ThemenNachfolge

Wir Pharisäer – Von den Sünden der „Frommen“

Wenn von Pharisäern gesprochen wurde, so stellte ich mir immer Leute vor in wallenden orientalischen Gewändern, mit langen Bärten und seltsamer Kopfbedeckung, wie ich sie aus der Schnorrschen Bilderbibel kannte, und wie man ihnen heutzutage bei uns nicht mehr begegnet. Erst viel später habe ich gesehen, dass es auch heute noch Pharisäer gibt, dass sie angezogen sind wie andere moderne Menschen, und noch später habe ich gemerkt, dass ich selber dazu gehörte.

Das, was die Pharisäer zu Jesu Zeiten kennzeichnete, war ihre Sattheit. Wir haben’s, wir sind die Träger der Kirche, der Frömmigkeit, auf uns kann man sich verlassen. Und das Merkwürdige war: Diese Leute waren wirklich größtenteils „fromm“. Sie nahmen’s sehr genau, sie waren sehr moralisch, sie eiferten wirklich für Gott.

Um so auffallender ist es, wie leidenschaftlich Jesus sie bekämpft, wie hart er, der Sanftmütige, sie schilt. Das macht: Er kann allen helfen, nur gerade ihnen nicht.

Warum nicht? Weil sie satt sind. Sie brauchen keinen Erlöser. Sie tun so, als seien sie schon erlöst, oder sie erlösen sich selber. Er steht ihnen gegenüber wie der Arzt den Gesunden, oder denen, die sich einbilden, es zu sein: Nichts zu machen, sie brauchen ihn nicht.

Pharisäer – das ist beachtlich – wissen nie, dass sie es sind. Sobald sie es erkannt haben, sind sie es nicht mehr.

Wir werden daher die Pharisäer immer in den Kreisen suchen müssen, die sich für fromm halten.

Ob einer nur sich für fromm hält oder fromm ist, kann man an vielem erkennen. Ein Erkennungszeichen ist seine Ansteckungskraft. Wo eine Kirche nicht mehr wirbt, die Männer nicht mehr halten, die Jugend nicht mehr gewinnen kann, da ist das ein Symptom für pharisäische, das heißt unlebendige Frömmigkeit. Leben schafft Leben, Unlebendigkeit ist die Folge von Leblosigkeit.

Die Rechtgläubigkeit tut es nicht. Es kann einer den ganzen Katechismus bejahen und doch lieblos und hart sein. Es kann einer an den auferstandenen Christus als seinen Erlöser glauben und doch ihm ungehorsam sein und an ihm vorbeigehen. Es gibt eine Flucht in die Orthodoxie, das heißt in die Rechtgläubigkeit, um nicht praktisch sein zu müssen. Es gibt eine Frömmigkeit, die tut so, als würde uns Christus am Tage des Gerichts den Katechismus abfragen, und eben das tut er nicht.

Rechtgläubigkeit, bei der auf der ersten Silbe der Akzent liegt, ist Sünde. Er muss auf der zweiten liegen.

„Rechtgläubig“ sollen wir sein, das heißt vertrauend und gehorsam, und kindlich und demütig.

Neben der Rechtgläubigkeit lauert gleich eine zweite Sünde, die mit ihr verwandt ist: die Rechthaberei. Oeser sagt einmal: „Recht gehabt zu haben, ist in der Ehe das traurigste Geschäft.“ Es ist auch in anderen menschlichen Beziehungen so, und am meisten Gott gegenüber. Pharisäer haben Gott gegenüber recht, und darum brauchen sie nicht mehr die „Rechtfertigung aus den Glauben“, von der Paulus zeugt. Sie brauchen sie nicht, selbst wenn sie sie noch so lehrhaft vertreten.

Pharisäer haben auch den Menschen gegenüber recht. Die größere Liebe aber ist die, die unrecht haben kann. Das fällt uns „erleuchteten“ Frommen furchtbar schwer. Und dass wir uns bei unserer Rechthaberei immer auf die Bibel berufen, auf das: „es steht geschrieben“, macht die Sache nicht besser, oft genug nur schlimmer.

Die Selbstgerechten fühlen sich nicht als Sünder

Noch ein Wort mit „recht“ gehört hierher: die Selbstgerechtigkeit. Selbstgerecht kann man sehr gut sein, obgleich man sich als Sünder bezeichnet. Es gibt nämlich zweierlei Sünder: hochmütige und demütige. Die Selbstgerechten gehören zu der ersteren Art. Sie verzichten beileibe nicht auf den Erlöser; damit würde ja ihre ganze christliche Glaubenslehre zusammenfallen. Aber sie fühlen sich nicht als Sünder. Sie haben das im Grund hinter sich, sie sind ja bekehrt. Es gibt eine Altersweitsichtigkeit, die in die Ferne scharf sieht, aber in die Nähe nicht. Das ist ihre Krankheit. Sie sehen ausgezeichnet die Sünden der anderen, aber ihre eigenen sehen sie nicht, weil sie zu nahe sind. Wenn einer seinen Anzug für rein erklärt, so kann das zwei Gründe haben; entweder der Anzug ist rein, oder der Besitzer sieht schlecht und ist zu früh zufrieden. Das letztere ist die Lage der Selbstgerechten. Und gerade diese Haltung hat der Kirche Christi, die doch grundsätzlich eine Kirche von erlösungsbedürftigen Sündern ist, am meisten geschadet, und Chesterton hat recht, wenn er sagt:

„Das Christentum wurde unpopulär, nicht wegen der Demut, sondern wegen des Hochmuts – und das will das gleiche sagen wie wegen der Selbstgerechtigkeit – der Christen.“

Noch ein letztes Wörtlein des gleichen Stammes gehört hierher und nennt eine Hauptsünde der Frommen: das Richten. Natürlich kennen wir alle das Wort: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, aber wir beziehen es nicht auf uns.

Vom verlorenen Sohn heißt es in seiner Entscheidungsstunde: „da schlug er in sich“, und das heißt: Er wendete die Kritik gegen sich selbst. Wir Frommen haben oft so schrecklich viel mit der bösen Welt um uns her zu tun, dass wir gar nicht Zeit haben, uns mit unseren eigenen Sünden zu beschäftigen und in uns zu schlagen. Wir schlagen viel lieber nach außen. Wehe dem, der in die Hände der „Frommen“ fällt! Bei diesem Gericht pflegt es nicht nach dem Rat des Katechismus zu gehen:

„Wir sollen Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“

Aller Tratsch ist hässlich, aber der fromme Tratsch, der über andere herfällt, vielleicht freier, vielleicht „weltlicher“, vielleicht „liberaler“, der ist der hässlichste. Wir Frommen haben geradezu eine Leidenschaft, die Grenzen zwischen Welt und Reich Gottes zu ziehen und dann über Grenzüberschreitungen zu Gericht zu sitzen. Wir haben von unseren „Vorfahren“, den Pharisäern, die Leidenschaft der Gesetzlichkeit geerbt. Es ist uns nicht wohl, wenn wir’s nicht katalogisiert haben: das ist erlaubt, und das ist verboten, das ist Sünde, und das ist es nicht.

Wir tun genau das Gegenteil von dem, was Jesus tat. Wir richten den Buchstaben und damit die Gesetzeszäune wieder auf, die Jesus so mühsam niedergelegt hat. Damals ging’s um Sabbat, um Fasten und Speisegebote, heute geht’s um Sonntag, Sport, Theater, Romane, Kino, Tanz, Bubiköpfe, Strandbad, Rauchen und sonst noch einiges.

Ich kenne ganz wenig Fromme, die sich hier zurückhalten, über dem anderen nicht den Stab zu brechen und ihn (mitleidig) zu verurteilen.

Bei diesen Gerichtsakten kehrt ein Wort in unserer frommen Sprache immer wieder: „Ärgernis“. Es ist ein sehr schweres Wort. Aber nicht alles, was mich ärgert, ist Ärgernis. „Ärgernis“ ist nur da, wo die Seele des anderen gefährdet ist. Oft genug gebrauchen wir dieses Wort falsch, und es ist nur mein Machtgelüste und meine Rechthaberei geärgert.

Manchmal sogar ärgere ich mich darüber, dass der andere etwas zu können und zu dürfen scheint, was ich nicht kann, und was ich auch können und dürfen möchte.

Ich glaube, wenn wir Frommen das Wort „Ärgernis“ brauchen, so sollten wir immer auch daran denken, wie schwer wir anderen mit unserer gesetzlichen, rechthaberischen Frömmigkeit, unserer unfrohen Engherzigkeit, unserem frommen Gerede, hinter dem das Tun zurückbleibt, Ärgernis bereiten und sie durch unserere falsche, richtende, hochmütige Frömmigkeit von Christus abdrängen und ihn den anderen verleiden.

Der Fehler der Pharisäer war der, dass sie über Formulierung und Form den Inhalt verloren

Der Fehler der Pharisäer war der, dass sie über Formulierung und Form den Inhalt verloren. Das ist immer die Gefahr, wo man die bloße Lehre und die Formulierung überschätzt und „Wort“ und „Lehre“ miteinander verwechselt.

„Das Wort sie sollen lassen stahn“, das muss für alle Zeiten gelten. Die Lehre aber ist das Menschliche, das Abgeleitete und darum auch das dem Irrtum und Wechsel Unterworfene.

So kann unsere Lehre uns zur Gefahr werden. Aber die noch größere Gefahr, glaube ich, ist nicht die Lehre, sondern der Mangel an Leben. Mangel an Leben in der Kirche ist aber immer Mangel an Liebe. (Und wenn ich allen Glauben hätte und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.) Das aber wird uns „Frommen“ von der Welt vorgeworfen. Und dass unsere Frömmigkeit an Untertemperatur leidet, das einzugestehen ist ein Gebot der Wahrhaftigkeit.

Und jetzt muss ich von einer Sünde sprechen, deren Festnagelung mir meine frommen Freunde sehr übel nehmen werden, nämlich dem Missbrauch des Wortes Gottes. Ich meine hier nicht das viele fromme Reden, so schädlich auch das ist. Das ist vielleicht oft mehr eine Unart. Sondern ich meine den bewussten Missbrauch. Dass der möglich ist, lehrt uns auch die Versuchungsgeschichte Jesu. Der Teufel und Jesus berufen sich beide auf das Wort Gottes. Und wir sehen daran, dass man auch das Wort Gottes ungeführt und fahrlässig gebrauchen, ja dass man in seinem Gebrauch zum Falschspieler werden kann.

Das geschieht da, wo man das Wort Gottes benützt, wie es konveniert1, wo man sich darauf beruft, wenn es gilt, seine eigene Position oder die Stellung seiner Gemeinschaft zu verteidigen, es aber unterschlägt, wo es sich gegen einen selbst richtet.

Es ist mir aufgefallen, dass die Frommen alle die Stelle kennen, wo Paulus sagt: das Weib schweige in der Gemeinde, oder: das Weib soll nicht geschoren gehen, dass sie aber sehr leicht das Wort Jesu vergessen: ihr sollt euch nicht Schätze sammeln, oder: richtet nicht. Und weil Pharisäer immer Gesetzesleute sind, so haben sie eine große Tüchtigkeit darin, einzelne Vorschriften aus der Bibel herauszuheben und daraus einen richtigen Zaun zu machen. Aber die herrlichen Paulusstellen, von der Freiheit der Kinder Gottes, von dem Buchstaben, der tötet, von dem „alles ist euer“ und: „alles ist gut, wofür man danken kann“, über die gehen sie stillschweigend hinweg.

Kommt das nicht auf eine Verkürzung des Evangeliums heraus? Wird nicht der Zeuge vor Gericht darauf vereidigt, nichts zu verschweigen? Warum wir das wohl tun? Ich bin mir selbst auf die Schliche gekommen und glaube, es ist das: Das Gesetz ist ein herrliches Mittel, über andere zu herrschen. Man kann damit die Gewissen knechten. Es gibt viel fromme Herrschsucht, die durch das Gesetz die Menschen sich untertan zu machen sucht. Mit dem „es stehet geschrieben“ ist – siehe die Versuchungsgeschichte – noch nichts entschieden. Auch hier bedarf es des Geistes, um Klarheit zu schaffen, wann und wo dieser Buchstabe gilt.

Und dann ist da im Zusammenhang mit dem Schriftgebrauch noch auf eine weitere Sünde von uns Frommen der Finger zu legen: ich meine die falsche Erbaulichkeit, die Erbaulichkeit auf Kosten der Wahrhaftigkeit, unter Vergewaltigung des eigentlichen Zusammenhangs.

Man kann ein Bibelwort aus dem Zusammenhang herausschneiden und ihm damit einen völlig anderen Sinn geben.

Durch eine fromme Willkür haben wir die Autorität der Heiligen Schrift elend untergraben

Man kann auch während der Auslegung die Methoden wechseln: einmal nimmt man es wörtlich, dann,weil es nicht mehr passt, symbolisch. Jetzt bezieht man es nur auf den engsten Apostelkreis, dann wieder lässt man das Wort an die ganze Christenheit gerichtet sein. Durch eine fromme Willkür haben wir die Autorität der Heiligen Schrift elend untergraben, und diese fromme Unwahrhaftigkeit hat die Welt schon längst durchschaut und die Konsequenzen daraus gezogen: Sie nimmt uns nicht mehr ernst.

Wir haben uns allzu gern unter die Autorität des Wortes Gottes geflüchtet, auch da, wo es galt, unsere eigene menschliche und allzu menschliche Meinung zu befestigen. Wer aber Autoritäten falsch und fahrlässig anruft, untergräbt sie. Das ist der Grund, warum die Heilige Schrift in der Welt ihre Autorität verloren hat, und das ist unsre, der Frommen Schuld.

Wenn Jesus die Pharisäer schilt, so gebraucht er wiederholt das Wort „ihr Heuchler“. Er macht ihnen also den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, vor allem sich selbst gegenüber. Sie merkten schon gar nicht mehr, wie verlogen sie eigentlich waren, wie sehr sie mit zweierlei Maß maßen, wie viel sie scheinbar zur Ehre Gottes, aber in Wirklichkeit zur eigenen Ehre taten, wie oft sie die Ehre Gottes nannten, aber ihre eigene Macht oder Ehre meinten.

Wir Frommen führen doch mit Vorliebe all die großen, schweren Worte im Mund: Glaube, Liebe, Demut, Gehorsam, Wahrhaftigkeit, Reinheit. Wenn man einmal anfängt, sich selber unter die Lupe zu nehmen, erschrickt man.

Wir reden vom Glauben, wir sagen, wir sind gläubig, wir wissen gar das Datum anzugeben, da wir es wurden. Aber praktisch tun wir doch oft und oft so, als wäre Gott nicht da, oder als wäre er ein Nichtskönner. Wie viel Angst haben wir auch, wie viel Sorgen und Rechnen trotz des „Sorget nicht!“ Wie viele menschlichen Sicherungen und Versicherungen trotz unsres „starken“ Glaubens! Ich habe in unsren Reihen erschreckend viel praktischen Atheismus gefunden.

Ein zweites, dessen uns die Welt anklagt, ist, dass es uns an der Liebe fehlt. Liebe hat Ehrfurcht vor der Stellung des anderen, Liebe ist streng gegenüber sich selbst, aber weit gegenüber anderen. Liebe ist nicht nur gerecht. Wenn Gott nur gerecht wäre, wären wir alle verloren. Sondern Liebe ist barmherzig. Liebe macht den andern nie zu seinem Objekt, auch nicht zum Bekehrungsobjekt. Liebe demütigt sich selbst vor dem anderen. Liebe liebt den Sünder und weigert ihm nicht die Gemeinschaft, sondern setzt sich mit ihm an einen Tisch. Je größer die Liebe ist, desto weniger fromme Worte hat sie nötig, dem anderen zu helfen.

1. Korinther 13 ist eine Anklageschrift gegen uns „Fromme“

Liebe wäscht die Füße und nicht den Kopf. Liebe opfert nicht Dinge, sondern sich selber. Bei echter Liebe ist immer das eigene Herzblut beteiligt. Bei allem, was sie tut, ist ein Tropfen dabei. Liebe gewinnt den anderen nicht für die Kirche, nicht für die Gemeinschaft, nicht für die Gruppe, nicht für sich, sondern für Christus.

„Die Liebe ist geduldig, ist freundlich. Sie ist nicht rücksichtslos,sie trägt nicht nach, sie sucht nicht das Ihre, sie entschuldigt alles, sie erträgt alles.“

1. Korinther 13 ist eine Anklageschrift gegen uns „Fromme“.

Man wirft uns vor, dass wir nicht demütig sind. Wir gleichen dem Mann im Tempel, der betete: „Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie andere Leute.“ Man hat das Wort „vom geistlichen Hochmut“ gefunden, und es stimmt. Man kann auch Seelsorger, Prediger, Beter, Bruder, Diakonisse oder Missionar werden oder sein, um eine Rolle zu spielen. Ich habe schon manches Mal mich dabei ertappt, wie ich meinem eigenen schönen Beten zugehört habe. Ich habe auch gefunden, dass die Kanzel – überhaupt der Ort, von dem aus wir „predigen“, erbaulich reden – ein beliebtes Versteck ist für den Teufel. Ich brauche bloß ein Wort hier auszusprechen: Predigereitelkeit!

Ich habe auch beobachtet, dass wir mit falschem Maß messen. Jesus nimmt die Sünden der Pharisäer viel schwerer als die Sünde der Ehebrecherin. Er wird mit den Sünden der Zöllner und Huren leichter fertig als mit der selbstgerechten Frömmigkeit der Pharisäer.

Es gibt Sünden des heißen und Sünden des kalten Blutes. Die letzteren gleichen den chronischen, die ersteren den akuten Krankheiten. Die akuten sind viel leichter zu heilen. Die „frommen“ Sünder leiden an chronischen Krankheiten, sie leiden an schleichender Tuberkulose. Manchmal kann sie eine dazukommende akute Erkrankung retten. Ein tiefer Fall hat manchmal aus einem Pharisäer einen bußfertigen Sünder gemacht.

Man unterscheidet bekanntlich auch zwischen Tatsünden und Unterlassungssünden. Und wieder sind die letzteren die unheimlicheren und zugleich die, deren man uns „Fromme“ besonders anklagt.

Es ist wahr, wir haben fromme Gemeinschaft, aber der Ort, wo wir zusammenkommen, liegt in der breiten Ebene und sollte doch auf dem Bergpredigtberg liegen. Und der Punkt, von dem aus dieser Berg bestiegen werden muss, ist die Stellung zum eigenen dicken Ich und zur Familie … Die Welt wirft uns vor, dass wir diesen Punkt umgehen und nach leichteren Anstiegsstellen suchen und dabei immer und immer um diesen Berg bloß herumgehen. Wir sind wie die Auskunftsleute auf dem Reisebüro. Wir wissen alle Züge, alle Verbindungen, wir beherrschen das Kursbuch mit verblüffender Gewandtheit. Aber wir bleiben immer hinter dem Tisch. Wir fahren nicht selber. Das Kursbuch der Frommen ist die Bibel. Wo aber sind die Passagiere?

Unsere frommen Worte haben durch allzu häufigen und fahrlässigen Gebrauch eine Entwertung erlebt

Ich habe gefunden, dass es nicht selten bei uns vorkommt, dass Gemeinschaften solchen, die nicht gleich stehen wie sie, die Gemeinschaft weigern. Es ist mir sogar passiert, dass einer sagte: „Ein Mädchen mit Bubikopf ist kein Gotteskind!“ (!) Auf welche Seite würde sich Jesus gestellt haben? Aber natürlich haben wir gleich einen Bibelspruch parat, etwa den: „Zieht nicht am gleichen Joch mit den Ungläubigen“, obgleich er ganz und gar nicht hierher gehört, oder: „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist“, obgleich der wiederum falsch angebracht wäre, denn „Welt“ ist für Johannes „sündige Welt“, was aber wissen wir, was einem anderen Sünde ist, und was einen von Gott trennt? So decken wir unseren Hochmut und unsere Lieblosigkeit noch gar fahrlässig mit der Autorität des Wortes Gottes.

Als Jesus die Pharisäer schalt, warft er ihnen Unwahrhaftigkeit vor. Es ist das gleiche, dessen uns auch die Welt beschuldigt. Einiges haben wir bereits genannt, als wir vom Missbrauch des Wortes Gottes und von falscher Erbaulichkeit sprachen. Aber da ist noch mehr zu sagen: Ich habe einmal einen gekannt, der bei unseren Hausandachten beim Singen oft mitten im Vers nicht mehr mittat. Ich hatte schon oft das Bedürfnis, es auch so zu machen. Ich finde es ganz schrecklich, wie viel wir singend lügen. Wenn das persönlich wahr wäre, was wir Frommen singen, stünde es anders in der Welt, und vor allem: Wir stünden anders in ihr und würden anders respektiert.

Wie trotzig singen wir das: „nehmen sie den Leib, Gut, Ehr’, Kind und Weib, lass fahren dahin“, und wie erbärmlich knickerig und schmutzig sind wir, wenn um dieses Reiches willen viel weniger, vielleicht ein paar Mark, vielleicht eine kleine Demütigung, vielleicht ein bisschen Zeit und Bequemlichkeit, gefordert wird!

Wie oberflächlich sind wir auch im Singen mancher „Reichslieder“, die in ihrer „Weil-ich-Jesu-Schäflein-bin-Stimmung“ mit der Wirklichkeit nicht stimmen und ein Christentum vortäuschen, das an dem Wort Jesu vorbeigeht.

„Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert.“

Jemand hat gesagt, wir brauchten eine Reformation unserer Kirche, weil sie in Wortheiligkeit verfallen sei. Da ist viel Wahres dran.

In der deutschen Inflationszeit kam es vor, dass ein Gauner einen Anderen, der von dieser Inflation nichts wusste, mit Inflationsgeld bezahlte, als wäre es solches mit Volldeckung. Das ist unsere Sünde. Es fehlt ihnen die volle Golddeckung. Wir aber bieten sie nach wie vor an, als hätten sie noch vollen Gehalt. Das ist unsre fromme Lüge. Und wir selbst sind an dieser Inflation schuld. Wir haben die Worte: Kreuz, Blut, Gnade, Sünde, und wahrlich nicht nur diese, allzu oft und allzu breit in den Mund genommen und allzu billig angeboten. Nun haben sie die Valuta in unserem Munde verloren.

Und oft schon kam es bei uns vor, dass wir von der „heiligen Sache“ sprachen, und im tiefsten Inneren meinten wir uns, weil diese „heilige Sache“ uns trug, uns Ehre oder Brot gab. Und oft schon sagten wir: „der Herr will es“, und wenn man genau hinsah, so wollten wir es und versteckten uns nur hinter die Autorität des Herrn, um unseren Willen desto besser durchzusetzen und unser Ziel zu erreichen.

Aber unsere Unwahrhaftigkeit geht noch viel weiter. Wahrhaftige Menschen sind auch natürlich. Wie viele aber von uns sind feierlich, pathetisch, gesalbt, haben ein Tönlein, das nicht sie selber sind! Und wie wenige unter uns sind bereit, ihre fromme Maske abzulegen, sich einem Seelsorger zu stellen und schonungslos von ihren Sünden zu sprechen!

Wie schön können wir von der Versöhnlichkeit sprechen, und von der Liebe, und wie viele nennen wir „Brüder und Schwestern“, machen, wie wenn wir mit ihnen „im Herrn verbunden wären“! Aber das hindert uns nicht, über sie ungut und unfreundlich zu reden mit Dritten, oder ihnen neidisch zu sein. Wie gut kennen wir das Gebot: „Lass dich nicht gelüsten“! Aber uns gelüstet nach den Kirchgängern und Gemeindemitgliedern des anderen, und wenn einer lieber zu einem anderen zur Predigt kommt, so sind wir empfindlich und beleidigt. Und das alles wird erst anders, wenn wir diese Dinge schonungslos bei uns selber aufdecken und beim Namen nennen, „daran wird die Welt erkennen, dass wir seine Jünger sei’n“. Von der Reinheit möchte ich hier nicht sprechen. Wer von uns kann sagen, dass er rein ist, auch in Gedanken, auch in Phantasien, auch in Wünschen? Und ich möchte sagen: nicht das ist das Schlimmste, dass wohl keiner unter uns ist, „der ohne Schuld und ganz rein dasteht“, aber das ist es, wenn wir so tun, als wären wir völlig über diese Not erhaben, und wenn wir wie jene Pharisäer über andere, die schuldig geworden sind, wie über jenes ehebrecherisches Weib, das sie vor ihn zerrten, zu Gericht sitzen und über sie den Stab brechen.

• Den Pharisäismus bei uns selbst aufdecken
• Was uns passt, nehmen wir wörtlich, anderes übertragen wir.
• Unsere Frömmigkeit war einmal lebendig, hat aber Schimmel angesetzt.

Unsere Unreinheit ist schlimm, aber unser Hochmut und unsere Unbarmherzigkeit sind schlimmer.

Pharisäer legen großen Wert auf den Gehorsam. Denn Gesetz und Gehorsam gehören zusammen. Aber unser Gehorsam ist oft genug doch nicht so, dass er Gott freut. Er ist knechtisch, und sollte doch kindlich sein. Der Vater will das gar nicht, dass die Kinder alle Forderungen, die er einmal gestellt hat, katalogisieren und nun peinlich sich zerquälen, ja keines zu vergessen. Der Vater lebt ja und sagt seinen Kindern immer neu und immer anders, was er von ihnen haben will. Er will sie mit seinen Augen leiten. Ich habe noch nie einen Vater gesehen, der seine Kinder nur an Hand von Erlässen und Gesetzessammlungen erzieht. Und damit, dass sich ein Kind an die traditionelle Hausordnung hält, ist es noch immer nicht ein gehorsames Kind. Denn gehorchen kommt von „horchen“, und Gehorsam ist die Bereitschaft, das zu tun, was man von Gott „hört“. Es geht also nicht an, sich nur an frühere Willensäußerungen des Vaters zu klammern, sondern es gilt, den gegenwärtigen Willen des Vaters zu vernehmen und ihm zu entsprechen. Unser aber sind viele, die pedantisch – also unkindlich – am Buchstaben kleben, und wenn der Vater zu ihnen spricht, dann horchen sie nicht und gehorchen nicht, denn sie sind damit beschäftigt, erst festzustellen, was der Vater früher einmal dem großen Bruder gesagt hat.

Die Sünde nimmt oft harmlose Namen an

Wie es eine Flucht in die Orthodoxie gibt, so gibt es auch eine in die Gesetzlichkeit, um nicht den gegenwärtigen, vielleicht noch viel anspruchsvolleren Forderungen Gottes folgen zu müssen. Es gibt eine Flucht in frommes Reglement, um sich nicht dem Führer ausliefern zu müssen, der mehr fordert, als im Reglement steht. Wir paragraphieren, um nicht horchen zu müssen. Wer aber nicht horcht, der ist auch nicht gehorsam. Der Erfolg ist aber der, dass unsere Frömmigkeit eine ungeführte, unkindliche und knechtische wird. Und dazu kommt, dass wir angeblich so peinlich gehorsame Frommen erst nicht einmal konsequent und gradlinig sind, sondern den Geist dann doch nicht entbehren können, der uns das eine Mal sagt: diese Forderung der Bibel ist örtlich oder zeitlich bedingt und gilt für dich nicht, und jene wiederum ist verbindlich.

Lukas 10 zum Beispiel sagt Jesus zu seinen Aposteln:

„Traget keinen Beutel noch Tasche, noch Schuhe und grüßt niemand auf der Straße.“

Und 1. Korinther 11 verlangt der Apostel Paulus, dass die Frau, wenn sie betet, ihr Haupt bedecke, da es (V. 13) einem Weib nicht wohl anstehe, unbedeckten Hauptes vor Gott zu treten. Matthäus 23,9 steht:

„Ihr sollt niemand Vater heißen auf Erden, denn Einer ist euer Vater, der im Himmel.“

Hier überall maßen wir uns an, den Geist über den Buchstaben zu setzen und nicht wörtlich zu verstehen. Aber andere Stellen, die genau auf derselben Ebene liegen, nehmen wir plötzlich, weil es uns passt, wörtlich. Aber die Welt ist uns schon auf die Schliche gekommen und hat über uns ihr Urteil sich gebildet.

Jesus aber, wenn er uns so sähe, würde auch heute wieder ausrufen: „Ihr Heuchler!“

Und nun möchte ich aus der Fülle unseres Sündenregister nur noch eine Anzahl von Sünden herausgreifen, damit wir’s endlich begreifen, wie es um uns steht, und was für harmlose Namen die Sünde oft annimmt, um uns über ihren Ernst zu täuschen.

  • Sich wichtig nehmen ist Sünde, weil das immer auf Kosten des einzig Wichtigen, des Reiches Gottes, geht.
  • Empfindlichkeit, Beleidigtsein ist damit verwandt und verrät, dass man seine eigene Ehre sucht.
  • Minderwertigkeitskomplexe sind Sünde. Sie sind die Umkehrung des ichhaften Geltungstriebes, also des Sich-selber-suchens.
  • Herrschsucht ist Sünde, erst recht, wenn sie sich, wie so oft, eines frommen Gewandes bedient, um über Gewissen Macht zu bekommen.
  • Fromme Betriebsamkeit ist Sünde. Sie hat nicht selten ihre Wurzel im Geltungstrieb oder im Unentbehrlichkeitskomplex. Manchmal ist sie Flucht vor der Stille und Angst vor dem Alleinsein mit sich und Gott.
  • Keine Zeit haben ist Sünde, denn sie ist Folge mangelnder Haushalterschaft und falschen Maßstabes.
  • Sachgebundenheit ist Sünde. Mein Haus, meine Möbel, mein Zimmer, mein Teppich, meine Bücher, meine Zeit. Immer mein, mein, mein. Von den Jüngern hieß es: „und sie verließen alles.“
  • Schockiertsein ist Sünde, denn es ist Mangel an Liebe und Demut. Alles, was uns im anderen empört, ist auch in uns keimhaft vorhanden.
  • Moralismus ist Sünde, denn er ist Gehorsam ohne Liebe.
  • Kritisieren ist Sünde, weil es Besserwissen ist, ohne helfen zu wollen.
  • Sich absondern ist Sünde, denn es ist Mangel an Verantwortungsgefühl und geistliche Selbstsucht.
  • Vorurteile sind Sünde, denn sie verstoßen gegen die Wahrhaftigkeit.
  • Frühurteile sind Sünde, denn sie verstoßen gegen die Gerechtigkeit.
  • Prüderie ist Angst vor der Wirklichkeit, und die meiste Angst ist Sünde.
  • Pedanterie ist verkappte Ichhaftigkeit und Rechthaberei und darum Sünde.
  • Der Märtyrerkomplex kommt aus der Eitelkeit, und diese ist Sünde.
  • Die Eifersucht ist Sünde, denn sie kommt aus der Ichhaftigkeit und hat Angst, etwas zu verlieren.
  • Altbackenheit, Unfrische, Langweiligkeit sind Mangel an Liebe und darum Sünde.
  • Bitterkeit ist Protest gegen die Vergangenheit, die Gott ist. Sie ist Kritik an Gott und als solches Sünde.
  • Fromme Routine ist Sünde, denn sie ist Ehrfurchtlosigkeit gegenüber dem Göttlichen.
  • Religiöse Sicherheit ist Sünde; statt ihrer muss es heißen Gewissheit.
  • Spielverderberei ist Sünde, denn sie ist heimliche Herrschsucht und ärgert die Kindlichen.
  • Kopfhängerei ist praktischer Unglaube und deshalb Sünde.
  • Pathos ist Unwahrhaftigkeit, also Sünde.
  • Falsches Zeugnis ablegen tun wir dann, wenn wir von Dingen reden, als hätten wir sie selbst erfahren, und wir wissen sie bloß aus Büchern und vom Hörensagen. Ein falscher Zeuge ist auch der, der an und für sich Richtiges und Wahres mitteilt, aber selbst nicht persönlich dabei gewesen ist, und das ist Sünde.
  • Engherzigkeit ist immer Lieblosigkeit (die Liebe trägt alles, hofft alles, duldet alles). Darum ist Engherzigkeit eine schwere Sünde.
  • Eitelkeit ist immer Sünde, aber unter allen Eitelkeiten ist die der Frommen und der Prediger die widerwärtigste und ärgerlichste.
  • Falsche Vertraulichkeit gegenüber Gott ist Sünde, denn sie entsteht aus mangelnder Ehrfurcht und vergisst, dass Einer hat sterben müssen, damit ich zu Gott „du“ sagen darf.

Es ist Sünde, wenn wir von Dingen reden, als hätten wir sie selbst erfahren, wissen sie aber nur aus Büchern

Wenn man all diese Sünden unter die Lupe nimmt, so wird man immer finden; ihre Wurzel ist das „dicke Ich“. Und immer, wo das Ich zu dick ist, kommen Gott und der Nächste zu kurz. Denn solange wir uns mit unserem Ich beschäftigen, denken wir nicht an Gott und den Nächsten.

Jesus wirft den Pharisäern vor, dass sie Mücken seihten und Kamele verschluckten. Wenn ich einem Menschen, weil er raucht, weil er sich modern kleidet, weil er Bubikopf trägt oder über diese oder jene Frage anders denkt als ich, die Gemeinschaft verweigere oder seine Frömmigkeit in Zweifel ziehe, so habe ich Mücken geseiht und ein Kamel verschluckt.

Statt dessen sollen wir wissen, wo wir gegen die Forderung der Liebe, der Wahrhaftigkeit, der Demut uns vergehen; da handelt es sich immer um das Größte, immer um das, was man im Reich Gottes sehr ernst nimmt.

Es ist gerade wie in der Kinderstube. Ein Glas zerschlagen, einen Fleck aufs Tischtuch machen, nicht aufgeräumt haben, eine Schulaufgabe vergessen, zu spät heimkommen – es soll nicht sein, aber es sind „lässliche Sünden“.

Aber Lieblosigkeit, Unwahrhaftigkeit, Ehrfurchtslosigkeit, Heuchelei, Ichsucht, – das ist ernst, da geht’s ums Entscheidende.

Was wir „Frommen“ brauchen, ist eine Bekehrung aus unsrer starr und muffig gewordenen „Frömmigkeit“. Sie war einmal lebendig, aber es hat sich Schimmel darauf gesetzt, und nun muss alles wieder in den Kessel und neu aufkochen, anders lässt sich der schlimme, muffige Geruch nicht beseitigen.

Und noch eines: Oeser hat unter sein Ehezuchtsbüchlein geschrieben:

„Wer ein Ehezuchtsbüchlein schreibt, der schreibt eine Selbstanklage.“

Und wer von den Sünden der Frommen schreibt, der tut ein Gleiches.


  1. konvenieren = wie es einem zusagt oder passt. Anm. d. Red.