Wie haben wir uns als Christen in der Flüchtlingsfrage zu verhalten? In der persönlichen Begegnung haben wir Flüchtlingen freundlich und hilfsbereit entgegen zu kommen. Die Nächstenliebe dürfen wir nicht nur auf Angehörige unseres Volkes beschränken wollen. Jesus lehrt uns das eindrücklich mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Das heißt, der einzelne Christ und die Kirche handelt an Fremden und Flüchtlingen immer nach dem Gebot der Liebe und keiner wird abgewiesen. Materielle und geistliche Hilfe mit dem Evangelium ist angesagt. Jede gewalttätige Aggression gegen Flüchtlinge ist zutiefst unchristlich.
Ein Gespräch zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten (Lukas 10,25-37) spitzt sich auf die Frage zu „Wer ist mein Nächster?“ Der Schriftgelehrte fragt Jesus anfangs: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Das war damals bei den Rabbinern eine Ausgangsfrage für ihre theologischen Debatten. Und die Frage ist ja bis heute die entscheidende Frage für den Menschen.
Jesus aber gibt seiner Überraschung Ausdruck: „Was für eine Frage, du kennst doch das Gesetz, du hast es doch studiert und betest zweimal täglich mit dem Glaubensbekenntnis, dem Sch‘ma Israel, die Antwort. So frage ich dich: ‚Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?‘“
Der Schriftgelehrte antwortete. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, von ganzen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ – Na also, du weißt es doch, ist doch ganz einfach, warum hast du mich eigentlich gefragt? „Du hast recht geantwortet; tu dass, so wirst du leben.“
Der Schriftgelehrte fühlte sich jetzt wie ein Schuljunge, dem eine Lehre erteilt worden ist. Deshalb wollte er sich für seine Frage rechtfertigen: Nein, nein, Jesus, so dumm ist meine Frage nicht und auch nicht so einfach zu beantworten, wie du es tust. Du scheinst die theologische Tiefe meiner Frage nicht erkannt zu haben. „Wer ist denn mein Nächster?“ Wer steht mir denn so nahe, dass ich ihm vor Gott zur Liebe verpflichtet bin? Wer gehört zum Kreis meiner Nächsten – meine Familie, meine Brüder der schriftgelehrten Rabbis, oder auch andere fromme Juden oder gar jeder Jude? Mein Nächster, das kann doch nicht jeder sein, sonst hieße es ja schließlich nicht „mein Nächster“, sondern „Jeder“. Ich kann doch nicht jedem zur Liebe verpflichtet sein, das wäre ja überhaupt nicht machbar!
Dass es auch viele Probleme mit Asylbewerbern gibt und Asylmissbrauch vorkommt, darf keinen negativen Einfluss auf mein persönliches Verhalten gegenüber einem vor mir stehenden Flüchtling haben!
Den Einwand, dass man die Gebote Gottes nur so auffassen könne, dass sie noch zumutbar und im Alltag auch „machbar sind“, den hören wir bis heute. Aber das ist nicht Gottes Maßstab, sondern es ist, als wollte man von Gottes Gebot etwas abschneiden. Also Jesus, sage mir nun, wer zum Kreis meiner Nächsten gehört, denen ich vor Gott zur Liebe verpflichtet bin.
Da wird auch für uns die Frage ganz aktuell: „Sind denn die Flüchtlinge, die jetzt in unser Land gekommen sind, etwa unsere Nächsten? Wie können sie unsere Nächsten sein? Die kommen doch von weit her, gehören nicht zu uns und sind auch so ganz anders als wir; und sie bereiten uns doch große Probleme?“
Dass der von Gott gesetzte Staat das Recht hat, über Asyl- und Leistungsgewährung zu entscheiden und es auch reichlich Probleme und Missbrauch gibt, darf keinen negativen Einfluss auf mein persönliches Verhalten gegenüber einem vor mir stehenden Flüchtling haben! Nüchternheit und Zügeln negativer Emotionen und Barmherzigkeit ist gefordert. Die gewalttätigen Aggressionen gegenüber Flüchtlingen sind zutiefst unchristlich.
Jesus gibt auf die Frage, wer denn jeweils mein Nächster ist, keine allgemeine theologisch komplizierte Antwort, die zu diskutieren wäre, was der Schriftgelehrte wohl erwartet hatte. Sondern Jesus erzählt die Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter.
Da ist ein Mensch von Jerusalem nach Jericho gezogen, wurde überfallen, geschlagen und halbtot am Straßenrand liegen gelassen. Es kam zuerst ein Priester und dann ein Levit, also ein Tempeldiener, dieselbe Straße entlang, und beide gingen an dem Halbtoten einfach vorbei. Sie wären auch aus Sicht des Schriftgelehrten eigentlich zur Nächstenliebe verpflichtet gewesen.
Ohne Ansehen der Person, ohne Ansehen der Religion, der Nationalität oder des Geschlechts, ist der mein Nächster, der in Not ist und dem ich helfen kann.
Aber es konnte ja sein, dass sie ihren zeremoniell-religiösen Pflichten Vorrang eingeräumt haben und sie diese vor ihrem Gewissen als Vorwand und Ausrede benutzt haben. Sie mussten doch pünktlich zum Tempeldienst erscheinen und durften sich zuvor auch nicht verunreinigt haben, in dem sie mit Blut oder einem Sterbenden in Berührung gekommen waren. Muss ein Menschenleben und die Nächstenliebe dem zeremoniell-religiösen Gesetz nachgeordnet werden?
Jesus widerspricht dem und heilt auch am Sabbat einen Kranken (Mk 2,27). Vielleicht machten sich der Priester und der Levit auch aus Angst vor den noch irgendwo versteckten Verbrechern schnell aus dem Staube. Sie wussten um Gottes Gebot der Nächstenliebe, aber sie handelten nicht danach. Wir wollen nicht Steinen nach ihnen werfen, geht es bei uns doch auch oft so, dass wir Gottes Gebot wohl kennen, aber doch anders handeln und damit sündigen?
Solch ignorantes Verhalten wie das des Priesters und Leviten ist nicht so einmalig. Hören wir doch immer wieder, dass da einer auf der Straße am Boden liegt und die Passanten vorbeigehen. „Ist nicht meine Sache, ich kenne ihn auch nicht, wird wohl besoffen sein, ist ein Penner oder Junkie; vielleicht sind ja die Schläger noch in der Nähe, also nichts wie weg.“ Gängige Ausflüchte, um nicht helfen zu müssen. Aber auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Es ist nicht nur Kaltschnäuzigkeit, Gleichgültigkeit oder egoistische Eile.
An einen am Boden liegenden verletzten Unbekannten heranzugehen, um ihm zu helfen, das bedeutet auch ein gewisses Risiko einzugehen, Angst oder Ekel oder Vorurteile zu überwinden, sich zu beschmutzen, Zeit und Geld zu opfern. Und das soll ich alles für einen Unbekannten tun? Das mutet mir Gott doch nicht zu, oder?
Ich meine schon. Und weil wir von in irgendeiner Weise Hilfsbedürftigen auch immer wieder mal wegschauen, deshalb sind wir auch hier auf die Vergebung Jesu angewiesen.
Jesus stellt dem Verhalten des Priesters und Leviten das des Samariters gegenüber: Ein feindlich verachteter Ausländer und halber Heide als Samariter, der aus Sicht der Schriftgelehrten dem Überfallenen wahrhaft nicht als Nächster zur Hilfe verpflichtet war. Aber der folgt seinem Gewissen, das das Gebot Gottes noch nicht verdrängt hat und hilft einfach. Umgekehrt wäre der Schriftgelehrte nie auf die Idee gekommen, dass er als rechtgläubiger Jude nach Gottes Gebot einen feindlichen fast heidnischen Samariter als seinen Nächsten zu lieben hätte.
Ja, wir sollen nach Gottes Gebot auch einen feindlich gesinnten Muslim lieben.
Uns stellt sich ja aktuell die Frage, ob wir denn tatsächlich nach Gottes Gebot auch einen überzeugten bis feindlich gesinnten Muslim zu lieben haben? Ja, Jesus Christus spricht (Mt 5, 44 ff.): „Liebet auch eure Feinde. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was tut ihr Besonderes, das tun auch die Heiden“.
Bei dieser Liebe zum Nächsten geht es nicht um ein Gefühl, etwa dass ich jeden Menschen, und auch meinen Feind, sympathisch finde und zu umarmen habe. Das wäre tatsächlich übermenschlich. Zu solch einer vollkommenen Liebe sind wir aufgrund unserer Erbsünde nicht fähig. Solche Liebe bringt allein der Herr Christus auf.
In Jesus Christus liebt Gott jeden Menschen und will ihn zum Heil führen, auch den, der unser Feind ist oder den wir für das größte Ekelpaket halten. Mit der Nächstenliebe ist von uns also nicht zuerst das Gefühl persönlicher Zuneigung gefordert, sondern praktische Barmherzigkeit, wie Jesus spricht (Lk. 6,36): „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Es geht darum, ohne Ansehen der Person einem Notleidenden zu helfen, selbst wenn er mein Feind ist. Ein Mensch, der in Not geraten ist und dem ich helfen kann, der ist mir von Gott als mein Nächster anvertraut worden.
Wir haben also natürliche Nächste, das sind Menschen, die uns persönlich nahe stehen, nämlich unsere Angehörigen, unsere Glaubensgenossen, unsere Landsleute.Und dann sind das auch die mir von Gott „vor die Füße gelegten Notleidenden“, denen ich zu helfen vermag. Ohne Ansehen der Person, ohne Ansehen der Religion, der Nationalität oder des Geschlechts, ist der mein Nächster, der in Not ist und dem ich helfen kann. Dadurch, dass ich im Stande bin, einem Notleidenden zu helfen, ist er mein Nächster geworden, dem ich Hilfe schuldig bin.
Zum Schluss der Geschichte fragt Jesus den Schriftgelehrten: „Was meinst du, wer ist dem Überfallenen zum Nächsten geworden?“ Da muss er widerstrebend eingestehen: „Der, der Barmherzigkeit an ihm tat.“ Und Jesus sprach zu ihm: „So geh hin und tu desgleichen.“
Klammer auf: Und dann wirst du sehen, dass es dir nicht durchgängig gelingt, das Gebot der Nächstenliebe in Vollkommenheit zu erfüllen und du durch Gesetzeserfüllung vor Gott nicht gerecht werden kannst. Sondern dass du auf die Barmherzigkeit Gottes in seinem Sohn gewiesen bist. Allein auf diese Weise kannst du das ewige Leben ererben.
Wenn wir die Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter genau hören, dann fällt uns sein Übermaß an Liebe auf. Er versorgt die Wunden des Überfallenen, bringt ihn in Sicherheit und sorgt und bezahlt noch bis zu seiner endgültigen Genesung. Mit dem barmherzigen Samariter hat Jesus auch ein Bild von sich selbst gemalt.
Wir waren es, die auf ihrem Lebensweg unter die Räuber gefallen waren, unter Sünde, Tod und Teufel. Verschiedene religiöse Führer sind an uns vorbeigegangen. Bis Jesus gekommen ist, uns aufgeholfen hat, das Wasser der Taufe und den Wein seines Blutes auf unsere Wunden gegossen hat und von der Sünde desinfiziert hat, damit die tödliche Wunde heilen kann. Die hat er uns verbunden und zur Genesung in die Herberge der Kirche gebracht. Für unsere Rettung hat er mit seinem Leib und Blut bezahlt. Und er wird wiederkommen, um uns zur ewigen Heilung, zum ewigen Leben zu sich zu holen.
Der Beitrag ist eine Predigt des Autors, die zuerst in seinem Blog biblisch-lutherisch.de erschien.