auf Kanzeln und Kathedern. Es entstand die „Bultmann-Schule“, durch die eine ganze Pastorengeneration geprägt wurde. Nicht wenige Mitglieder der Kirchen wurden durch die existentiale Interpretation verunsichert; manche verloren ihren Glauben.
Von dieser Not veranlasst, schlossen sich u. a. die Pastoren Paul Deitenbeck und Rudolf Bäumer sowie die Theologieprofessoren Walter Künneth und Hellmuth Frey in der Bekenntnisbewegung zusammen, um der falschen Lehre entgegenzutreten und den verunsicherten Gemeindemitgliedern Orientierung anzubieten. Dies geschah und geschieht bis heute auf Konferenzen und durch die zweimonatlich erscheinende Publikation „Informationsbrief“, die in Spitzenzeiten eine Auflage von bis zu 40.000 Exemplaren erreichte. Darin informiert die Bekenntnisbewegung über Fehlentwicklungen in Theologie und Kirche und gibt Orientierung anhand von Bibel und Bekenntnis. Die Bekenntnis-Evangelikalen haben sich die Aufgabe gestellt, miteinander in
„ihren Kirchen für die schrift- und bekenntnisgebundene Verkündigung des Evangeliums zu beten und zu arbeiten, sich mit dem Evangelium zu ihrem Heiland und Herrn zu bekennen und nach ihren Möglichkeiten der Entstellung der Botschaft zu widerstehen mit dem Ziel der inneren Erweckung und Erneuerung ihrer Kirchen.“
Diese Erweckung und Erneuerung brauchen die evangelischen Kirchen mehr als alles andere. Bei einem durchschnittlichen Gottesdienstbesuch von nur noch 4 Prozent der Mitglieder, bei weiterhin hohen Austrittszahlen und bei zunehmenden Finanzproblemen hat die Volkskirche längst ihre Stellung als Kirche des Volkes verloren. Nur eine umfassende Erneuerung kann ihren Weg in die Bedeutungslosigkeit aufhalten.
Als besonders tragisch empfindet es die Bekenntnisbewegung, dass sich die Kirchenleitungen nicht der bibelkritischen Theologie entgegengestellt und dadurch dazu beigetragen haben, dass viele treue Gemeindeglieder die evangelischen Landeskirchen verlassen und sich Freikirchen angeschlossen haben.
C. Die Pfingst-Evangelikalen
Die Pfingstkirchen und die charismatisch geprägten Kreise sind auf jeden Fall auch zur EB zu zählen, nicht nur, weil sich Pfingstler und Charismatiker selbst als „evangelikal“ bezeichnen, sondern auch wegen ihrer theologischen Grundpositionen, die sich weitgehend mit denen der Evangelischen Allianz decken. Das phänomenale Wachstum der Pfingst-Evangelikalen im 20. Jahrhundert lässt sie heute nach der katholischen Kirche die größte christliche Gruppe sein. Vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens 300 (optimistische von über 500) Millionen Pfingst-Evangelikalen aus; 200 Millionen gehören der Pfingstbewegung, der Rest charismatischen Gemeinden und Kreisen an. Viele Angehörige der charismatischen Bewegung sind zugleich Mitglieder klassischer Kirchen. Pfingst-Evangelikale vereinen Frömmigkeitsmerkmale anderer Konfessionen in sich: ihr Taufverständnis ist baptistisch, ihr Heiligungsverständnis methodistisch, ihre Evangelisationspraxis ähnelt jener der Heilsarmee und ihr Schriftverständnis ist konservativ-evangelikal.
D. Die unabhängigen Evangelikalen
Im Unterschied zu den drei gerade beschriebenen evangelikalen Zweigen ist der vierte überwiegend noch relativ jung. Erst seit etwa 1985 kristallisierte er sich langsam heraus und erlangte in den 90er Jahren deutlichere Konturen. Zu den unabhängigen Evangelikalen gehören die russlanddeutschen Aussiedlergemeinden baptistisch-mennonitischer Prägung, die in der Konferenz für Gemeindegründung verbundenen Gemeinden und Teile der deutschen Brüderbewegung.
Evangelikale Aussiedlergemeinden
Die Zarin Katharina II. warb seit 1763 um Ausländer, die nach Russland kommen und dem Riesenreich wirtschaftlich helfen sollten. Da Katharina großzügige Versprechungen machte (Glaubensfreiheit, Freiheit vom Kriegsdienst, Recht auf Landzuteilung usw.) und da der Siebenjährige Krieg (1756-1763) viel Not mit sich gebracht hatte, entschieden sich viele Deutsche für eine Auswanderung nach Russland. Unter ihnen waren Lutheraner, Katholiken und auch Mennoniten. Ihre deutsche Kultur, ihre Sprache und ihren Glauben pflegten die Einwanderer sehr gewissenhaft. Geheiratet wurde in der Regel nur untereinander, so dass eine klare Trennung zwischen der einheimischen russischen und ukrainischen Bevölkerung einerseits und den deutschen Einwanderern andererseits erhalten blieb.
Im 19. Jahrhundert gab es unter den Mennoniten pietistisch geprägte Erweckungen, die zu einem neuen Aufleben des christlichen Glaubens unter vielen Siedlern führte. Auch besuchten Pastoren deutscher Baptistengemeinden die deutschen Kolonien in Russland und gründeten baptistisch geprägte Kirchen. Mit der Machtübernahme der Kommunisten verschlechterte sich die Situation der deutschen Siedler jedoch zusehends und es kam in den zwanziger Jahren zu einer großen Auswanderungswelle. Unter der stalinistischen Schreckensherrschaft fanden viele der zurückgebliebenen Deutschen den Tod oder wurden in andere Teile des russischen Reiches umgesiedelt. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Tausende deutscher Siedler durch Kriegshandlungen, Hunger und Misshandlungen ums Leben. Erst seit den fünfziger Jahren besserte sich die Lage langsam und erste Deutschstämmige erhielten die Erlaubnis, nach Deutschland heimzukehren. Mitte der siebziger Jahre begann die Rückwanderung stärker zu werden und schwoll in der Gorbatschow-Ära Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zu einem breiten Strom an. Inzwischen sind die meisten Russlanddeutschen in das Land ihrer Vorfahren heimgekehrt. Unter den 4,5 Millionen Umsiedlern aus dem gesamten Ostblock befinden sich 2,5 Millionen aus der ehemaligen Sowjetunion. Unter diesen 2,5 Millionen sind nach vorsichtigen Schätzungen etwa 70.000 Mitglieder täuferischer Gemeinden. In täuferische, also baptistisch oder mennonitisch geprägte Gemeinden wird nur als Mitglied aufgenommen, wer aufgrund seines persönlichen Bekenntnisses zu Jesus Christus die Glaubenstaufe empfangen hat. Da die Aussiedler kinderreiche Familien haben und traditionell jeder – auch wenn er noch nicht getauft wurde und somit kein Mitglied ist – mit zur Kirche geht, ist davon auszugehen, dass die Zahl täuferisch geprägter Aussiedler bedeutend höher ist als die Zahl der Mitglieder. Schätzungen sprechen von etwa 200.000 nicht getauften Familienangehörigen.
Da die russlanddeutschen Baptisten und Mennoniten die in Deutschland vorgefundenen Gemeinden häufig als zu wenig bibelorientiert empfanden, haben sie eigene Gemeinden gegründet. Deren Zahl schätzt man auf gegenwärtig 450. Sie gehören verschiedenen Bünden an, z. B. der Bruderschaft der Christengemeinden in Deutschland, der Vereinigung der Evangeliums-Christen-Baptistengemeinden, dem Bund Taufgesinnter Gemeinden, der Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Gemeinden usw.
Die Gottesdienste der Aussiedlergemeinden sind sehr gut besucht. Eine Umfrage unter evangelischen Kirchen und Freikirchen ergab, dass unter den 25 am besten besuchten evangelischen Gottesdiensten in Deutschland 15 freikirchliche Aussiedlergemeinden sind. Eine Analyse von Lehre und Leben der Aussiedlergemeinden zeigt sogleich ihre pietistisch-evangelikale Verwurzelung. Würde man die deutsche Evangelikale Bewegung in ein Spektrum von rechts bis links einteilen, wobei rechts bedeuten würde: Glaube an die Irrtumslosigkeit der Bibel in allen ihren Aussagen, und links bedeuten würde: Glaube, dass die Bibel nur hinsichtlich ihrer Lehre über den Weg zur Seligkeit irrtumslos ist, aber in historischen und naturwissenschaftlichen Fragen irren kann, dann sind die baptistisch-mennonitischen Aussiedler auf jeden Fall am rechten Flügel einzuordnen.
Interessant ist nun, dass die Aussiedlergemeinden bis vor wenigen Jahren selbst von deutschen Evangelikalen kaum wahrgenommen wurden. Eine Ausnahme bildete der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, der mit 86.000 Mitgliedern zur Zeit die größte evangelische Freikirche Deutschlands darstellt. In diesem Bund haben sich deutsche Baptisten- und Brüdergemeinden zusammengeschlossen. Der Bund hat sich sehr um eine Integration seiner baptistischen Glaubensgeschwister aus Osteuropa bemüht und viele Gespräche mit Repräsentanten der täuferischen Aussiedler geführt. Dennoch hat sich nur ein kleiner Teil der Aussiedler (etwa 7.000, fallende Tendenz) den deutschen Baptisten angeschlossen. Als Gründe werden die zu großen kulturellen Unterschiede zwischen Aussiedlern und Hiesigen genannt, sowie das Empfinden der Aussiedler, dass viele hiesige Gemeinden schon weit von den biblischen Maßstäben abgeirrt sind.
Neben ihren eigenen Gemeinden haben die Aussiedler auch verschiedene christliche Werke ins Leben gerufen. Am 1993 gegründeten Bibelseminar Bonn werden Studierende für den pastoralen und missionarischen Dienst ausgebildet. Das Seminar bietet einen dreijährigen Studiengang auf College- Ebene und einen zweijährigen Aufbaustudiengang auf Master- Ebene an. Letzterer führt in Zusammenarbeit mit einer USamerikanischen Hochschule zu einem Master-Abschluss. Mit zur Zeit (2006) 230 Studierenden in allen Studiengängen (Tages-, Abend- und Fernschule) ist das Bibelseminar Bonn eines der großen freikirchlichen theologischen Seminare in Deutschland.
Während sich in der Anfangszeit die missionarischen und humanitären Projekte der Aussiedler vor allem auf Osteuropa konzentrierten, arbeiten ihre Missionare heute auf allen Kontinenten. Gleichwohl liegt der Schwerpunkt der Aktivitäten immer noch im Bereich der früheren Sowjetunion. Dort arbeiten die Aussiedler auch besonders effektiv. Denn weil sie mit Sprache und Kultur Russlands vertraut sind, benötigen Aussiedler, die vor 10 Jahren nach Deutschland heimkehrten, hier eine theologische Ausbildung absolvierten und dann als Missionare oder Gemeindegründer wieder in ein Land der GUS gehen, nur eine ganz kurze Eingewöhnungszeit. Zugleich aber unterstützen Missionswerke, die von Aussiedlern in Deutschland gegründet wurden, russische und ukrainische Missionare und versorgen die Gemeinden in der GUS mit humanitärer Hilfe. Zu den großen Missionswerken der Aussiedler gehören Aquila (Bielefeld), Bibel-Mission (Großwallstadt), Missionswerk Friedensstimme (Gummersbach), LOGOS international (Oerlinghausen) und das Internationale Centrum für Weltmission (Bornheim/Bonn). Letzteres zählt mit 130 unterstützten Missionaren zu den großen evangelischen Missionswerken in Deutschland und ist – wie auch LOGOS – Mitglied in der (oben erwähnten) Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen, einem Dachverband evangelikaler Missionsgesellschaften, der nach eigenen Angaben etwa 70 Prozent aller protestantischen Missionare Deutschlands repräsentiert.
Die baptistisch-mennonitischen Aussiedler fühlen sich keinem der anderen drei Zweige der deutschen Evangelikalen Bewegung verbunden. Die Pfingstbewegung wird generell abgelehnt; schwärmerisch-enthusiastisch geprägte Frömmigkeit ist den durch viel Leid gegangenen Aussiedlern realitätsfern. Zur Bekenntnisbewegung haben sie keinerlei Verhältnis, da sie als erst in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland eingereiste freikirchliche Gläubige keinen historischen Bezug zum Kirchenkampf im Dritten Reich oder zur Auseinandersetzung mit der bibelkritischen Theologie in den Landeskirchen besitzen. Am ehesten können die Aussiedler noch etwas mit der Evangelischen Allianz anfangen. Doch auch hier gibt es nur zaghafte Annäherungsversuche. Denn viele Aussiedler sehen in der Allianz eine Art Ökumenischer Rat der Kirchen. Letzteren aber lehnen sie aus theologischen Gründen entschieden ab.
Während sich das Wachstum der Aussiedlergemeinden bis Mitte der neunziger Jahre atemberaubend schnell vollzog – der ständige Zuzug von Aussiedlern aus Osteuropa sowie missionarische Bemühungen unter Aussiedlern in Deutschland ließen die Gemeinden explosionsartig wachsen – haben sich die Wachstumszahlen inzwischen auf unter 10 Prozent jährlich eingependelt und die Gemeindeleiter arbeiten nun an der Konsolidierung ihrer Kirchen.
Für die deutschen Evangelikalen stellen die Aussiedler auf jeden Fall eine Herausforderung dar. Ihre unbedingte Treue zur Heiligen Schrift, ihre Leidensbereitschaft, Opferwilligkeit und ihre engagierte Mitarbeit in der Gemeinde fordern träge gewordene deutsche Evangelikale heraus, Gott wieder den ersten Platz in ihrem Leben und in ihren Gemeinden einzuräumen.
Die Konferenz für Gemeindegründung
Eine weitere evangelikale Gruppierung, die bewusst unabhängig von den anderen Zweigen der deutschen Evangelikalen arbeitet, sind die Gemeinden im Umfeld der Konferenz für Gemeindegründung (KfG). 1977 gründete der freikirchliche Prediger Eckehard Strickert die Deutsche Gemeinde-Mission. Strickert sah, dass in Deutschland wohl die meisten Menschen einer christlichen Kirche angehören, aber die wenigsten eine wirkliche Glaubensbeziehung zu Jesus Christus haben. Um Menschen zum Glauben an Christus zu rufen, hielt er die Gründung von bibeltreuen Gemeinden, die sich am Vorbild der neutestamentlichen Urgemeinde orientieren, für einen Erfolg versprechenden Weg. Aus der Deutschen Gemeinde-Mission ging dann 1983 die KfG hervor. Die KfG ist kein Gemeindebund; sie versteht sich als eine Plattform, um Hilfen zur Gründung von bibeltreuen Gemeinden zu geben. Mit ihr verbunden fühlen sich etwa 200 Gemeinden, die teilweise erst in den letzten Jahren entstanden sind (z. B. die Biblischen Missionsgemeinden in Süddeutschland oder manche russlanddeutsche Gemeinden baptistischer Prägung), teilweise aber der schon seit 150 Jahren existierenden Brüderbewegung zuzurechnen sind.
Eine Zahl von Gottesdienstbesuchern jener Gemeinden anzugeben, die mit der KfG verbunden sind, ist schwierig; Schätzungen sprechen von 20.000 bis 25.000 Personen. Mit ihrer viermal jährlich erscheinenden Zeitschrift Gemeindegründung wirkt die KfG verbindend und zugleich lehrbildend unter den ihr nahe stehenden Gemeinden.
Die Ausbildung von Leitern im Umfeld der KfG erfolgt seit einigen Jahren verstärkt im „Europäischen Bibel Trainings Centrum“ (EBTC) in Berlin. Dieses wurde 2001 mit Unterstützung des kalifornischen Pastors John MacArthur ins Leben gerufen. In Wochenendschulungen werden zukünftige Pastoren und Leiter vor allem in exegetischen und homiletischen Fächern geschult. Die Teilnehmer kommen aus der KfG nahe stehenden Gemeinden, aus russlanddeutschen Baptisten- und Mennonitengemeinden sowie aus Gemeinden der deutschen Brüderbewegung.
Die Brüderbewegung
Die Brüderbewegung, einer ihrer wichtigsten Initiatoren war der ehemalige anglikanische Priester John Nelson Darby (1800-1882), fasste ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland Fuß. Ein Teil dieser Bewegung („Offene Brüder“) lässt sich den Allianz-Evangelikalen zurechnen; der andere Teil („Exklusive Brüder“) steht jedoch auf der Seite der unabhängigen Evangelikalen und findet deshalb an dieser Stelle Erwähnung. Die Brüderbewegung ist gekennzeichnet u.a. durch eine starke Betonung der Unabhängigkeit der Ortsgemeinde, des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen (verbunden mit einer unterschwelligen Ablehnung von ordinierten Pastoren) und der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift. Bekannt geworden ist die Brüderbewegung durch ihre „Elberfelder Bibelübersetzung“, eine sehr genaue Wiedergabe des hebräischen und griechischen Grundtextes, die auch unter Christen anderer Konfessionen eine weite Verbreitung gefunden hat.
Von den insgesamt knapp 40.000 Mitgliedern der 61 Brüdergemeinden in Deutschland sind 12.000 unabhängig und pflegen kaum Kontakte zu anderen Evangelikalen (die sogenannten „Exklusiven“, auch als „Christliche Versammlung“ oder „Alte Versammlung“ bezeichnet; von den 250 Gemeinden der „Exklusiven“ sind in den letzten Jahren etwa 100 zu „Neuen Versammlungen“ [auch „Blockfreie Gemeinden“ genannt] geworden, die sich nicht mehr so stark abschotten wie die „Alten Versammlungen“). Die „Exklusiven“ betonen, gegründet auf die Lehren Darbys, den Gedanken der Absonderung und lehnen eine Zusammenarbeit mit anderen Kirchen ab. Etwa 9.000 Mitglieder in 150 Gemeinden – die so genannten „Offenen Brüder“ – gehören zur „Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden“ (von diesen 150 Gemeinden gehören gleichzeitig 115 zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden). Diese „Offenen Brüder“ lassen sich zu den Allianz-Evangelikalen zählen und haben ihr geistliches Zentrum im Missionshaus Bibelschule Wiedenest in Bergneustadt bei Gummersbach. An der Bibelschule studieren rund 120 junge Leute; zum Missionswerk gehören etwa 130 Missionare. Auch das Missionswerk „Neues Leben“ (Altenkirchen) gehört zusammen mit seinem Bibelseminar der Bewegung der „Offenen Brüder“ an. Schließlich gibt es noch 16.000 Mitglieder, die sich in „Freien Brüdergemeinden“ sammeln und mit der Christlichen Verlagsgesellschaft in Dillenburg verbunden sind. Dieses Verlagshaus, zu dem auch eine wachsende Buchhandelskette gehört („Christliche Bücherstuben“), hat seinen Publikationsschwerpunkt neben Bibelauslegungen und erbaulicher Literatur im Bereich Mitarbeitermaterial sowie Kinder- und Jugendliteratur.
Eng verbunden mit der Brüderbewegung ist der erst vor wenigen Jahren gegründete Maleachi-Kreis. Sein Name und sein Programm geht auf Maleachi 3,16 zurück: „Da redeten die miteinander, die den HERRN fürchteten …“ (Elberfelder Übersetzung). Ihm gehören „überörtlich tätige Verantwortliche aus dem bibeltreuen evangelikalen Raum“ an, die sich zum Glauben an die Irrtumslosigkeit der Bibel bekennen und der charismatischen Frömmigkeit sowie modernen Gemeindegründungskonzepten wie der Willow Creek-Bewegung kritisch gegenüberstehen. Ein- bis zweimal jährlich ruft der Maleachi-Kreis seine Anhänger zu einer Glaubenskonferenz zusammen, auf der vor unbiblischen Entwicklungen gewarnt und zum entschiedenen Festhalten an den biblischen Wahrheiten aufgerufen wird.
Vor allem exklusive und freie Brüdergemeinden sowie Gemeinden im Umfeld der KfG lassen sich keinem der bisherigen drei Zweige der Evangelikalen Bewegung zuordnen. Da man den Landeskirchen schon wegen ihrer Staatsnähe ablehnend gegenübersteht, bestehen auch kaum Verbindungen zu innerhalb der Landeskirchen arbeitenden Bekenntnis-Evangelikalen. Die Pfingst-Evangelikalen werden gemieden, weil man glaubt, heute gebe es keine außerordentlichen Charismen wie Sprachenrede oder Prophetie mehr, und zu den Allianz-Evangelikalen hat man ebenfalls kaum Kontakte, da die Evangelische Allianz den Schulterschluss mit der Pfingstbewegung anstrebt und sich auch in anderen Bereichen mehr und mehr dem „Zeitgeist“ öffne.
Dennoch besitzen diese Gemeinden ein eindeutiges evangelikales Profil. Ähnlich wie die Evangelikalen der Aussiedlergemeinden vertreten sie die Irrtumslosigkeit der Bibel in allen ihren Aussagen und betonen die Verpflichtung der Christen, allen Menschen die Botschaft von Jesus Christus mitzuteilen.
Die Größe der Bewegung
Frühere Untersuchungen zur deutschen Evangelikalen Bewegung gingen davon aus, dass mit insgesamt etwa einer Million evangelikal geprägter Christen zu rechnen ist. Zu den Allianz- Evangelikalen rechnen sich ca. 500.000 Personen, zu den Bekenntnis-Evangelikalen 300.000 bis 400.000 und zu den Pfingst-Evangelikalen etwa 150.000. (Überschneidungen kommen selbstverständlich vor. So rechnen sich manche Allianz-Evangelikale gleichzeitig zu den Bekenntnis-Evangelikalen und umgekehrt.) Vor allem der Zuzug der evangelikal geprägten Aussiedler hat zum Anwachsen der Evangelikalen geführt. Der vierte Zweig der Evangelikalen Bewegung, die unabhängigen Evangelikalen, vereint etwa 300.000 Gläubige, so dass heute von insgesamt ca. 1,3 Millionen Evangelikalen in Deutschland ausgegangen werden kann.
Einige Kirchenverbände gelten als weitgehend evangelikal geprägt. Zu ihnen gehören der Evangelische Gnadauer Gemeinschaftsverband (ca. 300.000 Mitglieder; allianz- und bekenntnis-evangelikale Prägung), die Verbände der Aussiedlergemeinden (ca. 80.000; unabhängig evangelikal), die Brüderbewegung (ca. 40.000; allianz-evangelikal und unabhängig evangelikal), der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (ca. 40.000; pfingst-evangelikal), der Bund Freier evangelischer Gemeinden (ca. 35.000; allianz-evangelikal) und weitere kleinere Verbände. Andere Kirchen, wie etwa der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (ca. 85.000) und die Evangelisch-methodistische Kirche (ca. 40.000), sind zumindest teilweise evangelikal geprägt. In den evangelischen Landeskirchen (abgesehen vom in den Landeskirchen wirkenden Gnadauer Verband) weist nur eine Minderheit von unter 3 Prozent evangelikale Prägung auf.